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N.N. [Leitartikel]: Ein blutiger Sonntag in Wien.

Verhängnisvolle Folgen der kommunistischen Massenversammlung.

Das Land in Gefahr.

Zwölf Tote und achtundsechzig Ver­wundete hat der gestrige Tag in Wien gekostet — wenn nicht die traurigen Ziffern sich noch erhöhen. Wer selbst in diesen bluterfüllten Zeiten den Gedanken der Heiligkeit des Menschen­lebens hochhält, kann nur mit Grauen bei der Vorstellung verweilen, daß so viele Menschen­leben durch Umtriebe vernichtet wurden, die dem Wesen unsrer Stadt völlig fremd sind, von der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung, auch des Proletariats, abgelehnt werden und, wie nunmehr nachgewiesen ist, im größten Stile von den Budapester Ge­walthabern inszeniert und finanziert worden sind. Aber damit ist das Maß des Unheils nicht erschöpft: die Unruhe und Erregung müssen durch derartige Vorfälle verschärft, die Arbeitsfreudigkeit noch weiter gemindert, die allgemeine Not gesteigert und das Miß­trauen des Auslandes gegen unsre Zustände vermehrt werden, und das alles zu einer Zeit, wo unsre Friedensdelegation in Paris den verzweifelten Kampf gegen das Diktat übermütiger und übelberatener Sieger führt und den Versuch unternehmen muß, die geplante grausame Verstümmelung unsres Landes wenigstens einigermaßen zu mildern.

Mit dem gestrigen Tage ist das Maß voll geworden. Diese Blutopfer schreien zum Him­mel. Ist nicht genug gemordet worden in diesen viereinhalb Jahren? Sollen wir noch das allerbitterste Leid mitmachen, den grausamsten aller Kriege, den Bürgerkrieg? Was nützt es heute, Untersuchungen über den berüchtigten ersten Schuß anzustellen? Es dürfen eben nicht Situationen geschaffen werden, in denen die Gewehre von selbst losgehen. In der Wiener Bevölkerung herrscht heute das Gefühl, daß es so nicht weitergeht. Allen Ernstes wird die Frage aufgeworfen, ob wir ein Staats­wesen sind mit ordentlicher Staatsgewalt oder ein haltloses und gestaltloses Etwas, worin Chaos und Anarchie herrschen. Jeder­mann würdigt vollauf die außerordentlichen Schwierigkeiten, denen die Regierung gegenübersteht, und ein herostratisches Beginnen wäre es, ihr durch übelwollende Kritik oder faktiöse Opposition die ohnehin genug ernste Lage zu erschweren. Allein beim besten Willen läßt sich der Eindruck nicht verwischen, daß mit mehr Klarheit des Wollens und Festigkeit des Auftretens das gestrige Unglück zu verhüten gewesen wäre. Die Regierung hatte in der Nacht vom Samstag zum Sonntag bereits das Verbot der für Sonntag einberufenen kommunistischen Versammlung verfügt, und sie war vollauf berechtigt, es zu tun, denn die kommunistische Veranstaltung diente hochverräterischen Zwecken: es sollte ein gewalt­samer Umsturz der Verfassung vorbereitet oder herbeigeführt, die  Nationalversammlung beiseite geschoben, der in den Wahlen legal geäußerte Volkswille vergewaltigt und die Diktatur der Räterepublik ausgerufen werden. Gleichwohl wurde die Verfügung des Verbotes rasch wieder zurückgenommen, und so konnte das Verhängnis seinen Lauf nehmen. Auch späterhin wurde ein Beweis von Schwäche gegeben, indem eine Anzahl verhafteter Kommunistenführer und Anhänger der Bewegung auf Drängen einer kommunistischen Abordnung freigelassen wurde, obwohl die hochverräterischen Ziele der sonntägigen Veranstaltung und der ganzen kommunistischen Umtriebe von ihren Urhebern selbst gar nichtgeleugnet werden.

Allein jetzt ist nicht die Stunde für ver­spätete Rekriminationen, jetzt handelt sich’s darum, was geschehen soll, um weiteres, noch schlimmeres Unglück zu verhüten, das uns schlechthin den Untergang bringen könnte. Die Regierung ist durch den tragischen Vor­fall über das Maß der Gefahr unterrichtet. Dieser Erkenntnis muß die Zielsicherheit und Festigkeit ihrer Maßnahmen entsprechen. Was sie vor allem braucht, ist eine durchaus verläß­liche Wehrmacht. Jede Stunde erbringt aufs neue den Beweis, daß in dieser Zeit ein Staatswesen ohne starke Exekutivgewalt einem auf sturmgepeitschtem Meere hin und her geschleuderten Nachen gleicht, dem jeder Augenblick den Untergang bringen kann. In Deutschland hat man das erkannt; Noske ist gewiß alles eher, denn ein altpreußischer Militarist, aber er ist ein echter Deutscher, der weiß, was Ordnung, Disziplin und Gesetzesachtung für ein Land bedeuten. Ist unsre Volkswehr eine verläßliche Stütze der Exekutivgewalt— und das bisherige Ver­halten des größten Teiles der Volkswehr läßt dies erhoffen —, dann um so besser; sollten einzelne Teile der Volkswehr ins Wanken ge­raten, dann gilt es, für vertrauenswürdigen Ersatz zu sorgen und, wenn nötig, neue Kaders zu schaffen; Kräfte dafür sind genug vor­handen. Daß eine verläßliche Wehrmacht das Werkzeug einer Reaktion von rechts werden könnte, ist nicht zu besorgen; kein ernst zu nehmender Mensch denkt hierzulande an eine Gegenrevolution von rechts, die das Land in ein Meer von Blut und Elend stürzen müßte. Nur dann könnte die Gegenrevolution eine Gefahr werden, wenn sich hier chaotische Zu­stände dauernd einnisten und die weitesten Volkskreise in ihrer Verzweiflung schließlich nur mehr im Säbelregime die Rettung erblicken würden. Wie die Dinge heute liegen, droht die Gefahr des Umsturzes von links, nicht von rechts.

Das Organ der deutschösterreichischen Sozialdemokratie hat gestern in aufsehenerregenden Mitteilungen die längst ver­breitete Annahme bekräftigt, daß die kommunistischen Unruhen in Wien von der Budapester Räteregierung mit ungeheueren Geldmitteln gemacht werden und daß die ungarische Gesandtschaft in Wien der Mittelpunkt der Bestechungsaktionen sonach der Mittelpunkt einer Ver­schwörung gegen die innere Ruhe Deutschösterreichs ist. Unsre Regierung darf nunmehr nicht länger Vogel Strauß spielen, sie muß unverzüglich die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen, ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen, und durch die Teil­nahme von Politikern aller Parteien muß die Bürgschaft dafür geschaffen werden, daß die Untersuchung wirklich mit dem Zwecke strengster Wahrheitserforschung erfolgt. Wenn, woran kaum zu zweifeln ist, die Mitteilungen den Tatsachen entsprechen, dann obliegt der Regierung die Pflicht, unverzüglich die diplo­matischen Beziehungen zu den Budapester Ge­walthabern abzubrechen und die Gesandt­schaft der Budapester Usurpa­toren des Landes zu verweisen.

Das Vorbild ist gegeben: Als sich seinerzeit herausstellte, daß der Gesandte der russischen Sowjetregierung in Berlin, Joffé, sein Amt zu dem Zwecke angetreten hatte, um den bolschewistischen Umsturz in Deutschland herbeizuführen, wurde ihm über Nacht der Laufpaß gegeben. Es wäre der Gipfel der Un­entschlossenheit, wenn unsre Regierung tatenlos dulden würde, daß die diplomatische Ver­tretung eines fremden Staates ihre völkerrechtliche Vorzugsstellung in unerhörter Weise mißbraucht, um unser Land in den Abgrund des Verderbens zu stürzen. Was die Budapester Gewalthaber zunächst wollen, ist ja klar: Sie wollen für die vielen Millionen, die sie in Wien investiert haben, endlich auch Leistungen sehen. Zu Hause sind sie von den schwersten Kalamitäten bedrängt, da ihr Phantasiegeld weder von den Arbeitern noch von den Bauen: angenommen wird. Sie brauchen Geld von höherem Ansehen, das heißt die Noten der Österreichisch-ungarischen Bank, und dazu soll ihnen ein Wiener Putsch, soll ihnen die Besetzung und Ausplünderung der Banken, der Postsparkasse, der Notenbank und der Staatskassen dienen. Das Verlangen nach Ausweisung der ungarischen Gesandt­schaft wird von unsrer Bevölkerung mit solchem Nachdrucke und solcher Beharrlichkeit erhoben werden, daß sich die Regierung ihm nicht wird entziehen können.

Die sozialdemokratische Partei Deutschösterreichs, unsre eigentlich regierende Macht, hat in letzter Stunde erkannt, daß es sich nicht nur um die Existenz der Republik Deutschösterreich, sondern auch um die der Partei handelt. Endlich, wenn auch spät, hat sie eine festere Sprache gegenüber dem kom­munistischen Umstürze gefunden. In der Tat wäre die Partei verloren, wenn das bisher vielfach wahrnehmbare Hin- und Her­schwanken zwischen Demokratie und Diktatur weiter anhielte. Die politische Geschichte aller Länder und Zeiten beweist, daß jede Partei mit dem System des schwächlichen Lavierens und des halben Entgegenkommens an die radikalsten Strömungen nur sich selbst das Grab gräbt, denn sie ermuntert damit die­jenigen, die die Herrschaft an sich reißen wollen, macht weite Volkskreise unsicher und bereitet die Gemüter für die Aufnahme des geistigen Giftes vor. Auch für die Sozial­demokratie sind die Tage der Zweideutig­keiten und der Halbschlächtigkeit vorbei. Es geht nicht weiter an, den Gedanken der Rätediktatur nicht grundsätzlich abzulehnen, sondern nur die Taktik und die Wahl des Zeitpunktes als verfehlt zu bezeichnen. In Weimar hat man es anders gehalten. Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie hat den Ver­kündern der Diktatur des Proletariats ein un­bedingtes, weithin hallendes Nein zugerufen // und aufs neue das Banner der Demokratie entfaltet, das in der Herrschaft des gesetzlich geäußerten Willens des Gesamtvolkes. Das ist eine klare, bestimmte und jedenfalls die aus­sichtsreichste Politik in einer Zeit der Verwirrung und der planmäßigen Umtriebe. Aber nicht nur die sozialdemokratische, auch die bürgerlichen Parteien müssen wissen, was das Gebot dieser Stunde ist; das teilnahmslose Abseitsstehen und halb schadenfrohe Gewährenlassen vermehrt nur das Unheil. Wir brauchen ein rasches, kräftiges, entschlossenes Zusammenwirken aller Ordnungsparteien, der sozial­demokratischen und der bürgerlichen, mit der Regierung. Die Nationalversammlung muß unverzüglich zusammentreten. Das Land ist in Gefahr.

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.6.1919, S. 1-2.