Grete Ujhely: Aus einer russischen Schule.

Grete Ujhely: Aus einer russischen Schule (1928)

Wenn man etwas Gutes von unserer Zeit sagen kann, dann ist es vielleicht das: daß sie den Respekt vor dem Alter ein wenig vermindert hat zugunsten des Respekts vor der Jugend. Es ist noch gar nicht so lange her, seit man nichts Besseres von einem Kinde sagen konnte als: es ist brav, es ist folgsam. Die Kinder wurden nur beurteilt vom Standpunkt der Erwachsenen. Je weniger sie störten, je weniger ihr eigener, ein bißchen anders gearteter Wille zu schaffen machte, desto zufriedener war man mit den Resultaten der Erziehung

Die Menschen — das waren die Erwachsenen. Und die Kindheit nur ein vorübergehendes, durch seine Hilflosigkeit fast ein wenig komisches Stadium, ehe man Erwachsener wurde. Dafür vergoldete man in der Vorstellung dieses Stadium, von dem man wenig wußte, mit viel Unschuldsromantik, paradiesischer Vor-dem-Sündenfall-Glorie.

Das alles hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Ellen Key, Maria Montessori und Alfred Adler sind ein paar Namen, die eng mit dieser Anschauungswandlung verknüpft sind. Das heute schon allgemein geläufige Resultat ist: Gebt den Kindern und Jugendlichen die ihnen gebührenden Minoritätsrechte! Zwingt sie nicht in die Welt der Erwachsenen, laßt ihnen ihre eigene! Haltet sie nicht für Engel, solange sie „brav“ sind, und nicht für „verloren“, wenn es sich herausstellt, daß sie ebenso verlogen und lasterhaft sein können wie wir Erwachsenen. Helft ihnen, wenn ihr klüger seid als sie: nicht durch Autorität, sondern durch Überzeugung und Liebe.

Es ist für den Augenblick natürlich leichter, ein Kind durch Androhung von Strafe — seien es nun Prügel oder das wachsame Auge des lieben Gottes — zu dem zu bringen, was es unserer Meinung nach tun sollte. Ein Kind, ohne daß es etwas davon merkt, auf den richtigen Weg zu führen, das Kind selbst seine Wertmaßstäbe wie alles übrige erarbeiten zu lassen, ist ungleich schwieriger — aber das so Errungene allein ist ein dauerhafter Erfolg. Nur ein Beispiel: Ein Kind, das etwa nur deshalb nicht lügt, weil der liebe Gott das merkt, hat im Augenblick jeden Grund verloren, nicht zu lügen, wo es an der Allwissenheit des lieben Gottes zu zweifeln beginnt.

Überall in der Welt versucht man, diesen neuen Anschauungen in der Erziehung Rechnung zu tragen. Und die Wiener Schulreform ist da ein großer Schritt nach vorwärts. In Rußland, wo man ja auf manchen Gebieten ungehinderter experimentieren kann — weil kein reaktionärer Klerus und keine verzopfte Bürgerlichkeit Einspruch erheben kann —, ist die alte Autoritätsschule in Grund und Boden reformiert worden. Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew gibt ein anschauliches Bild davon, ein Buch, bei dessen Lektüre nicht nur einem Gymnasialprofessor von vor zwanzig Jahren die Haare zu Berge stehen dürften. Vielleicht auch manchem modernen Lehrer, der doch immer noch eine gewisse Dosis Autorität für notwendig hält.

Kostja Rjabzew, der fünfzehnjährige Schreiber des Tagebuches, ist ein frecher, vorlauter, ungemein selbstbewußter Bursche, durchdrungen von der Überzeugung aller jungen Menschen, daß so ziemlich alles, was bis jetzt auf der Welt geschehen ist, schlecht war, und daß er es besser machen wird. Die politische Atmosphäre, in der diese jungen Leute leben, unterstützt diesen Glauben nur, ist nicht seine Ursache. Das Tagebuch reicht über ein Schuljahr, von Herbst bis Herbst, und wir erleben die großen und kleinen Ereignisse in der Schule, wie sie sich im Hirn Kostjas spiegeln. Kostja — so heißt er zwar, aber er selbst findet den Namen überholt. Er beschließt, sich von nun an Wladimir zu nennen, nach Wladimir Lenin. So kindisch wie dieser sehr ernsthaft, erwogene Entschluß einer Namensänderung ist das ganze Tagebuch, aber trotzdem läßt es ahnen, daß aus dem wirren, draufgängerischen, prahlerischen kleinen Bengel ein, ganz prachtvoller Mensch werden wird.

Die Schule, das ist in Rußland zweierlei: erstens die Anleitung zur selbständigen Erarbeitung von Kenntnissen, zweitens ein kleiner Sowjetstaat im Sowjetstaat. Vielleicht überwiegt manchmal die zweite Funktion die erste. Kostja klagt immer wieder, daß er über all seinen politischen Funktionen nicht zum Lernen kommt. Das ist natürlich kein gesunder Zustand. Anderseits bietet die Tätigkeit in der Selbstverwaltung der Schule den Bedürfnissen der jungen Leute nach Wirksamkeit, organisatorischer und rhetorischer Arbeit, praktischer Durchsetzung ihrer Ideen ein ausgezeichnetes Feld. Sie haben es nicht mehr notwendig, Indianerhäuptling und Detektiv zu spielen, da sie in wirklichkeitsnäherer Form Sozialismus spielen können.

Die Herren der Schule sind die Schüler, Buben und Mädel natürlich in Koedukation. Die Lehrer haben nur beratende Stimme. Keine Autorität hilft ihnen mehr. Nur der, dessen Persönlichkeit stark genug ist, sich auch in diesem Gleich-zu-gleich-Verhältnis den Schülern aufzuzwingen, kann in dieser Schule lehren, wirken, führen; der auch ohne den Mantel der Würde diesen respektlosen Halbwüchsigen Respekt vor seiner Menschlichkeit einflößen kann. Ganz indirekt tauchen in der Schilderung Kostjas einige solcher wahrhafter Erzieher auf: Die „lange Sinajda“, die Schulvorsteherin, hinter deren komischer Äußerlichkeit die Schüler sehr wohl den starken Willen und die unendliche Liebe und Opferbereitschaft für die Jugend fühlen; Nikpetosch, der Lehrer, der selbst noch nicht ganz fertig geworden ist mit den Wirren, unter denen die jungen Herzen seiner Schüler leiden, der ihnen deshalb schließlich nicht mehr Führer sein kann, nur Freund.

Wenn in der Schilderung des Schullebens die vielen „Allgemeinen Versammlungen“, „Schülerkomiteesitzungen“, „Sanitäres Komitee“, „Kulturelles Komitee“, „Einigungskommission“, die Wandzeitungen und die Gerichtsverhandlung mit Vorsitzendem, Verteidiger und Staatsanwalt erst ein wenig komisch wirken, so begreift man doch bald, wie die Schüler in fortwährendem Experimentieren dabei verstehen lernen, daß sie sich Gesetze geben und diese selbst gegebenen Gesetze halten müssen. Natürlich gibt es auch Revolutionen — wie etwa die wunderbar kindische Revolution mit der Forderung: wir wollen die Lehrer nicht mehr grüßen. Aber die Revolutionen verlaufen ganz von selbst in dieser beneidenswerten Schule im Sande und gewähren dabei doch eine Freiheit, die das wirkliche Leben leider noch nirgends kennt, am allerwenigsten in Rußland.

Gerechte Gesellschaftsordnung als Voraussetzung für den Bestand dieser Gesellschaft — diese Notwendigkeit lernen die Buben und Mädel so gut, daß sie es nie mehr vergessen können. Früher trat dem Kinde „Ordnung“, „Gesetz“ als Wille von außen entgegen und er regte damit den immer bereiten Auflehnungsgeist der Jugend. Jetzt erarbeitet die junge Generation sich selbst diese Notwendigkeit. Freilich, wenn sie einmal die Schule verlassen wird, werden sie neue unerhörte Schwierigkeiten erwarten: in der Welt, die von den ihnen bis dahin unbekannten wirtschaftlichen Notwendigkeiten regiert wird. Aber es ist wahrscheinlich, daß Kostja Rjabzew und seine Kameraden sich mit diesen Schwierigkeiten noch besser herumzuschlagen verstehen werden als ihre Eltern.

Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew schildert außerdem in einer sehr zarten, dabei aber völlig aufrichtigen Weise die große Not der Pubertät: durch Koedukation und Aufrichtigkeit ist ihr zwar der Stachel des Versteckten, Sündhaften und Heimlichen genommen, aber es bleibt noch genug Verwirrendes und Schweres für die jungen Menschen auf dem weiten Feld der sexuellen Nöte, für die ja auch wir Erwachsenen noch keine eindeutige Lösung gefunden haben. Nicht ohne Rührung lesen wir den Satz, den Kostja mit vielen Stirnfalten der Entschlossenheit und allem Selbstvertrauen der Jugend in sein Tagebuch schreibt: „Irgendeine Lösung der sexuellen Frage muß ich endlich finden.“

Er kann überhaupt gut „große Worte“ machen. Insbesondere das Vokabular des „Kommunistischen Katechismus“ ist ihm geläufig. Ideologisch falsch zum Beispiel verwendet er immer, ob es paßt oder nicht: „Das alles ist antiproletarischer Quatsch.“ — „Nein, neben Mädeln sitzen, das ist etwas für die verseuchte Intelligenz“, konstatiert der kleine „bewußte“ Proletarier.

Trotz allem und gerade wegen seiner offen sichtlichen Kindlichkeiten und Überheblichkeiten gewinnt man diesen Kostja Rjabzew lieb und möchte gern mehr von ihm hören. Und von ihm noch mehr zu erzählen, hat der Autor Nikolai Ognjem versprochen, Nikolai Ognjem, dessen Buch (Verlag der Jugendinternationale, Berlin) so unerhört lebendig ist, daß man seinen hohen künstlerischen Wert über der Neuheit des Inhalts fast vergißt.

In: Arbeiter-Zeitung, 12.2.1928, S. 17.