Friedrich Lorenz: Gibt es revolutionäre Kunst?

Friedrich Lorenz: Gibt es revolutionäre Kunst? (1932)

             Seit jeher ist es der größte Kummer der Sozialisten in allen Ländern, daß der revolutionäre Elan des Jahres 1918 zwar Throne stürzen, Wirtschaftsgebiete zerreißen und uralte Kulturtraditionen vernichten konnte, aber nicht imstande war, Kunst zu schaffen, Künstler zu inspirieren.

             Es gibt natürlich Künstler, die eingeschriebene Mitglieder revolutionärer Parteien sind. Aber diese Männer sind darum noch keine revolutionären Künstler. Sie schaffen trotzdem, nicht weil sie Marxisten sind, ihr Werk hat mit ihrer politischen Überzeugung im wesentlichen nichts zu tun, es wird aus dem unerschöpflichen Born der Menschheitsprobleme gespeist, nicht aus dem Parteistatut. Ich kenne einen sehr begabten marxistischen Schriftsteller, der bisher noch mit keinem größeren Werk vor die Öffentlichkeit getreten ist; darum nicht, weil die Partei, der er politisch angehört, es ihm niemals verzeihen würde, daß sein Talent universell und daher unmarxistisch geblieben ist, Sein Talent streikt, wenn es in den Dienst revolutionärer Propaganda gestellt werden soll, die Partei aber würde streiken, wollte der Dichter schreiben, wie ihm ums Herz ist. Also ist er zum Schweigen verurteilt. Denn ein[en] Kompromiß gibt es zwar in der Parteipolitik, nicht aber in der Kunst.

Nun taucht die Frage auf, ob es ein Zufall ist, daß gerade der letzte und folgenschwerste revolutionäre Stoß gegen die Weltordnung, der des Jahres 1918, kraftlos erlahmte, als er auf das Gebiet des künstlerischen Lebens übergreifen sollte. Es taucht die Frage auf, ob nicht zwischen Kunst und Revolution vielleicht eine prinzipielle Unvereinbarkeit besteht, die im Wesen der Kunst begründet wäre, da die Erfahrung zeigt, daß die größte aller Revolutionen nicht einmal ein anständiges Gedicht inspirieren konnte, das Gebiet des Künstlerischen vollkommen unberührt ließ. (Außer man wollte die Zweckbauart der Breitnerschen Wohnkasernen als einen neuen architektonischen Kunststil, die marxistischen Wahlplakate als revolutionäre Malerei und ein paar Versammlungsreden und Tendenzartikel als sozialistische Dichtung bezeichnen!) Heute schreiben wir 1932. Und 1918 schrieben wir, als die umwälzendste aller Revolutionen die mitteleuropäische Welt über den Haufen warf. Längst hat dieser revolutionäre Stoß sich stabilisiert, längst sind aus den revolutionären Führern der Umsturzzeit bourgeoise Nutznießer und Verteidiger ihrer Pfründen geworden. Mit allen Segnungen der Revolution sind wir ausgiebig bedacht worden; von der Tragödie der Massenarbeitslosigkeit bis zur Aufreibung des Mittelstandes ist uns nichts erspart geblieben; das revolutionäre Programm wurde also politisch und wirtschaftlich Punkt für Punkt durchgeführt. Nur die revolutionäre Kunst ist man uns schuldig geblieben, den Dramatiker der Revolution, den Epiker des Umsturzes, den Lyriker des Klassenkampfes, den Maler des Weltbrandes hat man uns vorenthalten. „Weil die Revolution noch zu jung ist“, sagen die Marxisten. Ist sie aber wirklich so jung? Wenn aus einem revolutionärem Stürmer in der Zwischenzeit ein arrivierter Parteibureaukrat werden konnte, dann hätte dieser Zeitablauf doch auch die Entwicklung eines revolutionären Dichters ermöglichen müssen. Damit ist es also nichts. Warum aber gibt es heutzutage zwar marxistische Plakatzeichner, marxistische Tendenzjournalisten und Volksredner, aber keinen einzigen revolutionären Maler oder Dichter? Warum gibt es zwar eine sozialdemokratische Kunststelle, aber keine sozialdemokratische Kunst?

Bevor wir darauf antworten, eine Feststellung: Es gibt eine revolutionäre Kunst, ja mehr noch, jede Kunst ist notwendig revolutionär. Aber diese Freiheit, die der Geist meint, ist nur in den seltensten Fällen identisch mit dem Freiheitsbegriff der politischen Parteien. Solange gab es revolutionäre Kunst, als Revolutionen noch vom Geiste diktiert waren, als der Geist den Revolutionen den Weg wies, als die Revolution noch nicht bureaukratisiert, noch nicht parteihörig war und darum hellhörig für die Winke des fortschrittlichen Prinzips. Die Revolution des Jahres 1918 aber konnte für die Kunst schon darum nicht produktiv werden, weil das wenige Positive, was sie brachte, von der Geistesgeschichte, dem Kunstleben schon seit Jahrzehnten im voraus eskomptiert worden war, weil ihr das geistige Überraschungsmoment fehlte. Was uns ein Parteiapparat schließlich bescheren kann, das ist nicht geistige Revolution, überhaupt nicht Revolution im fortschrittlichen Sinne des Wortes, sondern bloß der widerlich-dilettantische Versuch, ideelle Forderungen durch Maschinengewehre und Massenaufmärsche zu kompromittieren. Jede geistige Revolution beginnt in der Kunst. Jede Kunst ist Revolution, jedes neue Kunstwerk ein Schritt vorwärts auf dem geistigrevolutionären Wege in die zukünftige Welt. Aber nicht jeder Sturm im Wasserglas der Parteipolitik ist eine Revolution, nicht jedes Knallen von Parteiflinten bedeutet schon Fortschritt.

Wenn also die Frage, ob die revolutionären Ereignisse der letzten Zeit das Kunstleben zu beeindrucken vermochten, verneint werden muß, so spricht das nicht gegen die Kunst, sondern gegen die Revolution. Denn es beweist, daß diese Revolution ein rein parteimaschineller Vorgang war, ohne mehr Ideen hinter sich zu haben. Ganz anders die französische Revolution, ganz anders etwa die Epoche der Freiheitskriege. Diese Revolutionen waren noch Revolutionen des Geistes, nicht aber, wie die heutigen, Revolutionen politischer Parteien. Ihnen konnte die Kunst darum auch auf gefährlichem Wege folgen, mit ihnen konnte die Kunstübung in ständigem, fruchtbarem Kontakt bleiben. Die Frage also, ob eine Revolution Ausfluß einer geistigen Notwendigkeit ist, ob ihr eine Idee, ein Fortschrittsideal zugrunde liegt, läßt sich leicht beantworten, wenn man untersucht, ob diese Revolution für die Kunst produktiv werden konnte, ob sie den Künstler inspirierte oder abschreckte. So wird die Kunst zu einer unerbittlichen Richterin jeder revolutionären Strömung. Und solcherart dient der Umstand, daß der Sozialismus nach 1918 nirgends in der Welt Kunst zu schaffen vermochte, zum Beweis dafür, daß der Sozialismus längst zu einer hohlen bureaukratischen Form erstarrt ist, in der es keinerlei Ideeninhalt mehr gibt, daß der Sozialismus vergreist ist und der künstlerische Instinkt über seine Leiche hinweg in die Welt zukünftiger Entwicklungen schweift.

Kunst ist revolutionär. Darum hat sie nur mit wirklich revolutionären Handlungen geistig zu tun, nicht aber mit Palastrevolutionen ungeistiger Parteiorganisationen. Kunst ist Politik, weil Weltanschauung. Darum hat sie nur mit wirklich politischen Tendenzen und Strömungen zu tun, aber nicht mit Parteipolitik, dem bureaukratischen Tod jedes gesunden politischen Strebens.

In: Neues Wiener Journal, 27.3.1932, S. 19.