Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution (1926)
Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution
In den »Erinnerungen an Lenin«, die uns Clara Zetkin übermittelt hat, spricht Lenin auch über die Kunst in Sowjetrußland. Dabei spricht er folgende Sätze aus: „Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen, ist gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, „Hosiannah“ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das „kreuzigt sie“ morgen, all das ist unvermeidlich. Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Wichtig ist nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen, wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln.“
Diese Worte Lenins zeichnen ein Programm vor, das die Oktoberrevolution getreulich durchgeführt hat.
Eine alte russische Sage, eine Byline, erzählt von Ilja Murometz, der dreiunddreißig Jahre auf einem Flecke mit starren Gliedern dasaß, bis eines Tages ein Wanderer ihm einen Trank reichte; von da an erhob sich Ilja, empfand Riesenstärke und vollzog Heldentaten. Wie der märchenhafte Ilja Murometz, so wurde das russische Volk, das jahrhundertelang unter dem Zarismus, starr und gelähmt verblieben war, durch die Oktoberrevolution geweckt und mit ungeahnten Riesenkräften erfüllt. Im politischen Leben nicht allein, in den „Kultur- und Lebensäußerungen“ zeigte der Riese Proletariat, Führer der Massen, seine schöpferische Kraft.
Es gab eine Zeit, wo viele (in ein Verkennen des wahren marxistischen Sinnes der Lehre von der Kultur als dem ideologischen Überbau) glaubten, daß am Tage nach dem Sieg des Proletariats eine neue „proletarische Kultur“ und „proletarische Kunst“ wie Venus aus dem Kopfe des Zeus fix und fertig entspringen würde. Lenin aber hatte stets darauf hingewiesen, daß das proletarische Rußland noch in der allgemeinen Kultur weit hinter der Europas zurückstände. In einem seiner letzten Artikel vor der Erkrankung sagt er wörtlich: „Während wir über ProletkultDie erste Erwähnung des Begriffs Proletkult (PK) im österreichischen Raum erfolgte vermutlich in einem Bericht des Pes... geschwätzt haben, ist das Analphabetentum nicht zurückgegangen.“ Das künstlerische Schaffen der breiten Massen mußte zuerst die materiellen Voraussetzungen für es schaffen. In dem zitierten Gespräch mit Genossin Clara Zetkin sagt Lenin:
„Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es damit in unserem Lande aus? Sie (Clara Z.) schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel … Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur … Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! … Während in Moskau vielleicht heute zehntausende und morgen wieder zehntausende sich an einer glänzenden Aufführung im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem „himmlischen Väterchen“ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.“
(Arbeiterliteratur I-II S. 69 ff.)
In den neun Jahren der Sowjetmacht hat die leninistische Partei am Staatsruder ein großes Stück auf diesem Wege zurückgelegt: Die Kunst zum Volke und das Volk zur Kunst zu bringen. Wenn heute, neben der riesigen Arbeit zur Liquidierung der Unkultur bereits neue Formen der Kunst in den Massen der Werktätigen sich regen, so sind diese nicht in den Köpfen einzelner Genies zu suchen, sondern in den Massen selbst. In den Theateraufführungen der „Dramatischen Zirkel“ in den Arbeiterklubs, in den Kunstateliers der Betriebe, in den Dichtungen von Arbeiter- und Bauernkorrespondeten finden wir bereits neue Ausdrucksformen, die die Keime einer neuen proletarischen Kunst sind. Noch sind diese Formen im Keimzustand, aber sie sind da.
Wenn wir von „Kunst“ reden, meinen wir im allgemeinen nicht die Wurzeln, sondern die Spitzen des Baumes. Was hat die Sowjetunion mit der „alten“ bürgerlichen Kunst getan? Lenin war es, der unaufhörlich die Notwendigkeit der kapitalistischen Erfahrungen für den Aufbau des Sozialismus betonte: „Wir stellen uns nicht anders den Sozialismus vor, als auf Grund aller Lehren der großen kapitalistischen Kultur.“ (Werke Band 15, Seite 244.) Was für den Aufbau der Wirtschaft gilt, trifft auch für den Bau der neuen proletarischen Kunst zu. Die Sowjetmacht hat das Theater, die Malerei, die Dichtung, das ganze Kunstgewerbe, das sie von der alten, von ihr zerschlagenen bürgerlichen Gesellschaft übernommen hat, nicht einfach vernichtet und zum alten Eisen geworfen, sondern hat sie übernommen, sich weiter entwickeln lassen, hat es in den Dienst des Proletariats gestellt und in neue Wege geleitet. So sehen wir, daß das russische Theater unter der Sowjetmacht, an der Spitze der gesamten Europäischen Bühnenkunst marschiert. Wenn das Theater Meyerhold kein proletarisches Theater ist, so steht es in seiner Kunst dem Proletariat doch nahe. Dabei: das Künstlerische Theater „Tairoff“, ja die alte hebräische Bühne „Habima“ – alle diese Kunstbestrebungen würden auch die Zierde jedes bürgerlichen Staates bilden. Sie finden die größtmöglichste Förderung seitens der Arbeiter- und Bauernregierung- sie entfalten sich frei im proletarischen Staate, und wenn sie ihrem Inhalt nach jetzt nicht direkt dem Proletariat dienen, so werden sie als fortschrittlicher Faktor in die Gesamtkultur des Proletariats an der Macht eingehen.
Aus Sowjetrußland kommen bereits die ersten literarischen Werke, die aus dem Schoß der Revolution geboren sind. Es sei hier z.B. auf den Roman von Gladkow „Zement“ hingewiesen, ein Werk der Revolution. Sowjetrußland hat gerade in der Literatur neue Formen aufzuweisen, die nur im proletarischen Staate möglich sind. Außer der proletarischen Presse der Arbeiterkorrespondeten, die in der Sowjetunion einen ausschlaggebenden Faktor des öffentlichen Lebens darstellen, sei noch auf die neue Form der Journalistik hingewiesen, wie sie im Sosnowsky, Kolzow, Soritsch usw. vertreten ist. Das sind die „Feuilletonisten“, die nicht nur „dichten, sondern die zugleich in das soziale Getriebe eingreifen und aktiv mitwirken.
Die russische Revolution hat gezeigt, daß die alte Parole aller „Kultursozialisten“: „Die Kunst dem Volke!“ – verwirklicht werden kann, und zwar nur verwirklicht werden kann – durch die Revolution.