Paul Friedländer: Drei Bücher Trotzkis

Paul Friedländer: Drei Bücher Trotzkis (1924)

Trotzkis Genialität, seine Tatkraft und zugleich sein erstaunlich weitumspannender Gesichts- und Interessenkreis werden durch drei in rascher Aufeinanderfolge erschienene[n] Bücher (Die Geburt der Roten Armee, Literatur und Revolution, beide im Verlag für Literatur und Politik, und Fragen des Alltagslebens, Verlag Hoym Nachf.) illustriert, die übrigens nur Auszüge aus einigen seiner letzten, in russischer Sprache verfaßten Arbeiten darstellen.

Die Geburt der Roten Armee handelt von der vielleicht gewaltigsten Leistung der russischen Arbeiter und Bauern, an der Trotzki in hervorragendstem Maße beteiligt ist. Das Buch ist eine Sammlung von Reden, Befehlen, Aufrufen und Thesen Trotzkis aus dem Gründungsjahr der Roten Armee.

Die Friedensparole der bolschewistischen Partei Rußlands war es, die den Zersetzungsprozeß in der zaristischen Armee während der Kerenskiperiode beschleunigte, bis der Zerfall dieser Armee da war, der eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Begründung der proletarischen Herrschaft in der Form der Sowjetrepublik war. Der zaristische Militarismus wurde zunächst durch keinerlei Militarismus abgelöst. Freiwillige Arbeiter- und Bauernbataillone übernahmen Verteidigung und Schutz des neugeschaffenen Bollwerks des Weltproletariats.

Eine kurze Zeit war es möglich, daß Sowjetrußland ohne militärische Macht existieren konnte. Der fortdauernde Weltkrieg, in dem die Entente- und Mittelmächte ihre Kriegsmittel und Truppen verbrauchten, gewährten der jungen Sowjetrepublik eine kleine Atempause. Aber Brest-Litowsk — und die darauf folgende „Offensive“ der Deutschen und Österreicher gegen die Ukraine — zeigte deutlich die ungeheure Gefahr, die Sowjetrußland vonseiten des ausländischen Imperialismus drohte. Seine Wehrlosigkeit schien es zur rechten Beute für die Imperialisten aller Schattierungen, insbesondere aber für die aus Rußland entflohenen

blut- und geldgierigen weißen Generäle, hinter denen vor allem Frankreich stand, zu machen. Der Sommer 1918 brachte denn auch den Vormarsch der tschecho-slowakischen Legionäre, die als Werkzeug russischer und französischer reaktionärer Militärs gegen die Diktatur des russischen Proletariats eingesetzt wurden.

Es wurde breitesten Kreisen der Arbeiter und Bauern in Rußland klar, daß sie ihre Herrschaft und ihre Ordnung nur verteidigen konnten, wenn sie sich dem sie auf Tod und Leben bedrohenden konterrevolutionären Militarismus entgegenstellten. Pazifistische Illusionen wären gleichbedeutend mit, der Herbeiführung der wütendsten bis an die Zähne bewaffneten und im Arbeitsblut watenden Reaktion gewesen. Hier gab es keine Wahl. War der Zerfall der zaristischen Armee eine der Grundbedingungen zur Eroberung der proletarischen Macht, so war die Gründung und der rasche Aufbau der Roten Armee die entscheidende Voraussetzung zur Aufrechterhaltung des proletarischen Sieges in Rußland.

Lenin, Trotzki und eine Reihe von Männern, die dies klar erkannten, gingen sofort an die Durchführung des gewaltigen Planes. Trotzki, an die Spitze des Kriegskommissariats und des Komitees zur Vorbereitung einer Roten Armee gestellt, bewies eine Umsicht und Energie, vollführte eine organisatorische und zugleich aufklärende Arbeit, wie sie in der Weltgeschichte ihresgleichen kaum findet. Von diesem gewaltigen Werk, das im Verlauf einiger Monate geleistet wurde, gibt das Buch über Die Geburt der Roten Armee, das in die Hand jedes revolutionären Arbeiters gehört, ein anschauliches Zeugnis.

Die Rote Armee unterscheidet sich fundamental von einer bürgerlichen Armee. Die Soldaten eines Bourgeoisiestaates kämpfen für die Interessen der sie unterdrückenden kapitalistischen Minderheit. Die Soldaten des Proletarierstaates kämpfen für ihre eigenen Interessen. Je unwissender, gefügiger, willenloser die Truppen der kapitalistischen Mächte, umso brauchbarer für deren Zwecke. Je bewußter, zielklarer, willensstärker die roten Truppen umso kampftüchtiger für die Verteidigung der proletarischen Macht. So haben die Führer der russischen Revolution, voran Trotzki, es sich in erster Linie angelegen sein lassen, die der Roten Armee angehörigen Truppen mit revolutionärem Wissen, Bildung, klarem Geist zu erfüllen. Keine Analphabeten in der Roten Armee (Der Zarismus hatte sie in seinem Interesse geradezu gezüchtet.)

Trotzki selbst, der jahrelang an der Spitze der Roten Armee steht, hat allen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Fragen der Sowjetrepublik sein Augenmerk zugewendet und bei ihrer Lösung hervorragend mitgewirkt. Daß er dabei sogar scheinbar weniger bedeutsamen Fragen sein Interesse widmen konnte, wie den Fragen des Alltagslebens und dem Problem der Literartur, ist ein Beweis seiner außerordentlichen Regsamkeit.

Fragen des Alltagslebens ist der Titel des überaus klar und verständlich geschriebenen Buches Trotzkis, das sich mit einigen sehr ernsten Aufgaben in der Epoche der „Kulturarbeit“ beschäftigt. Diese Epoche ist in Sowjetrussland schonangebrochen. Trotzki gibt eine Fülle durchaus gesunder Anregungen, wie diese Aufgaben zu erfüllen sind. Er verfällt nicht in den Fehler der Literatur und gewisser scheinradikaler Kulturpolitiker, abenteuerliche, ausschweifende, den Massen unverständliche Vorschläge zu machen.

„Die Zeitung hat ihre Leser“, lautet ein Kapitel, in dem die Mangelhaftigkeit der proletarischen Presse scharf // gekennzeichnet und den Redakteuren, Korrektoren, Setzern und „Fragen des Alltagslehens“ und dem Problemen der „Literatur“, nach dem Herzen der Masse ist als auch ihrer Fortbildung und ihren Interessen dient, herstellen muß. — Von „Schnaps, Kirche und Kino“ handelt ein anderes Kapitel, in dem auf die noch immer nicht genügend erkannte sozial-kulturelle Bedeutung des Kinos hingewiesen und angedeutet wird, wie man es, ohne den Sensationsbedürfnissen der Masse Abbruch zu tun, im Sinne der Erneuerung der Kultur auswerten müßte. „Das Kino ist eine große Konkurrenz nicht nur der Kneipe, sondern auch der Kirche. Es ist das Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen!“ – Am bedeutsamsten sind die Kapitel über die Krise des Familienlebens, über den Zerfall der alten und dem Übergang zur neuen Familie. Die Revolution des Familienlebens, im innigen Zusammenhang mit der sozialen Revolution, berührt breite Massen noch tiefer und leidenschaftlicher als die für das öffentliche Leben charakteristische politische Revolution. Trotzkis Gedanken über den neuen Weg der Familie, über die Gründung von „Familienwirtschaftskollektiven“ usw. sind der Vertiefung und Konkretisierung würdig. Wie alle diese Fragen des Alltagslebens aus dem innersten und fortwährenden Bedürfnis der proletarischen Männer und Frauen — auch Jugend — gestellt sind, wird aus einem sehr umfangreichen Anhang ersichtlich, in dem das Protokoll von Besprechungen einer Gruppe von 25 Moskauer Parteimassenagitatoren über alltägliche Probleme wiedergegeben wird

Das dritte Buch Trotzkis Literatur und Revolution ist von besonderem Wert für all jene, die für proletarische Kultur und Kunst, insbesondere für revolutionäre Literatur Interesse zeigen. Es zeichnet sich wiederum durch Klarheit, Verständlichkeit und Echtheit aus. Es ist eine sehr bittere, aber gesunde Pille für alle die Leute – sie sind auch außerhalb Sowjetrußlands zahlreich –, die ihren Mangel an Verständnis für die soziale Revolution und für die Aufgaben der proletarischen Diktatur, in der Kultur- und Kunstbewegung ausleben möchten. Dieser oft ehrlichen, oft verlogenen Sorte ist die Masse zum Probierkaninchen gut. Sie glauben häufig, ihre eigene leere und verworrene Geschwätzigkeit bei der Masse gut anbringen zu können.  Trotzkis keineswegs gehässige Kritik gegen all diesen Mitläufern, sowie an den Futuristen ist vollkommen berechtigt. Diese Kritik ist nicht im mindesten spießerisch. Sie weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Es ist doppelt zu begrüßen, daß ein Mann von der Bedeutung Trotzkis mir den Literaten ins Gericht geht. Er spricht dabei das dunkle Empfinden der Masse aus. Auch das Geschrei Majakowskis in seinem vielgepriesenen „150,000,000“ wird in der gebührenden Weise beurteilt. Es ist keineswegs das Poem der Revolution. Trotzki analysiert dieses Poem. Er beurteilt das in manchen ‚Einzelheiten packende Machwerk noch zu milde. „Anstatt des tatsächlichen Titanenkampfes von 150.000.000 ergibt sich die Parodie eines sagenhaften Zirkusmatch.“ „Der Verfasser“ möchte gern „mit dem Sozialismus und der Revolution auf Du und Du sein“. Aber er bleibt „individualistisch, und zwar hauptsächlich im bösen Sinne des Wortes“. – Als ehrlichen revolutionären Proletarierdichter stellt Trotzki den Dichter Demjan Bjedny hin. 

Die Kapitel über proletarisch« Kultur und Kunst, über Revolutionskunst und sozialistische Kunst können diesem Rahmen nicht besprochen werden.“

Dieses Buch Trotzkis bringt eine frische, kräftige Luft in eine verpestete Athmosphäre. Denn nirgendwo hat sich mehr Unrat und Stickigkeit angesammelt, als in den Regionen der

„Kulturbürger“, der Künstler und Literaten.

In: Rote Fahne, 16.5.1924, S. 2-3.