Franz Eichert: Eine neue Revolution für die Literatur
Franz Eichert: Eine neue Revolution für die Literatur (1918)
Daß die Entwicklung des modernen Geisteslebens nicht mehr in ruhiger, gerader, auf- oder absteigender Linie, sondern in fieberhaften Zuckungen und Umschlägen von einem Extrem ins andere, in unberechenbaren Zickzackbewegungen erfolgt, das ist aus der Umsturzbewegung, die sich soeben in unserer deutschen Literatur vollzieht, überaus klar ersichtlich. Bis jetzt haben freilich nur diejenigen, die sich berufsmäßig mit der Literatur befassen, die volle Erkenntnis von der Tragweite der Umwälzung, die sich allerdings laut genug, unter großem Lärm und Geschrei, ganz wie ein Kurssturz auf der Börse und ganz wie dort unter semitischer Führung und Prägung vollzieht. Wenn trotz dieses aufdringlichen Geschreis die Mehrzahl der Nichtliteraten, auch der auf anderen Gebieten geistig schaffenden Oberschicht, vom Umfang und Wesen dieser Umwälzung noch keinen klaren Begriff hat, so ist das leicht zu erklären. Die Literatur ist nämlich längst nicht mehr wie in jenen Zeiten, die nach Goethe allein schaffend und fruchtbar sind, eine Angelegenheit des ganzen Volkes, sondern eines verhältnismäßig sehr kleinen Kreises, der den Ton angibt und durch die Presse die lauttönenden Tagesbefehle ausgibt, die den Massen der Nichteingeweihten ihr literarisches Glaubensbekenntnis vorschreiben. Nur der alleinberechtigten Kritikerkaste ist heute das Recht vorbehalten, sich über literarische Neuerscheinungen ein eigenes Urteil zu bilden – die anderen bekommen das fertige Meinungsragout in der Morgenzeitung vorgesetzt und haben nur die Aufgabe, es dann gelegentlich wieder von sich zu geben und dadurch jene „kompakte“, von einigen wenigen Schlauköpfen geschaffene und regierte literarische Tagesmeinung zu bilden, gegen die anzukämpfen auch das Genie eines Goethe, eines Dante, eines Shakespeare ohnmächtig wäre, wenn diese Gewaltigen heute lebten und darauf angewiesen wären, ihre Kunst ohne Beihilfe oder gar gegen den Willen der heutigen Macher aller literarischen Berühmtheiten durchzusetzen.
Es ist kein Wunder, daß unter solchen Verhältnissen, wo ein kleiner Kreis literarischer Auguren entscheidet, was die große Mehrheit des Volkes als „einzig wahre“ Kunst hinzunehmen hat, was ihr gefallen, was sie lesen soll, die lebendige Anteilnahme der Nation am literarischen Leben immer mehr verflacht und sich immer mehr und mehr auf die tägliche Massenfütterung mit saft- und kraftloser Unterhaltungsliteratur beschränkt, die keinen anderen Nutzen hat, als daß sie die Zeit totschlagen hilft, dafür aber unberechenbaren Schaden stiftet. So wird es begreiflich, daß auch von der neuesten Revolution, die sich soeben auf dem Gebiete der Literatur vollzieht, die Wenigsten eine richtige, auf eigenes, unbeeinflußtes Urteil gegründete Vorstellung haben.
Daß es keine Übertreibung ist, von einer sich vollziehenden „Revolution“ in der Literatur zu sprechen, ähnlich derjenigen, die in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts sich vollzog — nur noch einschneidender in ihren Folgen — bestätigt u. a. ein so gewissenhaft und ruhig urteilender Fachgelehrter wie Oskar Walzel. In der Zeitschrift „Deutscher Wille“ (früher „Kunstwart“) fällt er das schwerwiegende Urteil: „Mag die neue Kunst Expressionismus oder wie immer heißen, Tatsache ist, daß sich seit dem Beginn der naturalistischen Bewegung keine gleich entschiedene Umkehr eingestellt hat. Es fragt sich, ob nicht heute ein noch viel größerer Gegensatz von einst und jetzt waltet als um 1830…“ Er mißt dann die Größe dieses Gegensatzes an seiner notwendigen Folge, an der völligen Umwertung der Werte, die sich in unserer Literatur vollzieht und in der gänzlichen Verwerfung und Geringschätzung der literarischen Größen von gestern, namentlich des Hauptvertreters der Eindruckskunst. Gerhart Hauptmann, endlich in der Wiedergeburt fast gänzlich Vergessener, wie in der Entdeckung und Ausrufung ganz neuer Talente ihren naturgemäßen Eindruck findet.
Es ist beinahe unmöglich, in einem räumlich so beschränkten Rahmen, wie hier, den Wesensunterschied zwischen der Kunst von gestern und von heute, zwischen „Impressionismus“ und „Expressionismus“, zwischen Eindruckskunst und Ausdruckskunst — mit diesen Schlagworten wird der Gegensatz für die Wissenden gewöhnlich bezeichnet — allgemein verständlich darzulegen. Um aus dem, was mit ein paar Worten gesagt werden kann, die richtigen Schlüsse zu ziehen und die richtigen Begriff abzuleiten, muß man eben mit dem Gange der literarischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten ziemlich vertraut sein; man muß davon nicht bloß das wissen, was die einzelnen „Richtungen“ und Parteien in ihren volltönenden Programmschriften verkündigten, was die Zeitungen gelegentlich über irgend eine literarische Teilerscheinung berichteten, man muß wenigstens eine Ahnung von den inneren Zusammenhängen und tieferen Gründen der Einzelerscheinungen haben, deren Vielheit und Gegensätzlichkeit unser literarisches Leben äußerlich als ein unentwirrbares Chaos erscheinen läßt.
Das Beste wird Wohl sein, sich nicht in spitzfindigen Untersuchungen des Wesens und des Gegensatzes beider Kunstrichtungen zu erschöpfen, sondern lieber die praktischen Forderungen reden zu lassen, die sich daraus ergeben und in ihrer völligen Gegensätzlichkeit am besten den Abstand beider Richtungen kennzeichnen.
Auch solchen, die sich um literarische Streitfragen bisher sehr wenig kümmerten, drängt sich gewiß eine Erinnerung auf: an den ausdauernd auf allen Linien mit größter Erbitterung geführten Kampf gegen die Zweck-, wie man mit einem höhnischen Unterton gewöhnlich sagte: „Tendenzkunst“. Die Lehre, daß die Kunst sich Selbstzweck sei und keinen außer ihr liegenden Zweck, keine „Tendenz“ haben dürfte, das Grunddogma der modernen Ästhetik; und mit einer solchen Sicherheit, mit einem so außergewöhnlichen Aufwande von Stimmitteln wurde diese Lehre als eins selbstverständliche, mit Anrecht auf immerwährende Geltung auftretende Forderung, ja als der Angelpunkt einer geläuterten Kunstlehre hingestellt, daß der suggestiven Wirkung dieses Behauptens auch ein Großteil der katholischen Intelligenz erlag und der KampfGegründet im Okt. 1907, Wien bis H. 12/1933; ab H. 1/1934 vereinigt mit der Zs. Tribüne bis Mai 1938, Brünn/Brno; dan... gegen die Tendenz ebenfalls auf seine Fahne schrieb. Man muß freilich zugeben, daß bei der außerordentlichen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit des Wortes über das Wesen und den Begriff der „Tendenz“ zwischen den katholischen und nichtkathoIischen Wortführern in diesem Kampfe erhebliche Unterschiede festzustellen waren — aber es war doch unzweifelhaft ein Eindringen von ursprünglich fremden, auf einem ganz anderen Boden erwachsenen Ideen in den Bereich des katholischen Geisteslebens. Gewiß, auch die katholische Kunstlehre kennt den Begriff einer wirklich kunstfeindlichen, unter allen Umständen zu bekämpfenden Tendenz; aber die Ursache der aus diesen Kämpfen sich ergebenden Schwierigkeiten und Mißverständnisse dürfte darin zu suchen sein, daß einerseits die katholischen Wortführer nicht immer ganz unmißverständlich den Begriff der tatsächlich kunstfeindlichen, deshalb zu bekämpfenden Tendenz klarlegten, während anderseits, auf nichtkatholischer Seite, der Kampf gegen die Tendenz in seiner tatsächlichen praktischen Auswirkung immer ausschließlicher zu einem Kampfe gegen die gesunde, ethisch und religiös aufbauende, also gegen die positivchristliche und namentlich die katholische Literatur sich auswuchs. Tatsache ist es, daß auch während der Zeit des größten Tendenzgeschreis auf der anderen Seite eine ausgesprochene antichristliche, antikatholische Tendenzliteratur nicht nur blühte, sondern auch von den größten Schreiern gegen die Tendenz gehegt und gepflegt wurde und daß es niemandem einfiel, ihren Vertretern den durch laute Reklame billig erworbenen Künstlerruhm zu schmälern oder streitig zu machen.
Die neue, im Werden begriffene Kunst, der „Expressionismus“, hat nun mit dem Glauben an das allein seligmachende Dogma, daß ein Kunstwerk keinen andern als den in sich selbst ruhenden Zweck verfolgen dürfe, gründlich aufgeräumt. Einer der Wortführer der neuen Richtung, Hans Natonekgeb. am 28.10.1892 in Prag - gest. am 23.10.1963 in Tucson (Arizona); Feuilletonredakteur, Schriftsteller, Literatur- un..., erklärt klipp und klar in der Frankfurter Zeitung:
„In der Literatur und Kunst äußert sich die neue Zeitströmung in der Überwindung jener Anschauung, die das Kunstwerk als Selbstzweck wertet. Kunst ist mehr als ein Spiel ästhetischer Gesetze, mehr als ein schönes, unterhaltendes Kaleidoskop der Formen. Auch die Kunst soll etwas wollen. Die Nachahmung der Wirklichkeit (Naturalismus) und die psychologisch feine Wiedergabe von Eindrücken (Impressionismus) blieben ohne gestaltende Wirkung auf das Leben. Die Kunst unserer Zeit hat, wie nie zuvor, ethische Ziele. Der Schaffende, ein paradiesisches Menschheitsglück vor Augen, leidet unendlich an der Verirrung der Welt; er weiß tiefinnerst um das Übel; aus diesem Wissen bricht ohne Hemmung der Schrei der Seele. Dies etwa ist ungefähr das Wesen des vielgenannten Expressionismus.“
Und diese jungen Dichter — das muß man ihnen lassen — packen mit anerkennenswertem Mute den Stier gleich bei den Hörnern an — sie stürzen sich über Hals und Kopf in den Strom der Tagespolitik, wo er am wildesten tobt — sie wollen die Welt „durch den Geist“ umgestalten und zu diesem Zwecke bedienen sie sich, wie Theodor Seidenfaden im Gral ausführt, der Dichtkunst, „um politisch zu wirken, um den Menschen zur Tat fortzureißen, ihn gegen sich selbst aufzuwiegeln“.
Ja, man geht so weit zu behaupten: Die Tendenz, die Durchdringung des Kunstwertes mit entschiedenstem Zweckbewußtsein, seine gewollte Einstellung auf ethische, religiöse, politische Wirkung ist nicht nur erlaubt, sie ist sogar notwendig und die Kunst, die davon absieht, ist keine wahre Kunst, ist überhaupt keine Kunst, sondern leere Spielerei ohne Lebenszweck und ohne wirklichen Wert.
Um diese völlige Umkehr der bislang als unantastbar geltenden Kunstbegriffe zu verstehen, muß man wissen, daß die neue Kunst von ihren Aposteln und Jüngern als der schroffste Gegensatz zu der bisher alleinherrschenden Kunst des Materialismus, der nur durch die Sinne wirkenden Eindruckskunst, aufgefaßt wird. Also eine Kunst des „Psychismus“. — „Die Kunst schreit nach dem Geiste“, sagt einer ihrer Vertreter, das ist der Expressionismus.“ Und weiter: „Der Expressionismus will (im Gegensatz zum Impressionismus) nicht mehr das vorüberhuschend Sinnliche, sondern das Ewige, das Wahre, das Geistige erfassen.“ Also keine bloße Formkunst, sondern Inhaltskunst; keine müde, versonnene, blasierte Ästhetenkunst, sondern tatkräftige, „aktivistische“, stark ins Leben eingreifende Kunst der Starken, der Wirkenden: der Ethiker, Politiker und Religionsstifter. Nicht Kunst der Dekadenz, sondern — wenigstens dem Wollen nach — Kunst des Aufstieges, der Erhebung.
Da werden nun manche Leser sagen: das klingt ja ganz schön, ganz ähnliche Worte und Anschauungen haben wir ja des öfteren von katholischer Seite gehört, namentlich von jenen, die sich mit dem materialistischen, dekadenten, hauptsächlich sinnlichen Genuß suchenden und fördernden Zuge im Kunstleben der letzten Jahrzehnte nie so recht befreunden wollte. Das ist unzweifelhaft richtig. Namentlich Kralik und feine Freunde haben immer mit größter Entschiedenheit behauptet, daß die Kunst etwas zu wollen habe, daß sie nicht bloß ästhetisches Gefallen, sondern darüber hinaus ethische, religiöse, bis zu einem gewissen Grade auch politische Ziele anzustreben habe; daß wahre Kunst nicht bloße Formspielerei, sondern Inhaltskunst sein müsse, daß sie nicht bloß der Erde, dem Diesseits, sondern ewigen Ideen, letzten Endes der Verherrlichung Gottes und der göttlichen Weltordnung zu dienen habe, also nicht im Materialismus versinken, sondern Innen-, Seelen-, Ewigkeitskunst sein müsse.
Nun stehen wir aber am entscheidenden Wendepunkt. Der Geist, nach dem die neue Kunst schreit, von dem sie sich erfüllen lassen, dem sie dienen, den sie in ihren Schöpfungen Ausdruck verleihen will — es ist nicht der Geist Gottes, der ordnend und gestaltend über dem Chaos schwebt, sondern der Geist seines Widersachers, der Geist, der stets verneint.
Davon spreche ich in einem später folgenden Aufsatze.