Vicki Baum: Lippenstift und Spitzenwäsche in Rußland
Vicki Baum : Lippenstift und Spitzenwäsche in Rußland (1931)
„Bringen Sie meinen Schwestern Lippenstifte mit“, sagte mir ein russischer Freund, als ich nach Moskau fuhr. „Das ist es, was ihnen am meisten fehlt. Sie wissen: Russinnen – und keine Schminken! Und wenn es geht: Parfüm!“
Ich packte also Lippenstifte und Parfüm ein; man darf davon nach Rußland mitnehmen, so viel man für den eigenen Gebrauch benötigt; das ist ein dehnbarer Begriff und übrigens ist die Grenzkontrolle Ausländern gegenüber sehr höflich und gar nicht kleinlich. In Rußland fand ich dann, daß den Russinnen so ziemlich alles fehlte, aber Lippenstifte – die hatten sie! „Ich habe sechs Stück in meinem Haar eingeschmuggelt“, sagte mir eine kleine Chemiestudentin, die ein paar Schuljahre in Deutschland verlebt hatte. Auch Parfüm hatten sie, Parfüm war sogar eines der ganz wenigen Dinge, die man in Läden zum Verkauf bereit sah. Und geschminkt waren viele von ihnen. Gut geschnittenes Haar hatten die meisten, sie lobten ihre Friseure, und die Aufschrift „Parruckmacherstaja“ ist in russischen Leitern oft genug zu lesen. Bolschewikinnen strenger Observanz schienen mir dem langen Haar und aufgesteckten Knoten zuzuneigen (was übrigens schön zu den breiten, stillen Bauersfrauengesichtern steht, die in Ämtern und Fabriken zu finden sind), farblose Kleidung, strenge Haltung und schlichte Frisur kennzeichnen – so schien es mir – eine bestimmte proletarische Oberschicht, wie sie in Deutschland etwas charakterisieren, das man „Potsdamer Stil“ nennen kann.
Es gibt keine elegante Frau mehr in Rußland; oder doch: eine einzige. Sie ist auch in den europäischen Hauptstädten bekannt: Frau Lunatscharski. Man nimmt es ihr übel genug. Es wäre in diesem Land voll Hunger und Elend auch schlechter Geschmack, sich elegant anzuziehen, selbst wenn es sich eine oder die andere Frau leisten könnte. Auf den Botschaften, diesen europäischen Inseln im uferlosen Moskau, trägt man sich einfach, Wollkleider, Wollstrümpfe. „Sie werden bald einsehen, daß man hier keine Seide trägt“, hörte ich eine Botschafterin zu einer jungen Attachésfrau sagen, die im einfachen schwarzen Seidenkleid zum Lunch gekommen war. Nebenbei: Es gab gekochtes Ochsenfleisch als Hauptgang, und der Botschafter sagte mir: „Wir sind stolz, eine solche Delikatesse aufgetrieben zu haben.“
Die Russin ist von Natur aus „trés femme“, und man mag ihr so viel abstrakte Gedankenpanzer anziehen, das Allesgleichmachen bis auf das Geschlecht ausdehnen (gibt es doch für das Wort „Towarisch“ = „Genosse“ keine weibliche Form) die Frau kommt immer wieder zum Vorschein. Die Theater, in denen man keine angezogene Frau sieht, nur Genossinnen, die tragen was sie eben haben, riechen nach Parfüm. Im „Prophylaktum“, einem Heim zur Besserung von Prostituierten, hatte eine Leiter die Offenheit, mir zu sagen: „Für ein paar Seidenstrümpfe prostituieren sich so viele!“
Wirklich fand ich, daß der Seidenstrumpf den jungen Russinnen fast als ein Symbol erscheint für alles, was sie entbehren. Und sie entbehren viel; denn die Liebe gehört mit zu den Dingen, die man dort abgeschafft hat. „Es gibt noch ein bißchen Bett; keine Liebe, nichts vorher, nichts nachher. Keine Blumen –“ sagte mir eine junge Frau, und es war eine Welt von Traurigkeit darin. Diese reinen Arbeitsbienen, so farblos in ihren Kitteln und Strickkleidern – sie fangen zu zittern an, wenn sie ein Stückchen Seidenwäsche sehen oder gar verehrt bekommen. Als man vor der Revolutionsfeier ein paar Tage lang den Verkauf von Seidenblusen freigab, wurden ein paar Frauen totgedrückt, so schlimm ging es dabei zu…
Im „Grand Hotel“, wo in einem pompösen Speisesaal im Stil der Achtzigerjahre die Ausländer zu essen bekommen, ist nachts Jazz (sonst in Rußland als bourgeois verboten) und Tanz. Man fühlt sich gespensterhaft, zwischen Palmen und Seidenlampen, als wäre man Schaustück in einem Museum. In Moskau wird viel gemunkelt von der Pracht und Eleganz dieses in Spiritus konservierten Stückchens Europa im Sowjetstaat. In Wirklichkeit sieht man ein paar Ingenieure und Trustleute, ein paar Ausländerinnen, die geschmackvoll genug sind, sich aufs einfachste anzuziehen, und dann noch hier und da eine Russin, die aus irgendeinem Ziel und Grund ins „Grand“ gehen kann, ohne sich mißliebig zu machen. Diese Frauen haben alle das befangene Wesen von Menschen aus der äußersten Provinz; sie tragen ihr bestes Kleid – auch im Theater tragen sie manchmal ihr bestes Kleid. Es ist von kleinen Schneiderinnen nach verschollenen Moden gemacht, aus irgendeiner Seide, die man erwischt und mit mehr als 800 Kronen per Meter bezahlt hat. Ich wurde angefleht, eine Seite aus einem Modeblatt hinzuschicken, denn ganze europäische Zeitungen sind verboten, und sie wunderten sich sehr über unsre länger und knapper gewordene Kleider. Übrigens haben sie eine Art Modenzeitung auch dort – aber die macht Frauen nicht glücklich. Ein rührendes kleines Requisit der Eitelkeit sah ich, als ich mit ihnen ins Dampfbad ging: den Büstenhalter. Sie haben da einen Schnitt – ich denke, ihre Modenzeitung lanciert ihn – und eine besondere Methode, aus alten Spitzengardinen etwas einigermaßen Pikantes zurechtzukriegen. Es ist etwas wie der Sieg der Weiblichkeit mitten im Bankerott der Weiblichkeit. Und ich muß sagen, diese kleinen Büstenhalter aus Vorhandtüll haben mir eben so viel Eindruck gemacht und mehr verraten als der „Rote Platz“ mit den Hunderten von Menschen, die immer vor dem Grabmal Lenins warten …