Felix Salten: Fräulein Else

Felix Salten: Fräulein Else (1924)

Atemlos fieberhaft saust das Tempo der neuen Novelle von Schnitzler. Während man sie liest, wird man gleich zu Anfang in fieberhafte Spannung entzündet, wird bis ans Ende in atemloser Teilnahme mitgerissen.

Die Geschichte, das Schicksal eines jungen Wiener Mädchens aus „guter Familie“. Der Vater, Advokat, hat Mündelgelder unterschlagen. Die Tochter soll ihn vor der Schande retten, in dem Alpenhotel, in dem sie ein paar Sommertage genießen darf, einen alten Freund der Familie um Hilfe bitten. Der reiche Mann stellt jedoch eine Bedingung. Er will Else nackt. sehen. Nur sehen. Sonst nichts. Dann gibt er die Summe her, die den Vater vor dem Kriminal bewahrt. Else erfüllt diese Bedingung und täuscht den reichen Mann dennoch. Sie wirft im Klaviersalon ihren Mantel ab, steht, nackt vor dem Retter ihres Vaters, aber auch vor allen anderen, die dabei sind.

Dann bringt sie sich um. Trinkt Veronal. Stirbt.

Die ganze Begebenheit, die sich binnen wenigen Stunden abspielt, wird nicht erzählt. Kein Vortrag, keine Ausschmückung des Dichters; keine Malerei seiner farbigen, plastischen Sprache. Was hier geschieht, wird erlebt. Else denkt, fühlt und spricht; genau so, wie einst der Leutnant Gustl selbst gedacht, gefühlt und gesprochen hat. Immer ist nur Elses Stimme zu hören, nur ihre unhörbare, lautlose Gedankenstimme. Hie und da ein paar Reden oder Redensarten der anderen; ein paar Worte, die Else zu den anderen sagt. Trotzdem…, nein: gerade deshalb wird alles so unmittelbar lebendig in dem Buch. Die ganze Existenz des jungen Mädchens nimmt man viel intensiver in sich auf, weil, scheinbar, niemand zwischen ihr und uns steht. Was für ein glänzendes, was für ein jammervolles Dasein führt Else. Die Tochter eines Vaters, der mit den glänzendsten Gaben sich und den Seinen nur ein jammervolles Leben bereitet hat. Man kennt ja eine ganze Menge solcher Menschen, auch Advokaten, die zwischen Erfolg und Absturz gefährlich balancieren. Da sind dann die Krisen, die Tage, in denen es, um Haaresbreite am Strafgericht vorbei, halbwegs wieder weiter geht. Diese Tage aber, mit ihrer Angst, mit ihren Erniedrigungen, korrumpieren. Von ihnen, von der ganzen beständig schwankenden Situation, von dem schlechten Gewissen, das nach und nach alle Mitglieder der Familie bekommen, wird die aufrechte Freiheit gebeugt, die Unbefangenheit vergiftet und zerstört.

In solcher Atmosphäre lebt Else. Jetzt ist sie, als Gast ihrer Tante, in dem vornehmen Tiroler Alpenhotel. Der Vater kann nicht von Wien fort; man würde seine Abreise vielleicht als Flucht deuten und ihn unterwegs verhaften. Es ist auch nicht genug Geld im Haus für eine Sommerreise. Deshalb muß die Mutter beim Vater in Wien bleiben. Der Bruder hat in Amsterdam eine Anstellung. Ach, man zittert, wenn eine Nachricht von ihm eintrifft, denn der väterliche Leichtsinn ist sein Erbteil. In dem Alpenhotel dahier weilt auch der Cousin von Else, der Sohn ihrer Tante, Paul, der ein //junger Arzt ist. Er hat, wie Else vermutet, Beziehungen zu der jungen Frau Cissy, die gleichfalls hier im Hotel wohnt. Trotzdem könnte er sich jeden Moment in Else verlieben. Sie fühlt das. Aber sie weiß, er würde nie daran denken, sie zu heiraten Sie ist keine Partie, Else, sie weiß dass nur zu gut. Ein Verhältnis mit ihr, oh ja, das hätte Paul gerne; Wer hätte nicht gerne ein Verhältnis mit ihr? Da sind andere junge Menschen, hier im Hotel, in Wien, überall in der Welt. Aber sie zur Frau nehmen, sie, ein Mädel, das verwöhnt, anspruchsvoll und arm ist, das zudem noch aus einer Familie stammt, deren Ansehen ohnehin schon gelitten hat und die eines Tages in Schande versinken kann… es müßte ein Wunder geschehen. An Wunder jedoch glaubt Else nicht, wenn sie es auch liebt, davon zu träumen. 

            Mit Else und ihrem Schicksal ist zugleich die Situation wie das Schicksal unzähliger anderen Mädchen getroffen. Die weibliche Jugend einer breiten Schicht des Bürgertums steht auf dieser sehr schmalen Kante zwischen Wohlleben und Armut, zwischen Ehrbarkeit und Schande, zwischen Glück und nutzlosem Hinwelken. Erzogen zu Luxus, nur bewundert in jenem leichten, wertlosen Wissen, das man in einem sorglosen Dasein braucht, ohne Mitgift, sind sie jedem Elend preisgegeben, wenn sie sich selbst erhalten müssen, wenn nicht ein Mann kommt, der sie um ihrer selbst willen liebt und sie heiratet. Wie oft ist das gesagt, wie oft erkannt, begriffen worden. Freilich manches hat sich auch im Bürgertum gebessert Langsam hört die Arbeit, der Broterwerb auch für die Mädchen aus ,,feinen“ Familien auf, das Schreckgespenst des Unterganges zu sein, langsam erlöschen die ganz albernen Meinungen nach denen ein Mädchen deklassiert war, das eine dienende  Stellung was immer für eine annimmt. Aber dies Erwachen zur Vernunft, zu gesunder Lebensanschauung geht nur langsam vor sich, nur sehr langsam. Nur vereinzelt lehrt die Praxis, wie innig verknüpft mit der selbständigen Erwerbsfähigkeit des Mädchens auch das Problem ihrer Verheiratung ist, So hat denn Fräulein Else immer noch zahllose Schwestern, wenngleich nicht jede von ihnen einen reichen Herrn um Geld ansprechen muß, damit ihr Vater vor dem Eingesperrtwerden gerettet wird.

Trotz der besonderen Umstände, die ihre Katastrophe herbeiführen, ist ja Else nur ein Beispiel, nur ein Typus, und an ihrem Fall, an ihrer Wehrlosigkeit wird der wehrlose, preisgegebene, der unglückliche Zustand aller ihrer Schicksalsgefährtinnen erschreckend klar. Es ist genau so wie am Leutnant Gastl, an den besonderen Umständen seines Einzelfalles; die Gebundenheit aller Offiziere klar wurde, ihr Befangensein in das ebenso verlogene wie überhebliche Gebot ihrer Standesehrte. Artur Schnitzler hat damals für dieses Meisterwerk, das Leutnant Gustl« hieß, seinen Rang als Reserveoffizier verloren und man hat ihn anderseits als einen politischen Vorkämpfer des Antimilitarismus gefeiert. So gänzlich kann ein Kunstwerk mißverstanden werden, von den Hütern wie von den Gegnern der jeweilig bestehenden Ordnung, von rechts und von links. Nicht um den Militarismus war es damals Schnitzler zu tun. Daß ein Dichter in seiner Seele und in seinem Geist keineswegs auf der Seite der Gewalt sein kann, versteht sich zu sehr von selbst, um gefeiert zu werden. Es sei denn, er mache sein Schafer absichtlich zum Angriffswerkzeug seiner aktiven, wagemutigen Politik. Aber Schnitzler ist nie ein Politiker und er ist niemals aggressiv gewesen. Nur einen Menschen wollte er im Leutnant Gustl hinstellen, der, in der Schlinge alberner Konvention gefangen, sein Leben verwirkt sieht, sich zum Selbstmord bereitet, den er für Standespflicht hält, und der nun, da ihm der Zufall den Gegner aus dem Weg räumt, befreit aufatmet. Er ahnt gar nicht, der gute Leutnant Gastl, daß sich durch den plötzlichen Tod dieses Gegners im Grund ja nichts geändert hat, daß alles trotz dieses Todesfalles immer noch aufrecht bleibt: er ist beleidigt worden, hat keine Genugtuung genommen und seine Offiziersehre hat einen Fleck. Das stört ihn nicht weiter,denn niemand wird je etwas davon erfahren. Er ist jung, voll Daseinsfreude, naiv, wenig nachdenklich und er freut sich unbändig, daß er weiterleben darf.

An diese Novelle, die leuchtend ist in ihrer Wahrheit, sprühend in ihrer Lebendigkeit, wird man unwillkürlich erinnert, wenn man Fräulein Else liest. Sie hat dieselbe Form, diese Art der unmittelbaren Äußerung ihrer Titelfigur. Dieses Denken, Fühlen und Sprechen genau in der Sekunde des Erlebens. Diese Form ist aus dem Drama geschöpft, wo ja die handelnden Menschen genau in der Stunde ihres Schicksals vor uns erscheinen, wir sie reden hören und fühlen können, was sie denken. Der Dramatiker, der Schnitzler ist, hat diese Form für die Novelle frühzeitig gefunden, erfunden könnte man sagen, und er gebraucht sie jetzt, ein paar Dezennien nach dem Leutnant Gustl, zum zweitenmal. Farbiger, fülliger, mit noch höherer Meisterschaft als vorher. Diese Form hat vom Drama den Saus des Tempos, der so stark ist, daß man nur in manchen Erzählungen von Kleist die gleichen Sturmschritte findet. Sie hat die volle Anschaulichkeit der Bühne, so eindringlich, daß man die Gesichter aller Menschen sieht, die Landschaft, ja, daß man den Geruch der herben Luft des Hochgebirges zu atmen glaubt. Und so gegenwärtig ist das Geschehen, daß man in jedem Augenblick meint, man könne dazwischentreten, man könne unterbrechen, könne diesem Fräulein Else ins Wort fallen, sie hindern, ihr helfen, sie retten. So zwingend geht alles vor sich, so unaufhaltsam rasch im Sturz, daß man zugleich begreift, wie rettungslos verloren die arme Else ist, daß man sie, erschüttert, ihren jungen Leib entblößen und dann sterben sieht, indessen man von Ergriffenheit, ja von Verzweiflung überwältigt wird. Ihre höchste Feinheit und ihren höchsten Rang erhält diese Form aber durch die Eigenschaft, bei aller dramatischen Wirkung durchaus novellistisch zu sein. Das Denken der Else, dieses in ihrem Hirn und Herzen geflüsterte Denken, darin sich alle anderen Figuren// abmalen, alles Vergangene und Gegenwärtige sich aufrollt, hat nur in der Novelle keine Längen, sondern eine Fülle von Schönheit.

Ganz einfach, ganz wie selbstverständlich hebt diese Novelle an. Else geht vom Tennisplatz ins Hotel zurück. Auf dein Tennisplatz spielen Frau Cissy Mohr und Cousin Paul ein Single, da Else sie allein läßt. Ein wenig tändelnd beschäftigt sich Else mit den beiden, mit dem Verdacht der galanten Beziehung, den sie gegen die zwei hegt, tändelt auch ein wenig mit dem kleinen bißchen Eifersucht, das sich in ihr regt, und geht, um nach dem Brief zu sehen, den sie von zu Hause erwartet. Unterwegs Begegnung mit ein paar Hotelgästen. Mehr nicht. Aber schon sind die Hauptfiguren plastisch  sichtbar, ist der Schauplatz abgesteckt. Dann in der Halle der Brief. Else liest ihn auf ihrem Zimmer. Die Mutter schreibt: bitte Herrn Dorsday um das Geld. Und sie schreibt, es gibt keinen andern Ausweg! Dann schreibt sie noch, wie traurig es sei, und wie schwer, seiner Tochter solche Aufträge zu geben. – Das Schicksal ist da. Beginnt sich zu vollziehen. Unabwendbar.

Von den Mädchengestalten, die Artur Schnitzler geschaffen hat, von den vielen, gütig oder zärtlich oder leidenschaftlich geschauten Mädchengestalten ist keine so vollkommen erfaßt, so bis in die verborgenste Seelentiefe durchdrungen, wie diese Else. Nur die einfache Christine in der ,Liebelei ist so umschimmert von Poesie, wie die komplizierte, aber im Wesensgrund doch auch einfache und unschuldige Else. Und keine andere, außer Christine, hat die Einprägsamkeit, ist in so klarer Weise, mit so festen Konturen umrissen, ein Wahrzeichen. Artur Schnitzler hat der Frauentreue, der Frauenunschuld von jeher  nachgespürt, mit dem Herzen eines Verliebten, mit dem Scharfsinn eines bedeutenden Geistes, mit dem Verstehen eines gütigen Menschen und mit dein intuitiven Erraten eines Dichters. Alle seine Werke haben das Problem zum Gegenstand, das die Frauenseele für den Mann bleibt, und von Leuten, die nicht merken, wie sich in diesem Brennglas die ganze Fülle der Lebensstrahlen sammelt, ist ihm der „enge“ Stoffkreis oft zum Vorwurf gemacht worden. Nun scheint er auf eine Höhe des Verstehens gelangt, auf der Schuld und Unschuld, Treue und das, was der Beteiligte Treulosigkeit nennt, sich sachte lösen, ins Fließen geraten, und nur die Herzenskraft der Frau, nur ihr Menschentum gilt, gleichviel ob sie einem Liebhaber Schmerz gewesen ist oder Enttäuschung. In seiner Aurelie, dieser edlen Hauptgestalt der edlen Komödie der Verführung, werden so viele anständige Frauen und ebenso viele gefallene Frauen Züge des eigenen Wesens betroffen erkennen. Keineswegs die Möglichkeit zur Dirne soll da entlarvt werden. Nur die Möglichkeit zu mancherlei Erlebnis, die in jeder Frau verborgen schlummert, wird angerührt. Auch in Else, dieser Komplementärgestalt zur Aurelie. regt sich keine heimliche Dirne. Wie Aurelie, von der vorschauenden Entsagung des einzigen Mannes, den sie liebt, preisgegeben, in ihr Verhängnis stürzt, so gleitet Else aus der Lebensbahn, da das Weib in ihr geweckt wird durch alle diese häßlichen Notwendigkeiten, sich zu verkaufen, und durch sonst nichts. Sie spielt mit dem Gedanken, sich zu verkaufen, sie klammert sich mit der Sehnsucht ihrer Jugend an das Leben, das ihr jenseits dieses Handels noch winkt. Aber sie tötet sich. Selten ist eine Frauenseele in ihren geheimsten Regungen so durchleuchtet worden und so rein genießen wie diese: so ganz noch Kind, so sehr noch Jungfrau, so ahnungsvoll schon Weib, so erfüllt von Güte, so durchblitzt von Messerschärfe des Verstandes, so gelind an Zärtlichkeit und so sanft in der Verzweiflung. Dieses Buch, das der Paul-Zsolnay-Verlag jetzt eben herausgibt, wird binnen kurzem von vielen Tausenden, Frauen wie Männern, gelesen und geliebt sein.

In: Neue Freie Presse, 23.11.1924, S. 1-3.