Brunngraber, Rudolf

geb. am 20.9.1901 in Wien – gest. am 5.4.1960 in Wien; Schriftsteller, Maler, Grafiker

Ps.: Sverker Brunngraber (als Maler), C. Benjamin, Benjamin Patinir

R. B. wurde als Sohn einer aus Niederösterreich zugezogenen Bauernfamilie in Wien-Favoriten geboren. Um der harten körperlichen Arbeit zu entgehen – der trunksüchtige Vater war Maurergehilfe, die Mutter Hilfsarbeiterin – absolvierte B. 1915-20 das Landes-Lehrerseminar, fand im Anschluss aber keine Anstellung. Zeitgleich entstanden erste expressionistisch geprägte literarische Texten, die unveröffentlicht blieben (z.B. Gedichtsammlung Die Vorhölle, 1919). Vermittelt durch Kasimir Edschmid reiste B. 1921/22 u.a. nach Göteborg und Stockholm und verrichtete dort Gelegenheitsarbeiten, etwa als Kinogeiger, Holzfäller, Schildermaler und Elfenbeingraveur. Nach der Rückkehr nach Wien 1922/23 wurde B. Beamter in der Logistikbranche, anschließend bis 1926 arbeitslos. Im Oktober 1926 erhielt B. ein Stipendium für ein vierjähriges Malereistudium bei Wilhelm Müller-Hofmann an der Wiener Kunstgewerbeschule und arbeitete folglich als Gebrauchsgrafiker und Kopist; hinzu kamen erste Vortragstätigkeiten in der Bildungszentrale. Nach dem SDAP-Eintritt 1927 auch Bildungsreferent in Wien. Otto Neurath stellte ihn neben Marie Jahoda und Oskar Umrath im Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum an (1928-1933) und riet ihm von der Veröffentlichung des 1921 begonnenen Romans Die Entwurzelten ab.

Aus: Arbeiter-Zeitung, 13.12.1932, S. 7

Das autodidaktische Studium der Nationalökonomie und Soziologie unter Neuraths und Gerd Arntz‘ Einfluss führte zur Entstehung des Romans Karl und das zwanzigste Jahrhundert, der Ende 1932 in Buchform und zwischen 18.1. und 22.3.1933 in der Arbeiter-Zeitung erschien, vielfach übersetzt und u.a. von Hermann Broch, Theodor Kramer und Sinclair Lewis für die innovative neusachliche Verschränkung von persönlichem Schicksal und Wirtschaftsentwicklung gelobt wurde. B., 1932 mit dem Julius-Reich-Preis ausgezeichnet, besuchte die Gesellschaftsabende bei Heinrich Steinitz u.a. mit Josef Luitpold Stern, Oskar Maria Graf und Ernst Waldinger, trat als Vortragender im Volksheim Ottakring auf und war Mitbegründer der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller, deren Obmann er kurz vor dem Verbot im März 1934 wurde. B. stand in freundschaftlichem Kontakt zu u.a. Broch, Edschmid, Kramer, O. M. Fontana, Wilhelm Szabo und Karl Ziak. 1933 wurde er Lektor beim Verlag Elbemühl und publizierte u.a. in der Bildungsarbeit, Die Glocke, der Wiener Weltbühne und in Die Unzufriedene. Sein Kommentar zu den Bücherverbrennungen in Deutschland 1933 („… die Nationalsozialisten vertragen die Wahrheit nicht (…).“) führte zum Verbot seines Debütwerks in Deutschland. Doch bereits sein zweiter Roman Radium (1936) erschien als Sonderausgabe für die deutsche Luftwaffe, Opiumkrieg (1939) wurde ein deutscher Propagandaerfolg. B. traf 1939 Joseph Goebbels, war vom 18.10.1939 bis zum Ausschluss am 30.8.1940 Mitglied der Reichsschrifttumskammer und sollte trotz Gestapo-Verhörs 1941 wegen staatsfeindlicher Äußerungen im Auftrag Albert Speers über das Nachschubwesen im Krieg publizieren.

Nach 1945 wurde Brunngraber erster Obmann der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Journalisten und Schriftsteller Österreichs, Mitglied des P.E.N.-Clubs sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und wirkte vor allem als Essayist und Drehbuchautor. B.s Werke wurden in achtzehn Sprachen übersetzt und erreichten nach dem Krieg eine Millionenauflage.


Weitere Werke

Zucker aus Cuba. Roman eines Goldrausches (1941), Wie es kam. Psychologie des Dritten Reiches (1946), Was zu kommen hat. Von Nietzsche zur Technokratie (1947), Prozess auf Tod und Leben (1948), Überwindung des Nihilismus. Betrachtungen eines Aktivisten (1949), 1. April 2000 (Drehbuch, mit Ernst Marboe, 1950)

Quellen und Dokumente

Texte R. B.s: Acht Tage Roßauer Lände. In: Arbeiter-Sonntag, 29.10.1933, S. 6; R. B.: Autobiographische Skizze [etwa 1937]. Abgedruckt in: R. F.: Karl und das zwanzigste Jahrhundert (1988), 259-262

Hermann Broch: Die besten Bücher des Jahres. In: Die Auslese 1935/36, S. 9-11, abgedruckt in H. B.: Schriften zur Literatur 1: Kritik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975, S. 382-384; Kasimir Edschmid: Brunngraber. In: K. E.: Tagebuch 1958-1960. Wien (u.a.): Desch 1960, S. 329-334; Karl Leuthner: Ein moderner Schicksalsroman. In: Arbeiter-Zeitung, 13.12.1932; Leopold Liegler: „Radium“. Roman eines Elements. In: Wiener Zeitung, 4.5.1936, S. 7; Theodor Kramer: Eine neue literarische Form? In: Tage-Buch 13 (27.8.1932) 35, S. 1362; Josef Stern: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert. In: Bildungsarbeit, XIX, 12.12.1932, S. 255; H. Margulies: Karl und das 20.Jahrhundert. In: Der Tag, 18.12.1932, S. 25-26; R.Brunngraber: Mutterrecht. In: Die Unzufriedene. 12.11.1933, S. 27; N.N.: Rudolf Brunngraber (Zur Eigenlesung am 31.1.1938). In: Radio Wien, 28.1.1938, S. 7-8.

Verzeichnis von Brunngrabers Artikeln in Die Unzufriedene.

Literatur

Aneta Jachimowicz: Statistik als „Werkzeug des proletarischen Kampfes“? Otto Neuraths statistisches Denken und Rudolf Brunngrabers Individuum-Auffassung in Karl und das 20. Jahrhundert. In: P.-H. Kucher (Hg.): Verdrängte Moderne – vergessene Avantgarde (2016), 269-286; Christoph Fuchs: Rudolf Brunngraber (1901-1960). In: Literatur und Kritik 32 (1997), H. 317-18, 103-109; Evelyne Polt-Heinzl: Das Kommando der Dinge oder Was ein Bimmerling lernen kann. Überlegungen zu Rudolf Brunngrabers Arbeitslosenroman “Karl und das 20. Jahrhundert” (1932). In: Fausto Cercignani (Hg.): Studia austriaca III (1995), 45-63; Edwin Rollett: Rudolf Brunngraber. In: Wort in der Zeit 6 (1960), H. 3, 7-15; Wendelin Schmidt-Dengler: Statistik und Roman – Über Otto Neurath und Rudolf Brunngraber. In: Friedrich Stadler (Hg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit: Otto Neurath – Gerd Arntz (1982), 119-124; Ursula Schneider: Rudolf Brunngraber. Eine Monographie. Phil. Diss. (1990), Karl Ziak: Der unbekannte Brunngraber. In: Die Zukunft 1971, H. 15/16, 52-56

(ME)