Arnold Höllriegel: Geist und Gesicht des Bolschewismus

A.H.[öllriegel]: Geist und Gesicht des Bolschewismus (1926)

Über die geistigen und künstlerischen Probleme der russischen Revolution ist bei uns noch nicht viel geredet worden. Aber gerade in diesen Tagen hat Westeuropa einige beträchtliche Proben der neurussischen Kunst zu sehen bekommen. Die Gastspielreise der „Habima“ nach dem Westen, noch mehr der große „Potemkin“-Film, von dem man in Berlin und in Wien eben so viel redet, hat bewiesen, daß es tatsächlich so etwas zu geben scheint, wie eine Kunst des Bolschewismus. Es ist zur rechten Zeit ein bemerkenswertes Buch erschienen, das über die geistigen Strebungen des heutigen Rußland die genaueste Auskunft gibt: Geist und Gesicht des Bolschewismus von René Fülöp-Miller (Amalthea-Verlag, Wien). Es ist ein unendlich umfangreiches Buch, eines von jenen, die man leicht „monumental“ nennt, es enthält allein 500 Bilderseiten, darunter viele farbige, und ist eigentlich als eine Generaldarstellung der ganzen russischen Gegenwart gedacht. Indessen scheint es, daß der Autor den Geist des Bolschewismus schärfer erkannt hat, als sein Gesicht; das Buch ist ausgezeichnet, wo es Absichten, Tendenzen, Strömungen schildert; die Ergebnisse, das Zuständliche und Gegenwärtige sind vielleicht mit Absicht ein wenig undeutlicher dargestellt. 

*

Das Buch beginnt mit einer Photographie: Die Masse. Tausend oder zehntausend russische Köpfe auf einer Platte. Wer zählt? Das ist der Held der russischen Revolution, das Objekt ihrer Kunst. 

„Einhundertfünfzig Millionen“, sagt der rote Dichter Majakowski am Eingang seines Hauptwerkes, 

„Einhundertfünfzig Millionen:
Das ist der Name des Dichters dieses Gedichts.
Geschosshagel prasselnd:
Dies ist der Rhythmus. 
Feuerböen geschleudert zickzack, 
Schlagwetter, Tretminen – 
Plätze platzen, 
Haus hüpft an Haus. –
Eine Sprechmaschine bin ich. 
Pflastersteine wirbelten.
Eure Schritte preßten den Böden sich ein
Klirrend, als Buchstaben: 
Einhundertfünfzig Millionen:
Stampft! 
Und also gedruckt war hier diese Ausgabe.“

(Nachdichtung von Johannes R. Becher)

Wladimir Majakowski ist, wie man aus Fülöps Buch erfährt, ein esoterischer Ex-Snob. Vor der Revolution hieß einer seiner Gedichtbände: Majakowski lacht, Majakowski lächelt, Majakowski macht sich lustig. Jetzt macht er sich – unwichtig. Er wie alle Dichter, wie alle Künstler des revolutionären Rußland, kennt nur noch ein Ziel: in der Masse verschwimmen. 

Das sind noch ein paar Verse von Majakowski:

Rück an die Rippen, eisenspitz, die Ellenbogen, 
Knall‘ die Faust dem frackgedrechselten Wohl-
Tätigkeitsherrn dort in die Fresse!
„Den Schlagring aufs Nasenbein!
Tabula ras!
Schleif dein Gebiß,
Beiß dich ein in die Zeit, 
Durchnage die Gitter!…
Neue Antlitze!
Neue Antlitze! Neue Träume! 
Neue Gesänge! Neue Visionen!
Neue Mythen hinschleudern wir, 
Aufzünden wir eine neue Ewigkeit…“

*

Den Kampf gegen „das kleine, rhachitische, von Angst zuckende Ich, geistig verarmt, verwirrt im Dunkel der Widersprüche“ hat schon vor der Revolution der proletarische Dichter Maxim Gorki angekündigt; er ist der Vorläufer, der Johannes des neuen Heilstraums vom „Kollektiven Menschen“, vom „Dividuum“, dem „Massenmenschen“. Diese Masse, als ein Gesamtwesen zu sehen, halb als lebendes Tier, als Tausendfüßler, halb als eine ungeheure Maschine, blieb den nachrevolutionären Theoretikern der bolschewistischen Idee vorbehalten. Fülops Buch ist voll von Zeichnungen und Plakaten, auf denen immer eines versucht wird: eine große Menschenmasse so zu zeichnen, daß ihre Arme und Beine nur noch aussehen wie Hebel, Hämmer oder Greifzangen, ihre Leiber und Köpfe wie Nägel und Schrauben, das ganze Getümmel der Masse wie eine riesige seelenlose Maschinerie. Ein berühmter Zeichner, Krinski, zeichnet fortwährend den „mechanisierten Arbeitsmenschen“ als Fortsetzung und Bestandteil der Maschine. Und wenn die heutige russische Zivilisation die Maschine anbetet – sie wahrhaftig über den Altären entweihter Kirchen erhöht und sie in den Hintergrund der aller Dekoration entblößten Theaterbühnen stellt – dann ist irgendwie immer die kollektive lebendige Maschine gemeint, die menschliche, doch irgendwie entmenschlichte Masse. Statt von einem himmlischen Jerusalem träumt die russische Seele heute von einem immensen irdischen Chicago. Wladimir Majakowski phantasiert: 

Chikago: Stadt,
Auferbaut auf einer Schraube!
Elektro-dynamo-mechanische Stadt!
Spiralförmig – 
Auf einer stählernen Riesenscheibe –
Jeden Stundenschlag
Sich um sich selbst drehend – 
5000 Wolkenkratzer –
Granitene Sonnen!
Die Plätze:
Kilometerhoch in den Himmel galoppieren, 
Menschenmillionenüberkrabbelt,
Aus Stahltrossen geflochten, 
Fliegende Broadways.
An den Wimperspitzen
Klebt knisternd dir 
Elektrisches Licht. . .
Rauchplakate in den Lüften – 
Phosphoreszierende Inschriften!“

(Nachdichtung von Johannes R. Becher) 

So plätschern durch dir Lieder des Durstlandes Arabien die kühlen Wässer des Paradieses: das Rußland von heute seufzt, lechzt nach einer hypertrophischen Technik, eben, weil es nichts dergleichen besitzt. 

*

Diese neue kollektivistische Kunst, Philosophie, Religiosität des herrschenden Bolschewismus meint immer das Volk, die Masse – singt von ihr, betet zu ihr; wird das Gebet erhört? Fülöps Buch läßt die Antwort zweifelhaft erscheinen. Sicherlich ist das Pathos dieses Wollens sehr stark, oft wohl wahrhaft hinreißend. Fülöp-Miller schildert gewisse gewaltige Konzerte, bei denen die Instrumente Fabriksirenen sind und die Dirigenten Männer mit roten Fahnen, die von der Höhe der Fabriksschlote Zeichen geben: 

„Schon im Jahre 1918 wurden in Petersburg und später in Nishnij Nowgorod Versuche mit derartigen Fabrikspfeifensymphonien angestellt; am 7. November 1923 erfolgte in Baku die erste Aufführung großen Stils. An ihr nahmen die Nebelhörner der gesamten Kaspischen Flotte, alle Fabrikssirenen, zwei Batterien Artillerie, einige Infanterieregimenter, eine Maschinengewehrabteilung, etliche Hydroplane und schließlich Chöre teil, bei welchen sämtliche Zuschauer mitwirkten. Die Feier soll sehr eindrucksvoll gewesen sein; es ist nicht zu verwundern, daß diese ‚Musik‘ weit über die Mauern der Stadt Baku hinaus zu vernehmen war. 

Auch in Moskau sind wiederholt Experimente mit Fabrikspfeifensymphonien unternommen worden, ohne daß jedoch besonders erfreuliche Resultate damit erzielt worden wären; einerseits war die Modulationsfähigkeit der verwendeten ‚Instrumente‘ nicht eben groß, anderseits waren die aufgeführten ‚Kompositionen‘ viel zu kompliziert. Obwohl die „Dirigenten“, auf hohen Kommandotürmen postiert, durch Fahnenschwenken das Einsetzender verschiedenen örtlich sehr weit auseinanderliegenden Sirenen und Dampfpfeifen regulierten, war es doch nicht möglich, einen einheitlichen akustischen Eindruck zu erzielen; die Verzerrungen waren derart, daß das Publikum nicht einmal die so bekannte und vertraute ‚Internationale‘ zu erkennen vermochte.“

Die Frage ist nur, ob so viel Wagemut im Erneuern etwa das reaktionäre alte Volkslied aus den Seelen, aus den vielen einzelnen, hoffnungslos unmechanischen Seelen eines ganzen Volkes zu reißen vermag – –

In: Der Tag, 13.6.1926, S. 10.