Paul Stefan: Zehn Jahre Ravag

P. Stf [Stefan]: Zehn Jahre Ravag (1934)

Radio Wien feiert in diesen Wochen mit berechtigtem Stolz den Ablauf des ersten und wohl entscheidenden Jahrzehnts. Nur wenige Männer waren vor dieser Zeit großzügig genug, nicht verächtlich zu lachen, wenn ihnen die Möglichkeiten drahtloser Übertragung dargelegt wurden. Man muß da sogleich den Generaldirektor Czeija nennen, der nicht nur an diese Möglichkeit geglaubt, sondern auch Geld an seinen mutigen Glauben gewendet hat – und längst ist es so weit, daß die Ravag wohl in kapitalistischer Hinsicht ein „Geschäft“ darstellt, aber auch in gemeinwirtschaftlicher eine Institution, die es dem Bund gestattet, aus ihren Erträgnissen große Subventionen an Theater, Kunstschulen und Künstler zu gewähren.

Erst war das Radio eine „Konkurrenz“ für die verschiedensten Kunstveranstaltungen, namentlich für Theater und Konzerte – wenigstens wurde das geflissentlich behauptet. Heute wissen, und das seit langem, Theaterdirektoren und Konzertgeber, welche Hilfe ihnen schon rein ideell, bloß propagandistisch das Radio bieten kann. Ein Schauspiel, eine Oper, die durch das Radio übertragen wird, lockt Hunderte und Tausende in das Theater, statt sie daraus zu vertreiben. Die ganze Kunst- und Kulturpolitik hat durch den neuen Faktor Radio eine große Wendung genommen und ungeahnte Chancen angesammelt, zunächst auf Vorrat: sie sind noch keineswegs ausgenützt. Voraussetzung alles dessen war natürlich die Vervollkommnung der Technik. Anfangs war es schlechthin unmöglich, eine Oper oder Streicher-Kammermusik, ja auch nur Gesang mit Klavier zu übertragen und ein Theaterstück in drahtloser Wiedergabe anzuhören, schien eine Zumutung. Heute gelingt das alles so gut, daß man oft den Wunsch hat, auf alles Sichtbare zu verzichten und sich durch nichts von dem zu Hörenden ablenken zu lassen.

In: Die Stunde, 29.9. 1934, S. 5.