Leopold Wolfgang Rochowanski: Formwille der Zeit

Leopold Wolfgang Rochowanski: Formwille der Zeit (1922)

Wien 1922 (Auszüge; S. 10-11, 32-33)

[…]

Es gibt keine Arbeit von Cizekschülern, in der nicht der Atem, der Gedanke, die Triebkräfte unserer Zeit zu spüren sind.

             Der Unterricht [o altes Wort!] beginnt mit der Aufforderung, sich hemmungslos, mit der zügellosen Wildheit vorhandener Energien zu geben. Es entsteht: das Chaos. Aber schon die nächste Stunde ruft: Besinnung. Und die nächste Steigerung heißt: Ordnung.

             Schon die einleitenden Aufgaben sind eine prüfende Probe für das vorhandene Kraftvermögen des Schülers.

             Die Expression ist eine Besitzentleerung zum Besitz für andere, sagt Rubiner. Was nun folgt, ist ein gewaltiges fortwährendes Sichentladen. Zuerst kommt das Projizieren bestimmter Gefühle: Freude, Trauer, Neid, Sehnsucht, Erhabenheit, Kälte, Wärme. Alle Superlative von Leidenschaften. Das Ausschöpfen von Bewegungsenergien: Sprießen, Drängen, Treiben, Sprengen, Emporstreben [wobei zugleich die Differenzierung des Sprachgefühls zum Ausdruck kommt und kontrollierbar wird]. Die Empfindungen durchs Auge: Licht, Finsternis. Durchs Ohr: Straßengeräusche, Donner, Musik. Eine Verbindung psychischer, auditiver und visueller Eindrücke: Donner und Blitz. Durch die Nase: Blumenduft, Brand. Aus dem Für und Wider der Kräfte springt: der Kampf. Kampf der Ordnung gegen die Unordnung [Aber beliebter ist: Kampf der Unordnung gegen die Ordnung und das ist begreiflich aus der Zeit, denn auch die Unordnung hat ihre Ordnung und die Ordnung der Ordnung ist uns verhaßt// seit langem! Bei manchen Schülern allerdings wird es – wie Professor Cizek lächelnd feststellt – ein Kampf der Unordnung gegen die Schlamperei]. Ewiges Kräftespiel, Auf und Ab, Überrennen, Überstürzen, Härte gegen Weichheit, Gut gegen Böse, Licht gegen Dunkelheit.

             Rhythmus. Neuer Rhythmus. Bei seiner rein gefühlsmäßigen Gewinnung kommt der Musik dienende Bedeutung zu. Darum fehlt die Musik in dieser Schule fast niemals. Nicht nur, daß Musikstücke gezeichnet und schöne kleine Kapellen aus Geigen, Flöten, Waldhorn und Cellis zusammengestellt wurden, – über jede Unterrichtsstunde fließen die Rhythmen der Töne. Entweder singt einer Volkslieder [oft sehr ernste, traurige, die tiefe Ergriffenheit und Sichbesinnung bringen], oder ein Mädchen zupft lustig die Laute oder einer unterbricht seine Arbeit, setzt sich an das stets bereite Klavier und paraphrasiert seine Arbeit in Tönen zu Ende. Musik. Rhythmus.

[…]

[…] Kinetismus von ϰίνειν = bewegen. Bisher war alles Stilleben, nicht bloß die Rüben, Krautköpfe, Äpfel, Schinken und Weinbecher, die uns noch immer serviert werden, sondern auch der Mensch. Nun soll das Leben, die Bewegung gewonnen werden. Die Bewegung der Objekte: Erdbeben, Sturm, das rollende // Rad. Dann unsere Bewegung durch die Objekte [die sich auch bewegen können] hindurch: die Fahrt durch die Straßen mit eilenden Menschen.

             Wir kommen also zuerst zur Wiedergabe des rhythmischen Ablaufes einer Bewegung. Weiters zur Häufung von Bewegungseindrücken. Schließlich zur Vereinigung beider.

             Hinter dem Kinetismus aber steht noch vielmehr, weit Größeres als das Ausdrücken der Bewegung. Es ist kein Zufall, daß seine Geburt gerade in diese Zeit fiel. Die Gedanken darüber kommen, wenn man sich in die eine Keramik von Georg Kolb oder in die Zeichnung „Erwachen“ von Erika Giovanna Klien vergräbt. Unsere egozentrischen Gedanken [ich spreche nur von Menschen] sind erschlagen, wir leben nicht mehr für uns, unsere Liebe ist ausgezogen, sucht stündlich die anderen da draußen, läuft hinauf nach Hammerfest und hinab nach Feuerland, überallhin, in die entlegensten Hütten und unsere zwei Hände sind zu wenig, sie hinzureichen, wir brauchen mehr, und unsere zwei Wangen sind zu wenig, sie hinzulegen auf die Wunden der andern, wir brauchen mehr, und unsere zwei Augen sind zu wenig, alles zu sehen und zu melden, wir brauchen mehr!

                                        Stehen nicht mehr in Scham

                                        vor Blume und Baum,

                                        vor schweigender Größe.

                                        Gelöst aus endlosem Ängstezaum

                                        geben wir uns,

                                        teilen wir uns

                                        überallhin.