Richard Specht: Romansymphonie der ewigen Liebe.

Richard Specht: Romansymphonie der ewigen Liebe (1929)

Werfels Barbara oder die Frömmigkeit.

Über diese Zeilen hätte ich auch den Titel setzen können: „Roman des Vierteljahrhunderts.“ Oder: „Roman des Krieges.“ Oder: „Roman des Umsturzes.“

Oder ganz einfach: „Roman Oesterreichs.“ All dies ist in Werfels bedeutendem Buch enthalten. Aber so un­erhört unmittelbar das Geschehen an uns herantritt, so mächtig die Fülle großen, gemeinsamen und ergreifenden Einzelschicksals, das all die fast unheimlich gegenwärtigen, heiß durchbluteten Gestalten einer Weltwende über­wölkt, in ihrer leidenschaftlichen Einprägsamkeit über­wältigt, so schauerlich gewaltig die Kriegszeit in all ihren entsetzlichen, unbegreiflichen und oft auch rührenden und heiteren Erscheinungen bis zu atem­losem Miterleben hingestellt, die Ratlosigkeit der jungen Generation, die Übergriffe und der frivole Machtwahn der Führenden und mehr noch der subalternen Frechheit gezeigt wird — es ist ein Mehr da, und dieses Mehr entscheidet. Manche werden es vielleicht in  einem Protest gegen mörderisch vereisenden Intellektualismus dieses Jahrhundertbeginnes sehen wollen, und sicherlich ist dieses mächtig packende, monumental gestaltende Buch auch so zu ver­stehen. Trotzdem: mir will scheinen, daß der Dichter auch hier der gleiche ist, wie in all den Werken, in denen ein Gottsuchender und Sinnsuchender dem Verhältnis des Menschen zu den höheren Mächten nachspürt…, und zumal des von Ahnung und Sehnsucht angerührten Menschen mitten in einer immer mehr entgötterten Welt. Die innere Schau, die Franz Werfel von je eigen war und der sich diesmal der bildnerische Blick eines für die Sichtbarkeiten des äußeren Daseins geschärften Auges gesellt, der das  Gleichgewicht der Darstellung bedingt, ist hier eindrucksvoll gesteigert. Wie nie zuvor ist er für alles Geheimnis des Letzenden hellsichtig und hellhörig. Er gräbt das Ver­borgenste der Menschen und des Geschehens aus, und alles wird ihm zum Abbild des großen Schöpfungsplanes. In diesem Sinne ist dieser Roman ein religiöses Buch. Aber unendlich fern von allem Traktatmäßigen, von aller abstrakten Dogmatik und formulierenden Auseinandersetzung. Leben wird gezeigt und nichts als Leben. Aber an diesem Leben, in seinem ganzen Überreichtum an Gestalten und Ereignis, offenbart sich das Mysterium und das Ringen nach seiner Er­kenntnis. Und als dieser Erkenntnis letzter Schluß wird das sichere Gefühl gewonnen, um wieviel wert­voller als der zersetzende Verstand, die hochmütige Geistigkeit der Überlegenen, der machtlüsterne Egoismus der Menschheitsbeglücker, ja wie einzig gültig vor dem Weltgesetz die demütig dienende Einfalt ist. Denn eine alte Kindsfrau, eine jener stillergebenen, liebreich pflichtvollen Erscheinungen, wie sie Werfel, inniger Kindheitseindrücke gedenkend, schon in seinen wundervollen Gedichten im Weltfreund und in Wir sind gezeichnet hat, gibt dem Roman den Namen, obwohl sie nur in wenigen Momenten des Buches sichtbar wird; freilich in den entscheidenden, wenn sie auch von der Art sind, die sich erst später in ihrer Bedeutsamkeit erschließen. Aber: diese Barbara ist gleichsam die Dominante des Ganzen, und der geflissentlich altväterische zweite Titel „oder: die Frömmigkeit“ verstärkt die Empfindung dieser beherrschenden Anonymität. Im dieser schlichten ungläubig reinen Kinderfrau Barbara und ihrem Pflege­kind, der Offizierswaise Ferdinand, ist — sehr zum Unterschied von den superklug berechnenden, feig die fremde Schwäche mißbrauchenden, überkompensierenden und innerlich brüchigen Typen der Zeit – noch ein Stück blauen Himmels lebendig. Und daß sie schließlich gegen die Meute der Raffenden, der Politischen, der seelisch Ge­scheitertern, der falschen Apostel und der wahrhaften Märtyrer der unabhängigen Gesinnung rechtbehalten, hat Gewicht und Bedeutung. Es weist einen Weg.

Die Geschichte des Lebens, das in die Mitte eines derart großgeschauten Reigens gestellt wird, ist nicht die eines Menschen, der unter Anführungszeichen – „interessant“ ist oder dem Gaben besonderer Art ins Dasein mitgegeben worden sind. Er ist mehr: ein richtiger Mensch. Ein unverbogener, der sich sein inneres Gesetz abhorcht und ihm gehorsam sein will; der sein Leid nicht als persönliche Beleidigung, sein Entbehren nicht als unverdiente Bosheit eines ungerechten Geschicks, die ihm angetane Unbill weniger als die Feindseligkeit kleiner Menschen und eher, wie all seine andern Erfahrungen, als einen Schritt nach vorwärts empfindet, um endlich sich und den Sinn seines Lebens zu finden: durchaus unbewußt und ganz ohne Spin­tisieren nimmt er jede Phase als ein Stück des geheimen Planes hin, dessen Erfüllung nun einmal über ihn ver­hängt ist. Ein früh verwaistes Offizierskind. Der Vater verschlossen und gütig, die Mutter schillernd, weltlustig; sie betrügt ihren Mann, er weist sie aus dem Hause, das Kind behält er. Aber der Kleine hat wenig wahre Beziehung zu beiden; mehr als Vater und Mutter liebt er Babi, die Magd, deren gutes Gesicht sich beim Einschlafen und Erwachen über ihn beugt. Sie betreut ihn; die Mutter kümmert sich um den Buben nur in dekorativen Szenen. Babi sorgt für ihn, sie dient um halben Lohn bei der geizigen Tante, um bei ihm bleiben zu können, wacht über den Schlaf des typhuskranken Jungen, wie sie es nach Jahren am Bett des Kriegsverwundeten; in der gleichen, schweigsamen, unnahbaren Würde ihres erdnahen Wesens tun wird… es hilft nichts, sie müssen sich trennen und sehen einander nur mehr bei Sonntagsbesuchen – und späterhin in ihrem Leben nur zweimal wieder; Briefe und Karten müssen zunächst über das Fernsein hinweghelfen, und auch sie werden schließlich immer seltener. Barbara erweist ihre Pflichttreue, in der aber nur mehr mechanisch treibende Kräfte sind, auf mancherlei Dienstplätzen; erst im Alter übersiedelt sie in ihre Heimat, auch bei den Ihren un-// ermüdlich alle Arbeit aus sich nehmend. Der kleine Ferdinand muß zunächst ins militärische Erziehungsinstitut; dort schon erwartet ihn der ewige Widersacher, sein typischer Gegenspieler, der aufgeblasene, frech, ohne innere Berechtigung überlegene, ohne eigenen Vorteil niederträchtige, sadistisch dünkelhafte Vertreter der „selbstlosen Gemeinheit“ (Schnitzler nennt diese Sorte so): er wird Ferdinand im Kriege in Todesnot jagen, so wie er jetzt schon durch perfide Bosheit den Knaben aus der Militärschule forttreibt und es dadurch verschuldet, daß der Wehrlose als Alumne im Priesterseminar unter­gebracht wird. Von dort wird er durch einen bis zur Paradoxie scharfsinnigen, ruhelos vom Geist gepeitschten Freund, einen vom Christusgedanken angerührten Juden, der doch unfähig ist, seiner Idee auch zu leben und der (nach Jahren) auch pünktlich im Irrenhaus endet, befreit: der ermöglicht ihm das ersehnte Studium der Medizin, wird aber nach einem Jahre von den ihm aufsässigen, seinem anspruchsvoll geistigen Wesen ver­ständnislos gegenüberstehenden Brüdern auf Pflichtteil gesetzt…, und nun droht für Ferdinand das Hunger­leben des nur durch Lektionengeben vor dem Schlimmsten bewahrten Studenten. Der Krieg erlöst ihn aus dieser Armseligkeit. Schwer verwundet – er ist durch die heimtückische Rache jenes Urfeindes auf einen Punkt transferiert worden, der von den Russen und von der eigenen Artillerie beschossen wird – kommt er ins Spital von Lemberg; dort schläft er sich unter den milden, treuen Augen seiner „Babi“ gesund, der liebreichen Schlafhüterin, die heimlich ihren Dienst aufgegeben hat und drei Tage und drei Nächte gereist ist, um ihrem „jungen Herrn“, der ihr immer noch „Du“ und dem sie immer noch „Er“ sagt, dem Tode abzuringen.

Ein neues Lebensfragment (mit diesem Wort überschreibt Werfel die vier Teile seines Meisterromans): die Tage des Umsturzes, die Ferdinand, in dessen Daseinsentwurf Frauen und Erotik kaum vorzukommen scheinen, in unmittelbarer Nähe im Kreise der eigentlichen Regisseure dieses Sturmdramas erlebt und in denen eine verwirrende Fülle von echten und verlogenen, geistig hohen und schwindelhaften, duldenden und prahlerischen, aufgereizt intensiven Menschen in sein Leben einbricht. All dies und ebenso die Überwirklichkeit der Kriegszeit hat brennende Wahrheits­farbe; kein Wunder, denn der Dichter ist selbst durch die Hölle und das Fegefeuer jener Zeiten geschleift worden. Nach der Sturzflut nimmt Ferdinand sein medizinisches Studium wieder auf; ein paar Jahre nachher wird er­ zum Doktor promoviert, und nun hält ihn nichts länger: er muß zu Barbara, von der er so lange nichts gehört hat, daß er nicht einmal weiß, ob sie noch lebt. Aber sie lebt; die Gealterte lehnt ihre zusammen­geschrumpfte, liebe Gestalt an ihren jungen Herrn, in wortloser Freude und ein wenig bestürzt, weil sie doch so gar nichts vorbereitet hat; aber bevor sie sich zum Bereiten seiner Lieblingsspeise anschickt, übergibt sie ihm ein Beutelchen mit Goldmünzen, die sie sich einzig für ihn mühselig von ihrem kargen Lohn abgespart und aufgehoben hat. Erschüttert nimmt er den neuen, den wunderbar rein gegebenen und empfangenen Beweis dieser fast mystischen Liebe entgegen. Aber nun treibt es ihn wortlos fort; nur in einem innigen Brief nimmt er von seiner zweiten, seiner wahren Mutter Abschied. Und in einer Nacht, er ist längst als Schiffs­arzt auf einem Luxusdampfer unterwegs, weiß er plötz­lich mit der Bestimmtheit einer Botschaft, daß Barbara eben gestorben ist. Da holt er den Beutel mit Gold hervor, den er nur um weniges, nur in der äußersten Not anzutasten gewagt hat und streut die blitzenden Münzen ins Meer: es „ruht von Stund‘ an in der Tiefe der Welt. Der Honig der heiligen Arbeitsbiene ist für ewig geschützt und dem entweihenden Kreislauf entzogen“.

In dieses weitmaschige Lebensnetz ist ein Inhalt von höchstem Reichtum, ist diese ganze Zeit mit ihren Menschen und ihren geistigen Triebkräften eingegangen. Szenen sind da, die nicht vergessen werden können: Ferdinands letzter Besuch bei Barbara und in dem Wallfahrtsdorf, in dem er als Kind war und in dem jetzt das Erleben von damals in geheimnisvollem Sinn aufsteht; die der schlafhütenden Kinderfrau; die scharf geschaute, bis zum Riechen eindringliche auf dem Provinzbahnhof; von der grauenvoll packenden und befreienden nicht zu reden, in der Ferdinand, durch den dreisten und bösartigen Machtdünkel seines „ewigen Gegners“ zum Exekutionskommandanten bei der Er­schießung dreier unschuldiger, wegen „erwiesener Ab­sicht des Überlaufens zum Feinde“ ohne Gericht ver­urteilter junger Menschen nach vergeblichem Protest (auch dies eine ergreifende Szene!) mit ihnen zur Hin­richtungsstätte marschiert und plötzlich, wie von einer Gewalt höherer Art getrieben, statt „Feuer“ kom­mandiert: „Schultert!“und die Drei anschreit: „Lauf­schritt! Abfahren! Rettet euch!“— und für diese Tat auf einen Todesposten verschickt wird. Und ganz einfach ist das geschrieben; nichts Auf­gedunsenes, kein hypertrophisches Wort, kein falscher oder zu hoch gegriffener Ton. Werfel hat eine Reife des Stils erreicht, die ihn den ersten Prosaisten der deutschen Dichtung gesellt. Daß allerdings auch in diesem Buch Eigentümlichkeiten auffallen, braucht nicht verschwiegen zu werden: die seltsame Anonymität des Helden zum Beispiel, der auch, wiederum etwas altväterisch, nur Ferdinand R. genannt wird, während alle andern ihre vollen Namen tragen, und der auch in seiner äußeren Gestalt gewissermaßen anonym bleibt: man „sieht“ ihn nicht, hat keine Vorstellung von seiner Körperlichkeit, im Gegensatz zu der Meisterporträtierung aller übrigen. Oder die Bemerkungen des Autors selbst, der direkt das Wort zu manchem Problem ergreift und dadurch manchmal didaktisch wirkt, statt all das in Gestaltung aufzulösen. Aber: es sind eben die Eigen­heiten eines Dichters, die man hinzunehmen hat; sie gehören zu seiner Handschrift. Wer sich so verschwendet und in solcher Fülle und Reife steht, hat jedes Recht der Eigenwilligkeit.

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Es ist eines der seltenen Bücher, die reicher machen, zur Selbstschau zwingen und zur Rechenschaft auffordern. Durch dieses Werk, in dem der Inhalt eines Vierteljahrhunderts laut wird, in dem zwanzig, dreißig, vierzig Gestalten zu Repräsentanten der Gegenwart werden und all ihre geistigen Komponenten aufzeigen, ist nicht bloß die österreichische Literatur beschenkt worden. Es gehört in die Weltliteratur.

In: Neues Wiener Tagblatt, 30.10.1929, S. 2-3.