N.N.: Bilder vom Wiener Elend

N.N.: Bilder vom Wiener Elend (1919)

             Das Elend der Erwerbslosen ist so grenzenlos, daß sich von seiner Tragik niemand einen Begriff machen kann. Der „Verein soziale Hilfsgemeinschaft“, dem Frau Anitta Müller vorsteht, sucht die zur Bekämpfung des Elends geschaffenen Institutionen weiter auszubauen und ruft die ganze Bevölkerung zur organisierten Mithilfe auf. Im Zuge dieser sozialen Aktion veranstaltete der Verein gestern abends im mittleren Konzerthaussaal einen Lichtbildervortrag. Wie Schriftsteller Bruno Frei, der als erster am Vortragspult stand, betonte, nütze alle private Wohltätigkeit angesichts der maßlosen Dimensionen des Elends nichts; der Abend sei vor allem der Aufklärung und Organisation der Besitzenden gegen das Elend gewidmet, es könne künftig nicht bei einem Almosen bleiben, der Schenkende müsse für den Sehnsuchtsschrei nach dem Leben, der ihm aus den Elendsquartieren entgegenschallt, ein Stück seines Lebens, ein Stück seiner Freude geben. Frau Anitta Müller, die ihm im Vortrag folgte, sprach auf die gleiche entschlossene Weise. Wenn schon das gesprochene Wort eine Anklage gegen das bisherige soziale System, ein gequälter Aufschrei aus einem tiefen Verstehen war, so zwang die große Reihe von Lichtbildern, die im wahrsten Sinn des Wortes Schattenbilder menschlichen Schicksals sind, zu einem geradezu grauenhaften Erkennen der unausprechlich traurigen Lage, in der sich viele Tausende der in unserer nächsten Nähe wohnenden Mitmenschen befinden. Die Wiener Spaziergänge, die man da hauptsächlich durch Favoriten, Lichtental und den zweiten Bezirk machte, enthüllten nicht etwa Armut, nein, ein schwärendes Dahinsiechen, ein körperliches und seelisches Verkrüppeln, einen Herd von Volksseuchen und unerhörtesten Verwahrlosungen. Ihrer Elf in eine Küche gesperrt, mit Tuberkulose, Rachitis, Rheumatismus und nagendem Hunger, lichtlos, freudelos, hoffnungslos. Kinder mit rachitisch aufgeweichten Beinen rutschen jahrelang in feuchten, schimmligen, unmöblierten Kellerlöchern herum, haben vielleicht nie die Sonne gesehen. Den Erwachsenen geht es nicht besser. Eine alte Pfründnerin, tuberkulos, liegt seit Jahren im feuchten, schmutzstarrenden Bett, sie ist von der Welt völlig abgeschlossen, und die Handreichungen der Menschen, die sich ihr nahen, bewirken nur soviel, daß sie nicht plötzlich auslischt, sondern in einer entsetzenerregenden Einsamkeit langsam dahinstirbt. Ist es leichter, das Elend zu ertragen, wenn man es gesellig erträgt? Da liegen in den Massenquartieren, in denen ein Bett für eine Nacht heute mit K. 1.- bis 1.50 bezahlt werden muß, ihrer sechzig beisammen. Es gibt Leute, die schon seit Jahrzehnten Stammgäste in den Massenquartieren sind; absoluter Mangel an Licht, Luft und Reinlichkeit zehren schwer am Leben. Es greift aber nichts so schwer ans Herz als die schier unendliche Bilderserie vom Kinderelend in Wein, die, wie Anitta Müller erzählt, nur ein ganz geringes Bruchstück der Wirklichkeit ist. In der Tat, da ist mit halben Maßregeln nichts ausgerichtet. Es muß in vollem Umfang geholfen werden. Und es ist nicht die geringste Zeit dazu, zu zaudern. Sonst haben wir keine Gegenwart und keine Zukunft.

In: Der neue Tag, 23.5.1919, S. 14.