N.N.: Die Wehen der neuen Zeit (1918)
N.N.: Die Wehen der neuen Zeit
Der werdende deutschösterreichische Staat steht vor ungeheuren, vor unlösbaren Problemen. Die schwersten von ihnen gehen aus der Auflösung der Armee hervor. Eine Armee von Millionen Menschen ist in Italien und Tirol gestanden. Diese Armee rasch nach Hause zu befördern, sie auf dem Transport in die Heimat zu verpflegen, die Verbreitung von Seuchen durch die heimkehrenden Krieger zu verhindern, den abrüstenden Soldaten Arbeit, Brot, Wohnungen zu // beschaffen, das wäre auch in ruhigen Zeiten, auch bei ordnungs- und planmäßiger Demobilisierung eine überaus schwere Aufgabe gewesen. Aber unter den jetzigen Umständen ist eine planmäßige Demobilisierung gar nicht möglich. Die Verbände haben sich aufgelöst, die einzelnen Truppenkörper fluten in wirrer Unordnung, in wilder Hast zurück. Sie wollen nach Hause, wollen nicht warten. Aber so schnell wie die Ungeduld der Soldaten es möchte, können sie nicht in die Heimat befördert werden; dazu gibt es bei weitem nicht genug Waggons und Lokomotiven. Daher stauen sich im Süden ungeheure Menschenmassen auf engem Raume. Aber für solche Massen gibt es nicht genug Verpflegung, nicht genug Quartiere, nicht genug Spitäler. Die Soldaten, hungernd, frierend, krank, erbittert, stürzen sich auf die Landbevölkerung, um sich nur Nahrung für den hungrigen Magen und ein schützendes Obdach zu beschaffen. Sie dringen, auf solche Weise „vom Land lebend“ immer weiter in den Norden. Es ist ein Bild ungeheuren Elends, furchtbarster Verwüstung. Da Abhilfe zu schaffen, so gut es eben geht, Eisenbahnwagen, Verpflegung und Heilmittel nach dem Süden schaffen, ist jetzt die dringende Aufgabe der neuen Regierungen.
Aber diese Aufgabe wird überaus erschwert dadurch, daß die Beziehungen zwischen den neuen Staaten noch ganz ungeregelt sind. So hat zum Beispiel der tschechische Staat nur die Ausfuhr, sondern auch die Durchfuhr vieler wichtiger Waren gesperrt. Daher fehlt es nicht nur an Lebensmitteln für die drängenden Soldatenmassen, sondern auch an Kohlen für die Eisenbahnen, die sie befördern sollen. Der ungarische Staat schickt Eisenbahngarnituren, die Soldaten nach Ungarn gebracht haben, nicht wieder zurück; dadurch wird der Mangel an Eisenbahnmaterial immer empfindlicher. Nur durch Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den neuen Nationalstaaten können solche Schwierigkeiten behoben werden; aber Verhandlungen werden wieder durch die Störungen des Eisenbahn-, Telegraphen- und Telephonverkehrs überaus erschwert.
Dieselben Ursachen erschweren aber auch die Versorgung des Hinterlandes mit Lebensmitteln. In dieser Beziehung ist Deutschösterreich am schlimmsten daran. Ohne ungarisches Getreide, böhmischen Zucker, galizische Kartoffeln kann es nicht leben, ohne Kohle, die über tschechisches Gebiet zugeführt werden muß, nicht arbeiten. In den letzten Tagen stockt die Milchzufuhr aus Mähren; aber wenn wir für Kinder, Kranke, stillende Mütter keine Milch mehr bekommen, gehen Tausende Menschen zugrunde. Da gilt es nun, mit den anderen Nationen zu verhandeln. Aber die anderen Nationen haben danach kein so starkes Bedürfnis wie wir. Sie haben im eigenen Lande mehr Lebensmittel als wir; brauchen also nicht unsere Hilfe. Aber auch sie sind keineswegs reichlich versorgt; sind daher nicht sehr begierig, uns zu helfen. So sind die Verhandlungen überaus schwer; und sie werden noch dadurch kompliziert und verzögert, daß die anderen Nationen nationale Grenzfragen und politische Streitfragen in die Verhandlungen hineinziehen.
Man muß diese Tatsachen kennen, um wenigstens eine Ahnung zu haben, welche geradezu unlösbare Aufgabe der neuen deutschösterreichischen Regierung gestellt ist. Diejenigen, denen der neue Staat nicht schnell genug wird und wirkt, haben wohl kaum eine Ahnung davon, welche endlosen Verhandlungen, welche Mühen und Anstrengungen es erfordert, um auch nur die notdürftige Vorsorge für den morgigen Tag, für den Abtransport wenigstens eines Teiles der im Süden angehäuften Soldatenmassen und für die Sicherung auch nur der dürftigsten Nahrung für das Volk im Hinterland zu treffen. Mit einer fliehenden Armee im Rücken und mit sich neubildenden, sich feindlich absperrenden Staaten vor sich einen ganz neuen Staat aufzubauen, eine ganz neue Verwaltung einzurichten, ist eben eine Aufgabe, wie sie wohl noch nie einem Lande gestellt war. Und dabei hängt an der Lösung dieser Aufgabe unsere ganze Zukunft. Denn wenn es nicht gelingt, die Überflutung unseres Landes durch die vom Süden her in chaotischer Unordnung heimwärts eilenden Soldaten zu verhindert, dem Volke im Hinterland sein tägliches Brot, den Fabriken die Zufuhr der Kohle und der Rohstoffe zu sichern, dann können wir Hungerrevolten und Verzweiflungsausbrüchen nicht entgehen. Aber Unruhen würden heute nicht die Revolution bedeuten, sondern die Okkupation. Die Entente hat sich im Waffenstillstandsvertrag das Recht gesichert, jede Stadt in ganz Österreich-Ungarn zu besetzen. Wenn wir die Ordnung im Lande nicht aufrecht erhalten können, dann wird sie von diesem Rechte Gebrauch machen. Und wenn die Entente unsere deutschen Länder in Österreich besetzt, dann ist es mit unserer jungen Freiheit vorbei. Die Befehlshaber der okkupierenden Armeen werden uns dann unsere staatliche Ordnung diktieren!
So wird der neue Staat unter unbeschreiblichen Schwierigkeiten und Gefahren. Aber er wird und wächst trotz alledem. Heute hat die neue Regierung ihre ersten Verordnungen erlassen. Unter den Verordnungen steht nicht der Name des Kaisers, nicht der Name eines vom Kaiser ernannten Ministers; der Staatsekretär für soziale Fürsorge, unser Genosse Hanusch, hat sie auf Grund einer Ermächtigung des von der Nationalversammlung gewählten Staatsrates erlassen. Es sind die ersten Verordnungen in Österreich, die ihren Ursprung allein und ausschließlich in der von der Volksvertretung eingesetzten Vollzugsgewalt haben. Und diese Verordnungen dienen dem Schutze der Arbeiter. Es handelt sich zunächst darum, den Arbeitern, die infolge der Einstellung der Kriegsindustrien arbeitslos werden, Arbeit zu schaffen. Zu diesem Zwecke werden besondere „Industrielle Bezirkskommissionen“ errichtet, die, paritätisch aus Arbeitern und Unternehmern zusammengesetzt, die Arbeitsbeschaffung für die entlassenen Arbeiter organisieren, die Arbeitslosen in die neuen Arbeitsorte befördern, ihre Verpflegung sicherstellen sollen; eine „Zentralausgleichsstelle für die Arbeitsvermittlung“ soll dafür sorgen, daß die Arbeiter planmäßig aus den absterbenden Kriegsindustrien in die neuzubelebenden Friedensindustrien geleitet werden. So wird eine ganz neue große Verwaltungsorganisation geschaffen, die die Hunderttausende Arbeiter, die bisher in den Kriegsindustrien beschäftigt waren, wieder der Friedensarbeit zuführen soll. Gleichzeitig werden aber in den einzelnen Bezirken auch Einigungsämter errichtet, die and die Stelle der Beschwerdekommissionen, welche jetzt mit dem Kriegsleistungsgesetz verschwinden, treten werden. An die Stelle der Offiziere, die die Beschwerdekommissionen geleitet haben, tritt jetzt in jedem Einigungsamt ein Richter und ein vom Staatssekretär für soziale Fürsorge ernannter Beamter. Die Tätigkeit der Einigungsämter wird sich auf alle Industrie-, Bergwerks- und Eisenbahnbetriebe, auch auf Staatsbetriebe erstrecken. Sie sollen zwischen Unternehmern und Arbeitern bei Streitigkeiten über das Arbeitsverhältnis vermitteln. So enthalten diese Verordnungen ein gutes Stück sozialpolitischer Arbeit. Weitere sozialpolitische Verordnungen werden folgen; so solche über die Unterstützung der Arbeitslosen aus Staatsmitteln und über die Wiederherstellung der zu Kriegsbeginn außer Wirksamkeit gesetzten Arbeiterschutzgesetze.
Kleinlich wird man bei dem weiteren Ausbau nicht sein dürfen. Die Demobilisierung wird Riesenmassen auf den Arbeitsmarkt werfen; sie schnell aufzunehmen wird die Industrie nicht imstande sein, denn an Rohstoff und Kohle werden wir noch lange Mangel haben und starke Investitionstätigkeit erschwert die politische Umwälzung. Daher werden in jedem Falle große Massen arbeitslos bleiben; ihnen hinreichende Unterstützung aus Staatsmitteln zu sichern ist unabweisbare Notwendigkeit.
Es ist ein ungeheuer schwerer und schmerzhafter Prozeß, diese Überleitung unseres Lebens aus dem Kriege in den Frieden und aus dem alten Zwangsstaat in die neuen Nationalstaaten. Aber so ungeheuer schwer die Probleme sind, so furchtbar groß die Schwierigkeiten und die Gefahren, so entsetzlich jenes Massenelend drunten im Süden, wo heute unsere Soldaten hungernd und frierend nach Hause streben, und so drohend die Massenarbeitslosigkeit, die die Demobilisierung der Armee und der Industrie erzeugen muß – all dieses Elend und all dieser Jammen sind doch nur die Wehen, in denen eine bessere Zeit geboren wird: die Zeit des Friedens und der Demokratie.