Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert

Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert (1933)

Die Lebensgeschichte Karl Lackners. Eines Wiener Arbeiterkindes, eines Menschen dieser Zeit, der im Krieg dem Vaterland diente, in der Inflation die verschiedensten Berufe hatte, abgebaut wurde, hungerte, einer Dirne Zuhäl­terdienste leistete und schließlich aus dem Ge­fühl der tiefsten Trostlosigkeit seinem Leben selbst ein Ende machte, beginnt nicht mit der Geburt, auch nicht mit der Schilderung des Elternhauses des Helden, sondern mit einer Darstellung der wirtschaftsumwälzenden Theo­rie Taylors und mit einer Beschreibung des Hauses Rockefeller. In Form einer romanhaf­ten Chronik wird die wirtschaftliche und politische Geschichte der Welt erzählt, solange Karl Lackner in ihr lebt. Die mit Zahlenmaterial belegte, manchmal bis zur nüchternen Statistik erhärtete Schilderung der weltpolitilchen Er­eignisse ist nicht etwa Hintergrund eines Einzelschicksals, sondern das Schicksal selbst.

Brunngraber, ein junger Wiener Dichter, ver­sucht, geschult an den Romanen Jlja Ehrenburgs, die schicksalhafte Macht wirtschaft­licher Ereignisse über den einzelnen Menschen in Romanform zu gestalten. Als Motto steht vor dem Buch das Napoleon-Wort: „Die Po­litik ist das Schicksal“ und das Rathenau-Wort: „Die Wirtschaft ist das Schicksal“. Nicht erb­liche Veranlagung, nicht eigner Trieb bestim­men das Leben Karl Lackners. sondern die Ausfuhr und Produktion von Waren in Län­dern, die er nie gesehen hat, die wirtschaftlichen Kämpfe von Staaten, die scheinbar weit­ ab liegen und mit dem Land, in dem er gebo­ren wurde, gar nichts zu schaffen haben. Das Leben wird als ein ungeheurer wirtschaftlicher Organismus aufgefaßt, in dem jeder Staat nur ein kleines Rädchen ist.

Der Gefahr, daß die romanhafte Gestaltung zur trockenen wirtschaftspolitischen Abhandlung verblaßt, ist Rudolf Brunngraber nicht entronnen. Lange Abschnitte seines Buches haben mit dem Roman nicht einmal mehr die äußere Form epischer Erzählung gemein, sie sind Essays oder gar nur Zusammenstellung von Tatsachen und Zahlen. Hier wird das Prinzip, nicht zu fabulieren, sondern typisches Schicksal auf Grund von unanfechtbaren Tatsachen zu erzählen, doch ein wenig übertrieben. Die Auf­gabe des Dichters ist es nicht, den Wirtschafts­teil einer Tageszeitung abzuschreiben oder nachzuahmen, sondern Ereignisse, ob sie nun erfunden oder der Wirklichkeit entnommen sind, plastisch, lebendig zu gestalten. Die pla­stische, lebendige Gestaltungskraft vermißt man an vielen Stellen dieses Werkes; sie macht erst in den letzten Kapiteln, in der erlebten Schilde­rung des Arbeitslosenschicksals, die „sachliche“ politische und wirtschaftliche „Reportage“ zum Roman.

Ein Einzelschicksal wird analysiert, wie die Weltwirtschaft analysiert wird. Ein Mensch geht zugrunde, weil die Rüstungsindustrie dunkle Geschäfte abschließt, weil Geld für den Krieg verpulvert, statt zum Aufbau neuer Städte verwendet wird, weil Absicht und Unfähigkeit, Habgier und Gewissenlosigkeit der regierenden Mächte, der Bankdirektoren, Stahlmagnaten und Konservenfabrikanten der ganzen Welt die Menschheit in die große Krise dieser Zeit stürzen. Das Leben Karl Lackners wird eingeteilt in die verschiedenen Epochen wirtschaftlicher Konjunktur oder Depression, mit der Technik filmischer Montage wird das große Schicksal der Welt und das kleine Schick­sal eines einzelnen Menschen in Zusammen­hang gebracht. Man muß nicht der Meinung sein, daß die Zukunft des Romans auf diesem Gebiet liegt, man kann das neue epische Prin­zip, das Brunngraber experimentell anwendet, aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen oder man kann seinen Versuch im einezlnen als mißglückt betrachten – aber man muß sich mit dem Buch befassen, weil es aus dem ehrlichen Be­mühen eines begabten jungen Dichters erwach­sen ist, der sich auf neue Art mit der Welt auseinandersetzen, der eine neue Form des gesellschaftskritischen Romans schaffen will. Vielleicht wird gerade dieses Buch die Situa­tion des Romans der Gegenwart klären, der zwischen Dichtung und Reportage, Gestaltung und Bericht, Phantastik und Sachlichkeit ratlos hin- und herschwankt.

In: Salzburger Wacht, 10.1.1933, S. 6.