Robert Müller: Die Geistrasse

Robert Müller: Die Geistrasse (1918)

             Der Kritiker des Aktivismus muß entweder selbst Aktivist sein oder er muß, um den Inhalt der Sammelflugschrift der Aktivisten zu erschöpfen, sich auf eine lange und geduldige Begleitung vorbereiten und mit seinem Urteil zuwarten („Tätiger Geist! Zweites der Zieljahrbücher“, herausgegeben von Kurt Hiller, Neuer Geist Verlag Leipzig) In einer Vision von Menschheit entrollt sich die nächste geschichtliche Aufwärtsbewegung der Gesellschaft. Der Aktivismus ist eine Emotion seelischer Grundtatsachen wie Gotik oder die Aufklärung. Er zentriert das Leben neu, und zwar nicht ohne seine Wirkungen unkontrolliert zu lassen wie der Dichter, von dem er abstammt, sondern mit einer entschieden undichterlichen Absicht, an Ort und Stelle zu wirken. Das Kunstwerk der Umwelt, die Formgewalt über das soziale Chaos, das sich hinter einem Schein des bürgerlichen Mechanismus zerspielt, sind die an ihm dem dichterischen Menschen entsprechenden Komplexe.

             Woraus entsprang der Aktivismus? Aus der Not der Geistigen an der Zeit. Sie fühlten sich so schlecht regiert wie nie. Da suchen sie selbst sich des Apparats zu bemächtigen. Nichts gefruchtet hat bis heute das Hungern und Hangen der Dichter. Bevor das Buch geschrieben würde, das, gelesen, die Welt ändern und Menschensinn bekehren soll, soll eine Welt entstehen durch das manifestierende Buch, in der Dichterbücher überhaupt richtig gelesen, Zwiesprache zwischen Denker und Denkendem gepflogen wird.

             Der Aktivist opfert sich für den Dichter auf, im besonderen für den Expressionisten. Er ist das fliegende Korps des Expressionismus. Die neuen Bücher werden kaum gelesen, nur besprochen, zuwenigsts nicht richtig gelesen; die neuen Bilder werden falsch gesehen. Um eine Welt zu ermöglichen, in der die Treuherzigkeit des Expressionisten ohne Gefahr für seine Person und sein Werk unbestochen bleiben kann, verzichtet der Aktivist auf das eigene Kunstwerk. Von seiner Resignation genährt, er gießt er sein Temperament in die sichtbarsten und unmittelbaren Formen aktuellen Daseins.

             Die Kunst stellt Tugenden fest. Sie gibt immer, wo sie mehr als Ergötzung, Entwicklungswinke. So stellt auch der Expressionismus Welt Formen dar, die erst nach Zersetzung, Liquidation, Elementararisierung der jetzigen möglich werden (Abbau der Sozialwelt) … der Expressionismus verbraucht zum ersten Male Voraussetzungen, die sich nicht als Änderungen innerhalb dieser bestehenden Weltform durchsetzen können. Er zeigt ein von den tektonischen Begriffen gelöstes Dasein. Politik des Geistes oder Aktivismus nun ist es, Die Welt bessernd so vorzubereiten, daß jene „Weltauflösung-Welt Synthese“, das heißt die Kulturdämmerung alles Heutigen eintreten kann. Die sympathetische Welt kann entstehen, sobald die gegenwärtige mechanische Ordnung, auf ihre Spitze getrieben, wieder unter das Bewußtsein sinkt uind Memnotechnikum wird. Der Expressionismus als die umfassende Erregung, die er ist, und er ist mehr als Bewegung… ist Drittes nach Gotik und Aufklärung…löst die Aufgabe, wie der analytische Typ, zu dem wir wurden, wieder lebens- und darstellungsfähig werden kann. Seine letzte Schlüssigkeit ist der Aktivist.  

Der  expressionistische Schriftsteller „behandelt“ keine Probleme, er hat keine „Psychologie“, keine soziale Formen usw. Er gewahrt alles nur im größten Verhältnis des Kosmos; er kennt die Welt als Welten. Ein Dasein auf dieser geistigen Stufe, wo alles nur Verhältnis sein würde, ist möglich. Aber es ist nicht früher möglich, bevor nicht diese bürgerliche, mechanistische Welt restlos erfüllt ist. Gerade der Expressionist mag vor solchem Mechanon zurückschrecken: der Aktivist wird ihn vor den Folgen feigen Grauens retten.     

             Der Aktivist ist eine Abspaltung des Expressionismus: seine rechte Hand. Er sucht zu vereinfachen, sucht die Politik mit den natürlichen Mitteln des künstlerischen Schaffens auf die Höhe der höchsten schöpferischen Werke zu heben. Der landläufige Berufspolitiker wirft ihm vor, daß er den politischen Apparat durch Forderungen verwickle, die aus der Literatur bezogen sind. Aber er fordert nichts anderes, als daß Politik zumindest ebenso reinlich aus dem Menschen quelle wie Kunst. Er verlangt, unsere Politik sei simpel und klar. Wichtiger ist der Argwohn und Vorwurf seines expressionistischen Bruders, daß er sich dabei versimpele. Der Aktivist antwortet mit Recht zurück, was anderes denn der Expressionismus sei, als die ausgreifendste bisher mögliche Vereinfachung, wenn nicht die Philister über ihn Recht behalten sollen, die ihn konfus und kompliziert schelten. Der Hebel ist zwar später und hirnlicher als der Kraftumweg vor dem Hebel und mag Troglodyten als beängstigend komplizierte Zumutung auf Dauer erschienen sein. Aber niemand leugnet, daß durch diesen Rechenakt eine Vereinfachung eingeführt ist. Jedes Kunstwerk ist ein solcher Hebel, Energieersparnis durch schöpferischen Kraftauswand an der Wurzel, in der Seele. Der Aktivist ist überall für den Hebel. Der Verwahrung einlegende Dichter steht zum Aktivisten im Verhältnis des Philisters zum Dichter.

             Der Aktivist verkündet die Religion des Bewußtseins. Er ist Rationalist. Unterscheide aber genau zwischen der Ratio des Erkenntnisphilosophischen und der Ratio des Willensphilosophischen. Der Rationalist hält es natürlich erkenntnishaft gar nicht mit der Schulweisheit Horatios, sondern mit dem visionären Hamlet. Was ich erkenne, kann Wissenschaft nicht restlos herbeischaffen. Überwelten sind mit dem System von Hierweltorganen unfaßlich. Im zu Wollenden aber den Hang, vor der Tat die roheste Tatnotdurft walten zu lassen, ist Alchymie, leeres Goldsuchen, kurz, eine Sauerei. Bescheiden im Bewerten seiner Kenntnis und Erkenntnis, souverän und alles zwingend im Augenblick formschaffenden Wollens sie die schöne Klarheit des sich verantwortlichen geistigen Menschen.

             Bewußtseinstatsachen mögen Weltausschnitt der Welt sein: so ist die Tatsache des Bewußtseins niemals mehr zu schänden, abzuschwächen, zu diskreditieren.

             Es kündet sich ein Prozeß an, der in einer Arche gleichsam die Überlebenden des Bewußtseins rettet und zu einer neuen Geistrasse verdichtet. Wie die Amerikanisierung, ist einfach ein Prozeß der Vergeistigung auf dem Erdstern möglich, der von dieser Rasse aus der Arche ausgehen soll. Der Aktivist ist es, der diesen Prozeß vorbewußt ahnt und bewußt anspornt. Er müht sich um die Aufforstung des Menschen. Nur zu diesem Zweck schreibt der Aktivist.

             Der Aktivist will: 1. Gut schreiben – Er schreibt ausgezeichnet. 2. Gutes schreiben. Er schreibt Dinge, die ebenso genießbar, erbaulich als herzensfreundlich gemeint sind. Er will das Gute schreiben. – Erst von hier an entsteht in ihm der Widerspruch des Bürgers und dessen Korrelats, des Dichters. Aber der Aktivist will Aktivismus nur so lange schreiben, als es notwendig ist, die Menschen zu erziehen, bis sie Aktivisten sind. Aktivisten untereinander gibt es nicht. Dichter untereinander gibt es. Aktivisten gibt es nur nach außen hin; untereinander sind es Dichter.

             Die aktivistische Literatur ist vor allem eine Lektüre für Politiker und Dichter: also für alle. Denn jeder reine, sittliche, in den Anlagen unverdorbene Mensch ist ebenso Politiker wie Dichter, jeder. Das kleinste Publikum des Aktivisten, der in deutscher Sprache schreibt, ist das deutsche Volk. Aber in Deutschland war Politik bisher die Angelegenheit einer Kaste, einer Herrenrasse. Seit dreißig Jahren sind Deutsche assimilierte Preußen. Es ist ein Kriegsgewinnertypus. Er hat alles im Kriege, auch den Krieg selbst zu gewinnen. Er verliert alles außerhalb seiner. Daß Kampf für die Idee sittlich ist, leugnet nur – der Militär. Diesem ist nur der Gehorsam sittlich. Die Idee ist revolutionär, also unsittlich. Es gibt in Deutschland keinen Zusammenschluß, dessen Programm gegen die herrschenden berüchtigten Zustände so ganz auf integrer Vernunft und allem Gesunden zugänglicher Selbstverständlichkeit ruht wie der Aktivismus. Der Aktivist ist der stärkste Anwärter auf eine erledigte Politikstelle in Deutschland. Seine lose Gruppe ist der inneren Spannung nach die mächtigste Partei eines künftigen Reiches. Die Sozialdemokratie war ihr schwacher Vorabklatsch. Nur die Fabians in England können mit ihm verglichen werden. Die Gruppe ist Reservoir für die politischen Typen der allernächsten Zeit. Die Menschheitstribunen des zweiten Jahrtausends gehen aus ihr hervor. Wir treten in den absoluten Erdkulturkreis der Geschichte ein. Nein, „Weltgeschichte“ war Vorarbeit.

             Die praktischen Forderungen des Aktivismus lesen sich gar nicht deutsch. Sie klingen in ihrem Pathos romanisch. Das ist gut so. An die Stelle des Systemdeutschen wird, wie in aller Kulturwelt, wieder der Mensch der Schwungkraft treten, vermehrt um die deutsche Ratio, Impulsen den strenuosen Akt im Aufstellen von Systemen folgen lassen: um gleich darauf sie zu verwischen, wie man Hilfslinien auswischt. Vergessen, wie man schreiben und wie man Klavier gelernt hat, aber vorher üben und Etüden spielen, bis die Gelenke knacken. Es ist aktivistisch, ein Meister des Menschlichen zu sein, aus dem großen Ungefähr zu schaffen, aber sein Menschheitshandwerk durch und durch zu kennen. An die Stelle der Vorherrschaft einer Herrenrasse soll die umfassende Meisterrasse treten. Die Bestellung der Menschheit erfolge großzügig und nach modernen Betrieben.

             Aktivismus ist Gesetzgebung aus der Seele. Die deutsche Mystik, die deutsche Tüchtigkeit, der deutsche Schneid, die deutsche Musizität können hinfürder keinen Einzelanspruch auf Ethos haben; aber alle diese Tugenden haben in der neuen ihren Platz schon gefunden. Der Aktivismus, zum Schlusse, will eine Universalrasse begründen; sein Elan ist romanisch; das Endergebnis, die Rasse, wird deutsch im guten Sinn aussehen. Immer entsteht Deutsches aus allem anderen; nicht umgekehrt, durch Aufprägung, wie heute der annexionistische Philister in Deutschland meint. Der Aktivismus will, daß die Deutschen wieder deutsch würden. Die Weltrasse ist eine nationale Angelegenheit der Deutschen. Erst in ihr kann Deutschtum sich erfüllen, wenn es sich freilich, wie es heute ist, aufgegeben hat.

In: Daimon, H. 4 (August) 1918, S. 210-213[1]


[1] Anmerkung des Herausgebers (Originalfassung): Hier sei vorläufig festgestellt, daß die folgenden Ausführungen sich nicht mit dem Urteil des „Daimon“ decken. Unter dem Titel „Die Dialektik der Selbstverantwortung“ (An die Bekenner literarischer Religion und die Prediger tätigen Geistes) wird im Oktoberheft zum Aktivisten-Jahrbuch Stellung genommen werden.