N.N.: Der Geburtstag der Republik

N.N. (Leitartikel): Der Geburtstag der Republik (1918)

             Deutschösterreich ist seit gestern Republik und ein Teil des großen Deutschen Reiches.  Damit verläßt unsre Geschichte ihren alten Weg und kehrt zurück zu jenen Jahren des bürgerlichen Freiheitskampfes, da der beste Teil der deutschen Nation ein geeintes und demokratisches Deutschland erstrebte. Die deutsche Freiheitssehnsucht ist blutig erstickt worden durch die Gegenrevolution der alten Mächte und mußte siebzig Jahre schweigen. Aber auch der Traum von dem Deutschen Reich, das alle Stämme der Nation umfassen sollte, schien für immer versunken. Nachdem Preußen die Geschicke Norddeutschlands in die Hand genommen hatte, verlor Österreich im Kampfe um die Vorherrschaft jeden Anspruch auf ein Führeramt und auch jeden inneren Zusammehang mit Deutschland. Es schlug seinen eigenen Weg ein, während das neue Deutsche Reich zehn Millionen deutscher Volksgenossen preisgab. Mit diesem Schicksal, das zwei Kriege und der Wille Bismarcks so gestaltet hatten, fanden sich sowohl die Deutschen des Reiches wie Deutschösterreich ab; es schien für alle Zeiten unabänderlich zu sein. Erst der Krieg und seine jähre Wendung, die das alte Österreich auseinanderriß, haben das deutsche Volk in Österreich vor die unerbittliche Frage gestellt, entweder unter slawische Oberhoheit zu geraten oder kraft der Selbstbestimmung sich eine neue Zukunft zu zimmern.

             Der gestrige Tag hat die Entscheidung gebracht: der Beschlußantrag des Staatsrates, Deutschösterreich als demokratische Republik und als einen Teil der Deutschen Republik zu erklären, ist von der Nationalversammlung einstimmig angenommen und unter dem Jubel einer vieltausendköpfigen Menschenmenge verkündet worden. Der Kanzler unsres neuen Staates Dr. Karl Renner hat in seiner gestrigen Rede mit überzeugenden Worten die Notwendigkeit dieses Entschlusses dargetan, er hat bewiesen, daß die Deutschen Österreichs gar keinen andern Weg hatten als den natürlichen Pfad, der sie zu ihrer Mutter, dem großen deutschen Volk, zurückführte, zumal da die Tschechen in Überspannung des Machtgefühles jede Verhandlung an die Voraussetzung knüpften, daß deutsches Gebiet ihnen überantwortet werde. Dr. Renner hat in einem lauten Bekenntnis davor gewarnt, das Recht der Deutschen auf den vollen Umfang ihres Siedlungsgebietes und auf die Freiheit ihrer Entschließung verkümmern zu wollen. Nur das Schwert eines fremden Siegers, das alle Rechte mißachtet, könnte den Deutschen diesen Weg verlegen und dies auch nur vorübergehend, denn so groß ist keine Macht, daß sie heute noch die zur Freiheit und Selbstbestimmung erwachte deutsche Nation dauernd unter fremdes Joch beugen könnte.

             Die neugeschaffene deutschösterreichische Republik ist nur möglich und entwicklungsfähige, wenn die drei werteschaffenden Klassen, Bürger, Arbeiter und Bauern, zusammenstehen und sich gegenseitig fördern. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch des alten Staates und unsrer Wirtschaft wird es des gesammelten Aufgebotes aller Kräfte bedürfen, um die Not dieser Zeit zu überwinden und dem neuen Gebilde eine sichere Grundlage zu leihen. Es ist zu hoffen, daß durch den Anschluß an das Deutsche Reich auch zu uns ein Teil jenes Stromes von unversiegbarer Arbeitskraft und unüberwindlicher Energie herüberkommt, der Deutschland groß gemacht hat und das beste Unterpfand für seine neue Zukunft ist. Aber zu ehedem ist erforderlich, daß sich die Wiedergeburt Deutschösterreichs im Rahmen der großen Deutschland in Ruhe und Ordnung und ohne gewaltsame  Eingriffe in den Gang der Geschichte vollzieht.

             Der erfreuliche Ordnungssinn, den die großen Massen des arbeitenden Volkes gestern bewiesen, ihre anerkennenswerte Disziplin und ihr reifes Verständnis für die Größe der Stunde geben uns Gewähr dafür, daß wir von den kommenden Tagen nichts zu befürchten haben. Aber ein dunkler Schatten fiel auf die hehre Feier des gestrigen Tages, ein Schatten auf die Geburt der Republik. Die unverantwortliche Szene vor dem Parlament, der Versuch ungezügelter Elemente, sich dem Willen des gesamten Volkes entgegenzustellen und mit einem unklaren, gewalttätigen Experiment die neugeschaffene Macht des jungen Staates zu terrorisieren, hat gestern Blut fließen lassen, die große Feier ernsthaft gestört, und wenn auch nur für wenige Stunden, so doch in häßlicher Weise das Gespenst der Anarchie erstehen lassen. Hoffen wir, daß der Vorfall eine düstere Episode bleibe. Wäre er von Vorbedeutung für den weiteren Gang der Dinge, so müßte man mit lebhafter Sorge in die Zukunft blicken. Macaulay stellte der großen englischen Revolution das Zeugnis aus, sie sei das Muster aller Umwälzungen gewesen, da sie „die Existenz jedes einzelnen mit menschlichem Respekt behandelt, die alten Symbole entfernt, aber nicht zerschlagen hat“. Noch sind die Beweggründe, die gestern eine Gruppe unreifer Elemente veranlaßt haben, auf das Volkshaus zu schießen und unter der Menge eine Panik anzurichten, nicht völlig aufgeklärt, aber der Vorfall, der den sonst schönen Tag befleckte, legt der Regierung die ernsthafte Pflicht auf, die Ordnung, deren der neue Staat bedarf, von keiner Seite gefährden zu lassen. Es darf nicht gestattet sein, daß in die Freiheit der Republik der Schrecken der Anarchie einzieht; es darf auch nicht sein, daß das Bild der demokratischen Republik durch die Fratzengestalt hemmungsloser Fanatiker verunstaltet wird. Den Versuch, auf sehr abruzzenhafte Art eine große Tageszeitung in die Hände zu bekommen, haben die Urheber dieser Tat bald wieder aufgegeben; aber die Regierung wird gut daran tun, sehr deutlich zu beweisen, daß der Respekt vor der Äußerung jeder freien Meinung zu den unveräußerlichen Rechten eines wirklichen Volksstaates gehört. Die wahre Freiheit besteht nicht darin, daß alle dasselbe Lied singen,// sondern in der Möglichkeit, jede Meinung äußern zu dürfen. „Rasche Mitläufer“ siegreicher Anschauungen hat es immer gegeben; sie sind oft die ersten, die wieder untreu werden. Es sind nicht die schlechtesten Elemente, die ihre Überzeugung wahren, und Achtung wird auch genießen müssen, wer nicht allem, was er heute hört, sofort begeistert zustimmt, sondern seinem eigenen unabhängigen Urteil vertraut. Eines aber darf und muß man von allen gleichmäßig fordern: Unterordnung unter das Gesetz und Zusammenwirken zum gemeinsamen Wohl. Gewaltanwendung und Beugung des Rechtes des einzelnen sind um so weniger notwendig, als diese Umwälzung sich ohne Widerstand der alten Mächte vollzogen hat, die kampflos das Feld räumten.

             Der neue Staat, das republikanische Österreich, will uns von vielem befreien, was dem alten Reich als Überbleibsel aus alten Zeiten anhaftete. Doch ein selbstbewußtes Volk, würdig der großen deutschen Nation, können wir nur werden, wenn der gestern verkündete neue Staat jedem die volle Freiheit des Gedankens und die ganze Entfaltung seiner natürlichen Kräfte beläßt. Unser neues Vaterland, das heute aus tausend Wunden blutet, wird gesunden und erstarken im Zeichen der Ideen, die der Aufruf der provisorischen Nationalversammlung verkündet: Vertrauen und Eintracht, Selbstzucht und Gemeinsinn.

In: Neues Wiener Tagblatt, 13.11.1918, S. 1-2.