L. Andro: Fräulein Else und Annette

L. Andro [= Therese Rie]: Fräulein Else und Annette (1924)

Fräulein Else, die neunzehnjährige Tochter eines Advokaten von Rang, hat jene Erziehung genossen, wie sie in den neunziger Jahren den meisten jungen Mädchen des angesehenen Mittelstandes zuteil wurde: Das Endziel aller Bestrebungen, der eigenen und der elterlichen, war eine möglichst vorteilhafte Heirat, und da der Prince charmant in der Regel nicht kam oder höchstens um den Preis enger Verhältnisse oder gesell­schaftlicher Deklassierung zu haben gewesen wäre, landete man schließlich in einer Vernunftehe und ent­wickelte sich zu einem neuen Mitglied der unabsehbar großen Gilde der unverstandenen Frauen. Auf großen Bällen oder in fashionablen Sommerfrischen wurde man möglichen Bewerbern vorgeführt, prächtig gekleidet, aber zuweilen mit fadenscheiniger Lingerie, denn es bürgte für die Anständigkeit des Mädchens, daß man sich für dergleichen noch nicht interessierte; die übrige Zeit verbrachten Fräulein Else und ihre Schicksalsgenossinnen mit ein wenig Tennis und Flirt, mit Klavierspiel, Deckchensticken und der Erlernung fremder Sprachen; damit waren sie für die Zukunft, die Ehe und den Lebenskampf hinreichend ausgerüstet.

Diesen tragischen Typus des unberührten Mädchens, unberührt darum, weil sich niemand die Mühe gab, in seiner Seele etwas aufzurühren, stellt Schnitzler mit der letzten Vollendung hin. Genau wie im Leutnant Gustl, als dessen Gegenstück diese Monolognovelle wohl auch formal gedacht ist, greift er aus der großen Masse ein unbeträchtliches Geschöpf heraus, das nur von seiner Kaste lebt, nur in dieser möglich ist. Und nun zerbricht eine Feder dieses sorgsam geölten Gesellschaftsmechanismus: Um das un­bedeutende Einzelwesen rauscht das Schicksal mit schweren, schwarzen Flügeln: das arme Menschen­kind sieht sich mit einemmal in schauerlicher Einsamkeit, auf sich selbst angewiesen, alles, was ihm Halt geben konnte, existiert nicht, mehr. Aus einem Typus wird es blutende, leidende Kreatur, seine arme, eingeschnürte Seele wird plötzlich hellsichtig. Erschiene ihm jetzt, in seiner Schicksalsstunde ein Retter, es könnte sogar vielleicht noch ein Mensch werden. Wie oft aber kommen Retter zur rechten Zeit? Den Leutnant Gustl erlöst im letzten Augenblick noch ein Zufall; für diearme kleine Else kommt er nicht, und ihr könnte wohl auch kein Zufall helfen.

Dies ist ihr Schicksal, daß sie eines Sommerabends, als Gast reicher Verwandter in eurem Dolomitenhotel weilend, einen Brandbrief von daheim empfängt: der Vater hat Mündelgelder unterschlagen, leider nicht zum erstenmal, aber diesmal ist die Katastrophe unabwendbar. Nur Else kann helfen, indem sie einen zufällig im gleichen Hotel wohnenden Bekannten, einen reichen älteren Lebemann, um das Geld bittet.

Die törichte Mutter, die diesen Brief schrieb, hat sicherlich nicht gewußt, was sie damit forderte; ob der kluge Vater, der ihn diktierte, ahnungslos war, bleibt dahingestellt. Der jungen Else soll jedenfalls rasch genug Klarheit werden. Denn der freundliche Don Juan erklärt sich herzlich gern bereit, dem schönen Mädchen das Geld zu überlassen, nur knüpft er eine ganz kleine Bedingung daran: daß sie sich in seinem Zimmer eine Viertelstunde lang unverhüllt seinen Augen darbiete. Er ist bescheiden, nur den Augen. Und an der Notwendigkeit dieses Opfers, das durch ein neuerliches dringendes Telegramm unabweisbar wird, geht das kleine Mädel zugrunde.

Mit rasender Hast, jagt das Schicksal sie ihrem Untergange zu. Man liest kein Buch mehr, man erlebt mit versagendem Atem das Absterben eines Menschen. Nicht, daß sie ihren Körper fremden, kühl abschätzenden Augen schmachvoll preisgeben muß, schmachvoller, als wenn er in wilder Glut genommen würde, ist das Schlimmste; sondern vielleicht die Erkenntnis eigener dunkler Wünsche, geheimnisvoller Wirbel, die sie unbekannten Abgründen zutreiben können, wie es ja auch der andern Heldin Schnitzlers, der Aurelie in der Komödie der Verführung, ergeht. Keiner ist da, ihr die Rätsel ihres Temperaments gütig zu deuten. Das junge Mädchen Else ist im Grunde in diesem Augenblick schon getötet worden; was dann noch vor sich geht, daß sie, wie Monna Vanna, einen Mantel um den nackten Leib schlägt und sich vor der versammelten Hotelgesell­schaft enthüllt, geschieht eigentlich schon in einem andern Leben. In eine fingierte Ohnmacht sinkend, sieht sie plötzlich Welt und Menschen so klar und unbarmherzig scharf, wie nur Sterbende sie sehen. Daß sie dann noch zu dem längst vorbereiteten Glase mit Veronal greift, ist letzten Endes nur das äußere Symbol eines vor Stunden schon erfolgten Todes.

Vielleicht stammt auch diese ganze Problemstellung aus den neunziger Jahren. Viele junge Mädchen von heute, gewöhnt, im Schwimmanzug viele Stunden lang an der Seite junger männlicher Gefährten zu ver­bringen, werden vielleicht die Achseln zucken über die Geschichten, die da wegen ein paar Zentimeter Stoff ge­macht werden; manche von ihnen würden wahrscheinlich, ironisch lächelnd, dem alten Lüstling das Vergnügen machen, der in unsern Tagen freilich eine ähnliche Zumutung nicht zu stellen brauchte, da er schon aus der gewöhnlichen Straßenkleidung in der Lage wäre, genaue Schlüsse auf die Reize eines bewunderten Wesens zu ziehen. Neugierde in dieser Hinsicht ist kaum ein Laster unsrer Zeit, wo die Antworten früher erfolgen, als die Fragen gestellt worden sind. Aber die junge Else steckt noch körperlich und seelisch eng eingepreßt in dem Fisch­beinpanzer, den man der Frau damals anlegte.

Die Schmerzen dieser armen kleinen Rhodopenseele, die zu jung, zu schwach, zu zerbrechlich ist, um eine Schuld auf sich zu nehmen und sich von ihr erhöht zu fühlen, legt Schnitzler mit einer Eindringlichkeit und Zartheit bloß, welche völlig an das Blendende seiner Technik vergessen läßt, die sich zu immer atemraubenderem Krescendo steigert. Voll Mitleid ist dieses. Buch und — vielleicht— auch voll Sehnsucht nach einer Zeit, die vermutlich nicht besser war als die unsre, in der aber das Wort Hebbels, des tiefsten Deuters aller Keuschheitsprobleme, noch Bedeutung hatte: „Man muß nicht immer fragen: was ist ein Ding? Zuweilen auch: was gilt’s?“…

Es ist ein Zufall und ist doch keiner, daß diesem zarten Pastellbild des Mädchens von gestern von einem andern großen und reinen Dichter, Romain Rolland, in einem gewaltigen Triptychon das Bild der denkenden, kämpfenden/ leidenden Frau von heute gegenübergestellt// wird: in der Vorrede zu seiner „Verzauberten Seele“, von der bisher zwei Bände vorliegen, sagt Rolland: „Wenn ich einen Roman schreibe, wähle ich ein Wesen, mit dem ich Gemeinsamkeiten fühle, oder vielmehr, es wählt mich. Sowie das Wesen einmal erwählt ist, lasse ich es ganz frei und habe wohl acht, daß ich nichts von meiner Persönlichkeit hineinmische. Eine Persönlichkeit, die man seit mehr als einem halben Jahrhundert trägt, ist eine schwere Last. Die göttliche Wohltat der Kunst besteht darin, uns von ihr zu befreien, indem sie uns gestattet, andre Seelen aufzutrinken, uns in andre Existenzen einzuhüllen. Unsre indischen Freunde würden sagen: andre von unsern Existenzen…“

Annette Rivière erlebt ihre erste große Zuneigung und Enttäuschung an ihrer Halbschwester, der kleinen Schneiderin Sylvie, von deren Existenz sie erst nach dem Tode ihres Vaters erfährt und für die in ihr nach an­fänglicher Eifersucht die leidenschaftlichste schwesterliche Liebe ausblüht. Aber Sylvie, ein richtiges Boulevard-Pflänzchen, leichtsinnig und berechnend, schmiegsam und selbständig. Zärtlich und kühl, denkt gar nicht daran, ihr eigenes Dasein mit dem ihrer patrizischen Schwester zu vereinigen, und auch aus eine gelegentliche nette, kleine Perfidie, der großmütigen Annette gegenüber, kommt es ihr nicht an. So sieht sich diese mit ihrer großen Liebes- und Leidensfähigkeit bald wieder allein. Ein Mann tritt in ihren Kreis, sie glaubt ihn zu lieben, aber ihre Klugheit bleibt wach, und sie fühlt, daß es nur ein Strom von Sinnlichkeit ist, der sie zueinander reißt, daß ein wirkliches Zusammenleben mit ihm nicht denkbar ist. Dennoch kommt die Stunde, wo ihr Blut sie überwältigt; sie gibt sich ihm und stößt ihn dann von sich, weil sie spürt, daß er ihrer Seele verderblich wird; sie ruft ihn auch später nicht mehr, da sie fühlt, daß sie Mutter werden wird. Sie will ihr Kind in Freiheit zur Welt bringen und es allein besitzen.

Der Kampf um die soziale Vollwertigkeit der un­verehelichten Mutter mutet in deutschen und skandinavi­schen Ländern nicht mehr so neu und fremdartig an wie in romanischen, wo sich das junge Mädchen vom Schlage Fräulein Elses weit länger konserviert hat. Wir ahnen schon, daß Annette durch alle Demütigungen hin­durchgehen muß, welche die Gesellschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für Menschen übrig hatte, die gegen bestehende Sittengesetze anrennen. Der Kampf wird härter, da Annette ihre materielle Sorglosigkeit einbüßt, welche sie vom Urteil ihrer Mitmenschen unab­hängig machte; nun erst beginnt der ergreifendste Teil des Werkes. Jetzt erst lernt Annette den erbittertsten Krieg kennen, der je geführt wurde: den der Arbeitenden gegen die  Arbeitenden, die Konkurrenz, das Weg­schnappen des kleinsten Stückchens Brot. Nun lernt sie begreifen, daß Gedanken, Gefühle, Weltanschauungen ein Luxus sind, nur dem erreichbar, der weiß, daß er morgen zu essen haben wird. Sehr drollig steht nun im Gegensatz zu ihr ihre Schwester Sylvie, die als Besitzerin eines gut gehenden Schneiderateliers. bürgerlich ge­worden, solide verheiratet und Annette somit in jeder Weise überlegen ist.

Sie kämpft für ihr Kind, aber auch um das Kind: denn dieses kleine Geschöpf, das sie den ganzen Tag andern Leuten überlassen muß, um seinen Unterhalt zu verdienen, empfindet die Zärtlichkeitskatarakte, mit denen es abends von der heimkehrenden Mutter über­schüttet wird, als durchaus unangenehm. Was zum Teufel will diese fremde exaltierte Frau? Im Schneideratelier der Tante Sylvie, wo es als Hauskatze der munteren Nähmädchen herumläuft, ist es viel netter. Mit unbarm­herzigen Augen sieht es seine Mutter an, sieht alle ihre seelischen und physischen Schwächen. Dieses Kind, für das sie alles hingegeben hat, liebt sie kaum; mindestens hat es andre lieber. Noch will die verzauberte Seele es nicht wahrhaben; langsam muß sie es begreifen lernen.

Vor der Liebe hat sie Angst. Wer seine Kräfte für den Lebenskampf braucht, darf sich nicht verlieren. Der schöne, gesunde Körper der blühenden Frau will sein Recht, aber sie kennt sich und hat Furcht vor sich selbst. Dennoch kommt die Liebe; sie kommt, wie es bei einer starken Frau fast selbstverständlich ist, in Gestalt eines schwachen Mannes, der sich in ihre Kraft verliebt und den sie doch erschreckt. Wie traurig, zu wissen, daß man den Geliebten um Haupteslänge überragt! Es ist ein trostloses Hin- und Herzerren, dem sie endlich ein Ende macht. Ihr ganzes Leben ist ein Kampf um ihre Seelen­kraft, die jeder, der in ihre Nähe kommt, zerbrechen will. Und sie braucht sie doch so nötig. Häusliches Ungemach bricht über sie herein, nichtssagend bei Leuten, welche Geld haben, zerschmetternd bei solchen, die mit jedem Groschen rechnen müssen. Sie entzweit sich mit der in sorglosen Verhältnissen lebenden Schwester und steht nun ganz allein, mesquinen Sorgen preisgegeben, wissend, daß ihr heranwachsendes Kind den ganzen Tag unbehütet und allein bleibt. Mit der Hand des Meisters legt Rolland die Seele dieses einsamen kleinen Jungen bloß, des verbitterten, grübelnden, frühreifen Kindes, das seiner Mutter beobachtend, kritisch, kühl gegenübersteht. Er gehört nicht in die bürgerliche Gesellschaft, er gehört nirgends hin. Er ist stolz darauf, daß diese Frau ihn nicht kennt, die äußerlich ihm gegenüber alle Rechte hat und die ihn doch nie besitzen wird. Der ewige tragische Kampf der zwei Generationen hebt an: doppelt tragisch da, wo die Mutter dem Kinde alles geopfert hat.

Noch ein letztes Mal, da Annette schon fast an der Schwelle des Alters steht, kommt die Liebe: diesmal als Elementarkraft, gegen die keine andre Gewalt nützt. Der Mann, ein berühmter und gewissenloser Chirurg, der von unten kommt und den Lebenskampf noch besser kennt als sie, zerbricht sie beinahe. Sie muß durch alle Höllenstrafen durch, welche die Liebe einer freien Frau zu einem verheirateten Manne mit sich bringt, und als sie sich endlich befreit, scheint ihr nur der Tod zu bleiben. Da geschieht das Wunder: die verstümmelte, geknickte, verzauberte Seele findet sich noch einmal. Noch einmal kommt ihr die Kraft, stark zu werden, sich zu reinigen und zu erheben. Irgendwo kritzelt sie dann ein wunder­volles Gedicht hin — ein seltener lyrischer Ausbruch bei Rolland —, ein Gedicht der weiblichen Demut:

„Du kamst — deine Hand erfaßt mich —, ich küsse deine Hand,
Mit Liebe, mit Entsetzen küß‘ ich deine Hand.
Du warst mich zu vernichten, Liebe, mir gesandt.
Ich weiß es wohl — schlag zu! —, ich küsse deine Hand.“

Die verzauberte Seele ist gerettet. Sie weiß nicht, daß ihr Sohn zu gleicher Zeit seine schmerzliche Liebeskrise überwindet — wann wissen Menschen, die eng zu­sammen leben, jemals voneinander? Sie selbst hat den Weg zur Einheit mit sich gefunden und ahnt noch nicht, welche Schrecken sich über ihrem Haupte zusammenziehen, daß der Krieg auf dem Wege ist, der ihr das mühsam gezimmerte Asyl über dem Kopf zertrümmern wird.

Der letzte Band wird erst in einigen Jahren er­scheinen, und er wird vermutlich den Leiden der Frau im Kriege gehören. Die gütigsten Menschenaugen, die je geblickt haben, werden auf der namenlosen Pein der Seelen und den erniedrigendsten Quälereien des Alltags mit dem gleichen grenzenlosen Mitleid ruhen, und unter ihrem Blick wird sich ein Bild des Frauenlebens formen, wie es kaum je erschöpfender gestaltet worden ist. Wer Menschenleid so verstehen kann, ist ein guter Mensch; wer es so gestaltet, ein Künstler.

In: Neues Wiener Tagblatt, 24.12.1924, S. 2-3.