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N.N.: [O. Bauer]: Rätediktatur oder Demokratie.

(Teil 4) Der Weg der Demokratie.

            Die Revolution hat der deutschösterreichischen Arbeiterschaft die demokratische Republik, die Selbstregierung des Volkes im Staate, im Lande und in der Gemeinde gebracht und damit ihre Macht wesentlich erweitert. Aber der große politische Sieg konnte das wirtschaftliche Elend nicht bannen. Unsere Lebensmittelvorräte sind erschöpft; wir leben nur von den allzu kargen Zuschüben der Entente. Die Zufuhr der ausländischen Kohle, auf die wir angewiesen sind, stockt; daher ist unser Eisenbahnverkehr gedrosselt, unsere Fabriken können infolge des Mangels ausländischer Rohstoffe und Kohlen nicht arbeiten; Hunderttausende sind arbeitslos. Die Kriegskosten sind mit Milliarden Banknoten, die in den Umlauf gepreßt wurden, gezahlt worden; dadurch sind unsere Geldzeichen entwertet, die Preise steigen ins Unerhörte, die leeren Staatskassen und die Krise der Industrie machen es unmöglich, Löhne und Gehalte in gleichem Ausmaß zu erhöhen. Die Entente verweigert uns immer noch den Frieden, die Rückkehr unserer Gefangenen, die freie Einfuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln. An all dem kann keine Regierung etwas ändern, Aber die Massen, die hungern und leiden wie nie zuvor, sind verzweifelt und erbittert. Die Leidenschaft, durch die Not entfesselt, droht über besonnene Erwägung zu obsiegen. Das Vorbild Rußlands und Ungarns lockt Tausende. Die Bourgeoisie sieht, daß die Versuchung zu neuer Revolution, zur Proklamierung der Rätediktatur die Massen lockt, Die Bourgeoisie zittert davor, daß die Massen der Versuchung erliegt, So klammert sich die Bourgeoisie jetzt selbst an die Demokratie, gegen die sie sich vor wenigen Monaten noch mit Händen und Füßen gewehrt, die sie nur unter unwiderstehlichem Zwange hingenommen hat. Die Bourgeoisie sucht die Demokratie zu retten, indem sie den arbeitenden Volksmassen ihre Fruchtbarkeit beweist. So ist die Bourgeoisie unter dem Drucke der Furcht vor der Rätediktatur zu weit größeren Zugeständnissen bereit, als sie sonst bei gleichen Machtverhältnissen bereit wäre. Ist die Macht des Proletariats zunächst vergrößert worden durch den Sieg der Demokratie, so wird sie jetzt neuerlich vergrößert dadurch, daß die Bourgeoisie die Demokratie bedroht sieht durch die Werbekraft des Gedankens der Rätediktatur.

            So können wir heute im Rahmen der demokratischen Republik ohne neuen gewaltsamen Umsturz sehr viel durchsetzen. Wir können die alten monarchischen, feudalen und militaristischen Institutionen von der Wurzel aus ausrotten. Wir können durch eine Reihe mutiger Reformen das Unterrichtswesen neu gestalten, um für die Erziehung einer selbstbewußten, denkenden, mutigen Generation die Grundlagen zu schaffen. Wir können das Arbeiterrecht und die Arbeiterversicherung unvergleichlich schneller und unvergleichlich großzügiger, als es jemals zuvor möglich war, ausbauen. Wir können die ersten Schritte auf dem Wege zur Sozialisierung der Industrie und des Bergbaues, der Forstwirtschaft und des Handels zurücklegen. Wir können durch eine energische Vermögensbesteuerung das Volk von dem Tribut an die Staatsgläubiger befreien. All das ist heute möglich auf der Grundlage der Demokratie. Und all das ist im Zuge, im Werden. Die Demokratie wird diese Aufgaben erfüllen, wenn ihr nur Zeit zur Erfüllung dieser Aufgaben gelassen wird.

            Aber freilich, all das genügt den breiten Massen des Proletariats nicht mehr. Aufgewühlt durch das furchtbare Erlebnis des Krieges, aufgerüttelt durch die Stürme der Revolution in Rußland, in Deutschland, in Ungarn, fordert das Proletariat die volle Macht, die Alleinherrschaft. Sie kann es freilich in // der deutschösterreichischen Nationalversammlung nicht erlangen, denn in ihr halten die Kräfte der klerikalen Bauernschaft und der sozialistischen Arbeiterschaft einander das Gleichgewicht. Aber müssen wir darum die Demokratie aufgeben? Gibt es nicht auch auf demokratischer Grundlage einen Weg zur Macht?

            Im Staate ist die Macht der Arbeiter begrenzt durch die Macht der Bauern. Anders in lokalen Selbstverwaltungskörpern. In der Nationalversammlung haben wir nicht die Mehrheit; aber in der Gemeindevertretung von Wien, im Landtag von Niederösterreich, in den zu schaffenden Kreisvertretungen des Viertels unter dem Wienerwald oder des obersteirischen Kreises kann die Arbeiterschaft unschwer die Mehrheit erringen. Und wenn nun all diesen Selbstverwaltungskörpern eine breite Autonomie zugewiesen, wenn ihnen insbesondere auch das Recht zur Enteignung und Sozialisierung dazu geeigneter Betriebe zugestanden wird, dann kann die Herrschaft über die lokalen Selbstverwaltungskörper zur gewaltigsten Machtquelle des Proletariats werden. Im Staate sind die Bauern zu zahlreich, als daß die Arbeiterschaft allein herrschen könnte; in den Großstädten und Industriebezirken aber ist die Arbeiterschaft die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, da kann sie auf demokratische Weise, durch den Stimmzettel, die Herrschaft in den lokalen Vertretungskörpern erringen und die Autonomie der Gemeinden und Kreise kann so zu einem wichtigen Herrschaftsmittel des Proletariats werden. Darum brauchen wir vor allem eine demokratische Lokalverwaltung mit breiten Kompetenzen.

            Andererseits aber brauchen wir den Anschluß an das Deutsche Reich. Denn wie immer sich die Klassenkämpfe des reichsdeutschen Proletariats vorübergehend gestalten, schließlich sind in der großen deutschen Republik die Voraussetzungen für die Herrschaft des Proletariats doch unvergleichlich günstiger als in unserem kleinen, industriell viel weniger entwickelten Deutschösterreich. Dort bildet die Arbeiterklasse einen viel größeren, die Bauernschaft einen viel kleineren Teil der Bevölkerung als hier. In Deutschland wird das Proletariat die Herrschaft erobern; also wird auch Deutschösterreich unter proletarischer Herrschaft stehen, sobald es ein Teil des Deutschen Reiches wird.

            Unser deutschösterreichischer Staat ist ein Notgebilde, zu vorübergehender Leistung bestimmt. Wenn es erst in dem großen Deutschland aufgegangen sein wird, dann werden unserer Nationalversammlung keine wichtigen Aufgaben mehr bleiben. Das Schwergewicht der Gesetzgebung und der Verwaltung wird dann fallen einerseits an das Reich, andererseits an die lokalen Selbstverwaltungskörper, an Gemeinden, Kreise und Länder. Im Reiche aber kann die Arbeiterschaft auf demokratischem Wege die Herrschaft erlangen und in den Stadtgemeinden und industriellen Kreisen wird sie mit demokratischen Mitteln die Herrschaft erobern. So können wir ohne Rätediktatur, mit den Mitteln der Demokratie die Macht gewinnen.

            Die Rätediktatur würde in Deutschösterreich keineswegs die Diktatur des Proletariats bedeuten; denn die Arbeiterräte müßten mit den Bauernräten die Macht teilen. Die Rätediktatur würde aber bei den heutigen Verhältnissen neuen Krieg gegen die Entente, die Gefahr einer Besetzung unseres Landes durch fremde Heere, die vollständige Einstellung der Lebensmittel- und Kohlenzufuhr, die ungeheuerlichste Steigerung des Massenelends bedeuten und in einer Hungerkatastrophe enden, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gäbe als die Konterrevolution. Es gibt einen anderen, sichereren und schmerzloseren Weg zur Macht. Das ist der Weg der Demokratie. Wenn wir uns einerseits dem großen roten Deutschland eingliedern und andererseits in Gemeinden und Kreisen starke Burgen roter Herrschaft schaffen, führen wir das Proletariat auf sichererem Weg zur Macht.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.3.1919, S. 1-2.

N.N. [Leitartikel]: Ein blutiger Sonntag in Wien.

Verhängnisvolle Folgen der kommunistischen Massenversammlung.

Das Land in Gefahr.

Zwölf Tote und achtundsechzig Ver­wundete hat der gestrige Tag in Wien gekostet — wenn nicht die traurigen Ziffern sich noch erhöhen. Wer selbst in diesen bluterfüllten Zeiten den Gedanken der Heiligkeit des Menschen­lebens hochhält, kann nur mit Grauen bei der Vorstellung verweilen, daß so viele Menschen­leben durch Umtriebe vernichtet wurden, die dem Wesen unsrer Stadt völlig fremd sind, von der erdrückenden Mehrheit der Bevölkerung, auch des Proletariats, abgelehnt werden und, wie nunmehr nachgewiesen ist, im größten Stile von den Budapester Ge­walthabern inszeniert und finanziert worden sind. Aber damit ist das Maß des Unheils nicht erschöpft: die Unruhe und Erregung müssen durch derartige Vorfälle verschärft, die Arbeitsfreudigkeit noch weiter gemindert, die allgemeine Not gesteigert und das Miß­trauen des Auslandes gegen unsre Zustände vermehrt werden, und das alles zu einer Zeit, wo unsre Friedensdelegation in Paris den verzweifelten Kampf gegen das Diktat übermütiger und übelberatener Sieger führt und den Versuch unternehmen muß, die geplante grausame Verstümmelung unsres Landes wenigstens einigermaßen zu mildern.

Mit dem gestrigen Tage ist das Maß voll geworden. Diese Blutopfer schreien zum Him­mel. Ist nicht genug gemordet worden in diesen viereinhalb Jahren? Sollen wir noch das allerbitterste Leid mitmachen, den grausamsten aller Kriege, den Bürgerkrieg? Was nützt es heute, Untersuchungen über den berüchtigten ersten Schuß anzustellen? Es dürfen eben nicht Situationen geschaffen werden, in denen die Gewehre von selbst losgehen. In der Wiener Bevölkerung herrscht heute das Gefühl, daß es so nicht weitergeht. Allen Ernstes wird die Frage aufgeworfen, ob wir ein Staats­wesen sind mit ordentlicher Staatsgewalt oder ein haltloses und gestaltloses Etwas, worin Chaos und Anarchie herrschen. Jeder­mann würdigt vollauf die außerordentlichen Schwierigkeiten, denen die Regierung gegenübersteht, und ein herostratisches Beginnen wäre es, ihr durch übelwollende Kritik oder faktiöse Opposition die ohnehin genug ernste Lage zu erschweren. Allein beim besten Willen läßt sich der Eindruck nicht verwischen, daß mit mehr Klarheit des Wollens und Festigkeit des Auftretens das gestrige Unglück zu verhüten gewesen wäre. Die Regierung hatte in der Nacht vom Samstag zum Sonntag bereits das Verbot der für Sonntag einberufenen kommunistischen Versammlung verfügt, und sie war vollauf berechtigt, es zu tun, denn die kommunistische Veranstaltung diente hochverräterischen Zwecken: es sollte ein gewalt­samer Umsturz der Verfassung vorbereitet oder herbeigeführt, die  Nationalversammlung beiseite geschoben, der in den Wahlen legal geäußerte Volkswille vergewaltigt und die Diktatur der Räterepublik ausgerufen werden. Gleichwohl wurde die Verfügung des Verbotes rasch wieder zurückgenommen, und so konnte das Verhängnis seinen Lauf nehmen. Auch späterhin wurde ein Beweis von Schwäche gegeben, indem eine Anzahl verhafteter Kommunistenführer und Anhänger der Bewegung auf Drängen einer kommunistischen Abordnung freigelassen wurde, obwohl die hochverräterischen Ziele der sonntägigen Veranstaltung und der ganzen kommunistischen Umtriebe von ihren Urhebern selbst gar nichtgeleugnet werden.

Allein jetzt ist nicht die Stunde für ver­spätete Rekriminationen, jetzt handelt sich’s darum, was geschehen soll, um weiteres, noch schlimmeres Unglück zu verhüten, das uns schlechthin den Untergang bringen könnte. Die Regierung ist durch den tragischen Vor­fall über das Maß der Gefahr unterrichtet. Dieser Erkenntnis muß die Zielsicherheit und Festigkeit ihrer Maßnahmen entsprechen. Was sie vor allem braucht, ist eine durchaus verläß­liche Wehrmacht. Jede Stunde erbringt aufs neue den Beweis, daß in dieser Zeit ein Staatswesen ohne starke Exekutivgewalt einem auf sturmgepeitschtem Meere hin und her geschleuderten Nachen gleicht, dem jeder Augenblick den Untergang bringen kann. In Deutschland hat man das erkannt; Noske ist gewiß alles eher, denn ein altpreußischer Militarist, aber er ist ein echter Deutscher, der weiß, was Ordnung, Disziplin und Gesetzesachtung für ein Land bedeuten. Ist unsre Volkswehr eine verläßliche Stütze der Exekutivgewalt— und das bisherige Ver­halten des größten Teiles der Volkswehr läßt dies erhoffen —, dann um so besser; sollten einzelne Teile der Volkswehr ins Wanken ge­raten, dann gilt es, für vertrauenswürdigen Ersatz zu sorgen und, wenn nötig, neue Kaders zu schaffen; Kräfte dafür sind genug vor­handen. Daß eine verläßliche Wehrmacht das Werkzeug einer Reaktion von rechts werden könnte, ist nicht zu besorgen; kein ernst zu nehmender Mensch denkt hierzulande an eine Gegenrevolution von rechts, die das Land in ein Meer von Blut und Elend stürzen müßte. Nur dann könnte die Gegenrevolution eine Gefahr werden, wenn sich hier chaotische Zu­stände dauernd einnisten und die weitesten Volkskreise in ihrer Verzweiflung schließlich nur mehr im Säbelregime die Rettung erblicken würden. Wie die Dinge heute liegen, droht die Gefahr des Umsturzes von links, nicht von rechts.

Das Organ der deutschösterreichischen Sozialdemokratie hat gestern in aufsehenerregenden Mitteilungen die längst ver­breitete Annahme bekräftigt, daß die kommunistischen Unruhen in Wien von der Budapester Räteregierung mit ungeheueren Geldmitteln gemacht werden und daß die ungarische Gesandtschaft in Wien der Mittelpunkt der Bestechungsaktionen sonach der Mittelpunkt einer Ver­schwörung gegen die innere Ruhe Deutschösterreichs ist. Unsre Regierung darf nunmehr nicht länger Vogel Strauß spielen, sie muß unverzüglich die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen, ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen, und durch die Teil­nahme von Politikern aller Parteien muß die Bürgschaft dafür geschaffen werden, daß die Untersuchung wirklich mit dem Zwecke strengster Wahrheitserforschung erfolgt. Wenn, woran kaum zu zweifeln ist, die Mitteilungen den Tatsachen entsprechen, dann obliegt der Regierung die Pflicht, unverzüglich die diplo­matischen Beziehungen zu den Budapester Ge­walthabern abzubrechen und die Gesandt­schaft der Budapester Usurpa­toren des Landes zu verweisen.

Das Vorbild ist gegeben: Als sich seinerzeit herausstellte, daß der Gesandte der russischen Sowjetregierung in Berlin, Joffé, sein Amt zu dem Zwecke angetreten hatte, um den bolschewistischen Umsturz in Deutschland herbeizuführen, wurde ihm über Nacht der Laufpaß gegeben. Es wäre der Gipfel der Un­entschlossenheit, wenn unsre Regierung tatenlos dulden würde, daß die diplomatische Ver­tretung eines fremden Staates ihre völkerrechtliche Vorzugsstellung in unerhörter Weise mißbraucht, um unser Land in den Abgrund des Verderbens zu stürzen. Was die Budapester Gewalthaber zunächst wollen, ist ja klar: Sie wollen für die vielen Millionen, die sie in Wien investiert haben, endlich auch Leistungen sehen. Zu Hause sind sie von den schwersten Kalamitäten bedrängt, da ihr Phantasiegeld weder von den Arbeitern noch von den Bauen: angenommen wird. Sie brauchen Geld von höherem Ansehen, das heißt die Noten der Österreichisch-ungarischen Bank, und dazu soll ihnen ein Wiener Putsch, soll ihnen die Besetzung und Ausplünderung der Banken, der Postsparkasse, der Notenbank und der Staatskassen dienen. Das Verlangen nach Ausweisung der ungarischen Gesandt­schaft wird von unsrer Bevölkerung mit solchem Nachdrucke und solcher Beharrlichkeit erhoben werden, daß sich die Regierung ihm nicht wird entziehen können.

Die sozialdemokratische Partei Deutschösterreichs, unsre eigentlich regierende Macht, hat in letzter Stunde erkannt, daß es sich nicht nur um die Existenz der Republik Deutschösterreich, sondern auch um die der Partei handelt. Endlich, wenn auch spät, hat sie eine festere Sprache gegenüber dem kom­munistischen Umstürze gefunden. In der Tat wäre die Partei verloren, wenn das bisher vielfach wahrnehmbare Hin- und Her­schwanken zwischen Demokratie und Diktatur weiter anhielte. Die politische Geschichte aller Länder und Zeiten beweist, daß jede Partei mit dem System des schwächlichen Lavierens und des halben Entgegenkommens an die radikalsten Strömungen nur sich selbst das Grab gräbt, denn sie ermuntert damit die­jenigen, die die Herrschaft an sich reißen wollen, macht weite Volkskreise unsicher und bereitet die Gemüter für die Aufnahme des geistigen Giftes vor. Auch für die Sozial­demokratie sind die Tage der Zweideutig­keiten und der Halbschlächtigkeit vorbei. Es geht nicht weiter an, den Gedanken der Rätediktatur nicht grundsätzlich abzulehnen, sondern nur die Taktik und die Wahl des Zeitpunktes als verfehlt zu bezeichnen. In Weimar hat man es anders gehalten. Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie hat den Ver­kündern der Diktatur des Proletariats ein un­bedingtes, weithin hallendes Nein zugerufen // und aufs neue das Banner der Demokratie entfaltet, das in der Herrschaft des gesetzlich geäußerten Willens des Gesamtvolkes. Das ist eine klare, bestimmte und jedenfalls die aus­sichtsreichste Politik in einer Zeit der Verwirrung und der planmäßigen Umtriebe. Aber nicht nur die sozialdemokratische, auch die bürgerlichen Parteien müssen wissen, was das Gebot dieser Stunde ist; das teilnahmslose Abseitsstehen und halb schadenfrohe Gewährenlassen vermehrt nur das Unheil. Wir brauchen ein rasches, kräftiges, entschlossenes Zusammenwirken aller Ordnungsparteien, der sozial­demokratischen und der bürgerlichen, mit der Regierung. Die Nationalversammlung muß unverzüglich zusammentreten. Das Land ist in Gefahr.

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.6.1919, S. 1-2.

N.N.: Sozialistische Demokratie gegen bürgerliche Diktatur. (1918)

‚Demokratie‘ ist der tägliche Drohungsruf, den ein Wilson und ein Lloyd-George gegen die besiegten Völker, richtiger gegen die Proletarier der besiegten Völker ausstößt. Und dieser Drohungsruf wird von Bürgerlichen der besiegten Völker mit Begeisterung aufgenommen und wiederholt. Mit verhaltenem Jubel berufen und begrüßen sie die Ententetruppen, welche die Ruhe und Ordnung dieser „Demokratie“ gegenüber der greuelvollen „Diktatur des Proletariats“ durchsetzen und aufrechterhalten sollen.

Die Tatsache, daß diese „Demokratie“ das teuerste Gut der siegreichen und besiegten Imperialisten ist, muß die Arbeiter stutzig machen. Und es muß sie merkwürdig berühren, wenn nicht sogar erbittern, daß ihre eigenen Vertreter (unter ihnen sogar ein Friedrich Adler) diese „Demokratie“ gegenüber der so abschäulichen „Diktatur des Proletariats“ als herrlich anpreisen. In Wahrheit aber ist die Frage nicht „Demokratie“ oder „Diktatur des Proletariats“, sondern bestenfalls „Diktatur der Bourgeoisie“ oder „Diktatur des Proletariats“! Richtiger gesagt: „bürgerliche Diktatur“ oder „sozialistische Demokratie“. Dies ist die Frage, und sie zu entscheiden, dürfte nicht schwer sein.

Vorher muß aber deutlich erklärt werden, warum sich diese „Demokratie“, die den Kapitalisten recht ist, und den Proletariern nicht billig ist, als „Diktatur der Bourgeoisie darstellt.

Was ist Demokratie? Politische Freiheit aller Bürger, Preßfreiheit, Vereinsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc. Gewiß wertvolle Errungenschaften. Kurzum volle Gewährung aller politischen Rechte an alle Bürger. Aber wie steht es um diese politischen Rechte? Sie sind der gesetzliche Ausdruck der wirtschaftlichen Rechte der Bürger. Das wirtschaftliche Recht, welches durch die Staatsgesetze der Gegenwart, festgelegt und diktatorisch zur Geltung gebracht wird, ist das Privateigentum. Die Wirtschaftsform, die sich daraus entwickelt hat, ist der private Kapitalismus. Wer sich gegen das Privateigentum, den privaten Kapitalismus in irgend einer Form vergeht, wenn er einem andern etwas wegnimmt, auch ohne es sich selbst anzueignen, sondern um es z. B. der Allgemeinheit zugute kommen zu lassen, wird als Dieb, als Räuber gebrandmarkt, politisch entrechtet, mit Kerker bestraft. Da nun der Kapitalismus die Anhäufung der Arbeitsmittel in wenigen Händen (nämlich in denen der Großbourgeoisie) und die Verelendung der Massen mit sich gebracht hat, so ist diese Wirtschaftsform nichts anderes als: die Diktatur der Bourgeoisie über die Arbeiter. Denn diese sind, unter Androhung von Strafen, verhindert, die Kapitalisten zu enteignen. Sie sind gewaltsam genötigt, sich ausbeuten zu lassen. So ist in Wahrheit die bürgerliche Demokratie durch ihr Staatsrecht eine Diktatur der Bourgeoisie, der Wenigen über die Vielen. Und die sogenannten demokratischen Freiheiten sind mehr oder weniger bloßer Schaum, sind gut, damit sich die Leidenschaften der Massen ungefährlich in Wort und Schrift entladen können. Aber nicht in der Tat! Die Tat aber – die Enteignung – wird als „undemokratisch“ diktatorisch unterdrückt. (Siehe die Einmauerung von Wiener Kommunisten!) So steht es um diese gepriesene Demokratie“. Sie ist grundsätzlich die politische Schutz- und Trutzwehr des Kapitalismus, sie ist „Diktatur der Bourgeoisie“.

Wie steht es nun aber um die viel berüchtigte und verhetzte „Diktatur des Proletariats“?

Sie ist erstens keine Diktatur der Minderheit über die Mehrheit. Denn die Bauern, Gewerbetreibende, die arme Bourgeoisie ist von vornherein von ihr ausgenommen. Diese bleiben mehr oder weniger, solange sie nicht selbst sich zu großen Kapitalisten und Großgrundbesitzern auswachsen, in ihrer bisher gegebenen Wirtschaftsordnung, bei vollem Genuß aller politischen Rechte. Dies läßt sich verwirklichen, wenn jene Klassen sich den Arbeitern nicht feindlich und mörderisch widerstreben, so daß man sich gegen sie verteidigen muß, sondern wenn sie sich mit ihnen verbünden. (Darüber bei anderen Gelegenheiten).

Diese „Diktatur“ wäre also nur eine solche der industriellen sowie des land- und forstwirtschaftlichen Arbeiters, Angestellten (und vielleicht Beamten) gegen ihre Herren Arbeitgeber, kleine Häuflein im Verhältnis zur ungeheuren Masse. Aber handelt es sich da überhaupt um eine Diktatur? Wir haben festgestellt, daß die politische Verfassung nur die gesetzliche Verkleidung der wirtschaftlichen Verfassung eines Staates ist. Diktatur der Bourgeoisie war die wirtschaftliche Ausbeutung einer großen Anzahl von Arbeitenden durch eine kleine. Will jetzt nun ihrerseits die große Masse der Arbeitenden eine kleine Schar ausbeuten? Keineswegs! Die neue Wirtschaftsordnung will jede Ausbeutung zunichte machen, will die wirtschaftliche Gleichstellung aller Arbeitenden. Voraussetzung hierzu ist die Abschaffung des Privateigentums an Arbeitsmitteln, an Großgrundbesitz, ist die Vergesellschaftung der großen Betriebe. Die sozialistische Republik bedeutet somit die Abschaffung der tatsächlichen Diktatur, nämlich der wirtschaftlichen. Jeder, der für die Gemeinschaft arbeitet, hat das gleiche Recht des Genusses der produzierten Güter.

Diese Abschaffung jedweder Diktatur wird nun in gesetzliche Formen gegossen, zum Staatssozialismus. Dies „Diktatur des Proletariats“ zu nennen ist einfach böswillige Redensart. (Und ist bei einem Marxisten unbegreiflich!) Es ist nicht bloß Mißverständnis, es ist geradezu Haß gegen die sozialistische Republik, wenn man gegen sie die wirkliche Diktatur, nämlich die der Bourgeoisie, als „Demokratie“ ausspielt. (Bei einem Marxisten das unbegreiflich!) Sondern diese gesetzlichen Formen sind mindestens in demselben Sinne demokratisch wie die bürgerlichen. Sie gaben Wahlrecht, Preßfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinsfreiheit etc. allen Arbeitenden, welcher politischen und wirtschaftlichen Gesinnung sie auch sein mögen. Nur denjenigen, welche durch die Tat, gegen die Arbeitspflicht und gegen die wirtschaftliche Gleichberechtigung der Arbeitenden verstoßen, indem sie nicht die wirtschaftliche Gleichheit, das Gemeineigentum, sondern ihr Privateigentum im großen Stile befördern, oder besitzen, werden wegen Verbrechens am sozialistischen Staate gestraft, und zwar nicht durch Kerker, wie es die Bourgeoisie tut, wenn man ihre wirtschaftliche Diktatur, ihre wirtschaftliche Ungleichheit durchbrechen will, sondern bloß durch politische Entrechtung und durch Enteignung. Dies ist aber nicht Diktatur, sondern dies ist das Wesen aller Gesetzgebung, aller Staatlichkeit überhaupt. Gewiß, die volle Demokratie ist es nicht. Aber die volle Demokratie ist Gesetzlosigkeit, Anarchie (im besten Sinne des Wortes.) (Siehe in derselben Nummer die Bemerkungen über „Demokratie, Anarchie, Staatssozialismus“.)

Kurzum diese „Diktatur“ des Proletariats ist nicht nur keine, sie ist sogar die Aufhebung der einzig möglichen „Diktatur“, nämlich der der kapitalistischen Bourgeoisie. Die sozialistische Demokratie ist somit die politische Form der nicht-diktatorischen Staatsordnung, während die bürgerliche Demokratie, die sich als die alleinseligmachende Demokratie verschreibt, gar keine Demokratie, sondern die politische Form der Diktatur ist.

Und so bedeutet die revolutionäre Umwälzung, wie sie sich in Deutschland vollzieht (durch die politische und wirtschaftliche Machtergreifung des gesammten arbeitenden Volkes in Form der Räte-Regierung), nicht eine „Diktatur des Proletariats“, wenn man sie auch so nennt, wenn sie sich selbst auch fälschlich so nennt, sie bedeutet die Abschaffung jeder wirtschaftlichen Diktatur. Sie ist nur diktatorisch im engeren Sinne wie eben jedes Staatsrecht als solches, dadurch daß es eine vollziehende und strafende Macht hat, diktatorisch ist. Darüber mögen die Anarchisten, aber nicht die Bürgerlichen klagen. Denn was die Bürgerlichen betrifft, so handelt es sich hier um die Abschaffung jeder Diktatur im weiteren, im wirtschaftlichen Sinne, d. h. der bürgerlichen Diktatur. Die wahre Losung ist somit:

Sozialistische Demokratie gegen bürgerliche Diktatur!                               Kämpfer

In: Weckruf [Rote Fahne], 28.11.1918, S. 1-2.

Max Adler: Der Krieg ist aus, der Kampf beginnt (1918)

            Der Krieg ist aus, – und er hat anders geendet als es die militärstolzen Mittelstaaten gewähnt hatten, aber eigentlich auch anders, als es die Entente erwartet hatte. Denn wenn auch die Zentralstaaten eine so zerschmetternde Niederlage erlitten, wie es die Entente  kaum je in ihren kühnsten Hoffnungen für möglich halten konnte, so liegt das Entscheidende und geschichtlich in seiner Tragweite noch gar nicht Auszu-//schöpfende in dem Umstand, daß dieser Sieg der Entente gar nicht so sehr durch ihre militärische Überlegenheit, als durch den Willen der Völker in den Mittelstaaten ermöglicht wurde. Nicht eigentlich der Siegt der Entente, sondern die Revolution der Mittelstaaten, die mit der Meuterei ihrer Fronten begann, hat den Krieg beendet; die Entente siegte, weil die Völker Österreichs, Ungarns und Deutschlands nicht länger mehr kämpfen wollten. Das große Beispiel, das zuerst die russischen Soldaten in der letzten Offensive 1917 gegeben hatten, das sich dann im Oktober 1918 an der bulgarischen Front weiderholte, das befolgten nun auch die Soldaten der Mittelmächte im Westen und im Süden, wo sie lange unter unerhörten Opfern „siegreich“ ausgehalten hatten. Sie warfen die Waffen weg, sie verließen die Stellungen, sie ließen das „Vaterland“ im Stich, das ihnen stets ein Stiefvaterland gewesen war. Konnte man sich darüber wundern, daß der Soldat endlich müde geworden war, seine Haut zu Markte zu tragen für Interessen, die doch nicht die seinen waren? Was hätte er verteidigen sollen, da ihm doch an diesem „Vaterland“ nichts gelegen war, das ihn im Frieden ausbeutete, ihn und seiner Familie stets nur ein kümmerliches Dasein und ein freudloses Heim bereitete und ihn schließlich, ohne ihn zu befragen, auch noch in die Hölle des Krieges gezwungen hatte! Was hätte er für einen inneren Anlaß gehabt, sich noch länger für dieses ganz furchtbare Gewaltsystem des Kapitalismus und Militarismus aufzuopfern, statt dessen durch das Vordringen der feindlichen Heere bewirkte Schwächung zu benützen, um sich ihm ganz zu entziehen!

So empfand zunächst der Soldat die Niederlage auf dem Schlachtfelde, das er freiwillig verließ, eher wie eine Befreiung von dem Banne einer unerhörten Vergewaltigung. Und diese Welle der Befreiung ergoß sich mit ungestümer Kraft über das ganze Hinterland. War erst einmal der ungeheuerliche Druck, mit dem der Militarismus allen wahren Volkswillen erstickte, behoben, so machte sich dieser in elementarer Weise geltend, und vor seiner entfesselten Energie sanken überall die Throne in den Staub, die so lange ihr unbegreifliches anachronistisches Dasein behauptet hatten. Nun war es mit einem Male offenbar geworden, daß der Glanz der Habsburger, daß der stolze Trotz der Hohenzollern gar nichts gemein hatten mit der wirklichen Kraft und Anteilnahme „ihrer“ Völker, als deren bestes Teil sie sich immer ausgegeben hatten, sondern daß sie nur dank der nackten Schwertgewalt existiert hatten, die sie aufzubieten imstande waren. Gegen den brausenden Unwillen der Völker, welche ihre Dynastien als die an dem Kriege nicht am wenigsten Schuldtragenden in lächerlich kurzer Zeit wegfegten, erhob sich auch nicht eine Hand, und auf dem Boden der stolzesten Militärmonarchien der // Erde besteht jetzt ein Kranz von Republiken, von Freistaaten, in denen die gärende Kraft des Volkes darangeht, nach der politischen auch die soziale Umwälzung herbeizuführen, und damit uns erkennen läßt, daß ein neues Kapitel in der Geschichte der europäischen Kultur, ja der Menschheit aufgeschlagen ist.

            So erklärt es sich, daß diese Niederlage trotz der ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen, welche der noch ungebrochene Enteneimperialismus den Zentralstaaten auferlegt hat, doch bei den Völkern derselben nirgends als eine solche empfunden wurde. Ja im Gegenteil – und dies ist nur ein Beweis mehr für die wahnsinnige Unnatur, in welche der Zwang des Imperialismus und Militarismus seine Völker daniedergehalten hat – diese Niederlage wurde geradezu als eine Bedingung der eigenen Befreiung und der demokratischen Fortentwicklung der Welt überhaupt erhofft. Es wiederholte sich die geschichtliche Situation, die schon einmal in der Geschichte Deutschlands da war, als nach der französischen Revolution alle wirklich freiheitsdurstigen deutschen Patrioten den Siegeszügen der Franzosen innerlich zujubelten und, so sehr sie die Herrschaft Napoleons als Säbelrasselherrschaft haßten, sie doch als Bahnbrecherin einer neuen Zeit dem verrotteten Absolutismus ihrer angestammten Dynastien vorzogen. Am besten für die freie Fortentwicklung der Demokratie und für die allgemeine Abrechung der Sozialismus mit der alten Gesellschaft wäre es freilich gewesen, wenn der Krieg so ausgegangen wäre, wie es vor dem Eintritt Amerikas möglich schien, daß er enden würde, ohne Sieger und Besiegte. Aber da dies nun einmal nicht mehr möglich war, so wurde die Niederlage der Mittelmächte geradezu zu einer Bedingung jeglicher Volksfreiheit. Wie anders hätte man mit dem preußischen Militarismus und mit dem habsburgischen Absolutismus fertig werden können? Es ist nicht auszudenken, welches Übermaß von Reaktion über die Welt gekommen wäre, welche politische und soziale Knechtung, wenn Kaiser Wilhelm seinem Siegerwillen hätte frönen können, wenn die preußische Militär- und Junkerkaste die herrschende Klasse der Welt geworden wäre.

            Dieser Alpdruck ist bereits von uns hinweggenommen, und es war die Revolution, die ihn hinwegwälzte. Das Gewaltsystem des Militarismus hat aus sich selbst heraus seine Aufhebung gezeitigt. Und damit hat das schicksalsschwere Wort aus dem Kommunistischen Manifest, daß der Kapitalismus seine eigenen Tote erzeuge, auch seine Anwendung auf das gewaltigste Schutzmittel des Kapitalismus erfahren, auf den Militarismus. Auch der Militarismus erzeugt seine eigenen Totengräber. Indem der Kapitalismus gezwungen war, um seinen Eroberungsgelüsten zu genügen, immer mehr // Männer in den Dienst seiner Armeen hineinzupferchen, ist er schließlich dazu gelangt, das Volk zu bewaffnen. Aber die Waffen in der Hand des Volkes haben die verhängnisvolle Eigenschaft, daß sie nicht bloß dorthin gerichtet werden können, wohin sie die Herrschenden gerichtet sehen möchten, sondern daß sie in plötzlicher Wendung auch dorthin zielen, wo das Volk endlich seinen wirklichen Feind erblickt. Und hat das Volk erst erkannt, daß dieser wirkliche Feind gar nicht notwendig außerhalb der Landesgrenzen steht, daß es vielmehr die kapitalistisch-imperialistische Herrenkaste ist, die es in Krieg und Feindschaft mit dem äußeren Feinde verwickelt hat, um nur desto besser und sicherer ihre eigene Herrschaft und Ausbeutung erhalten und vergrößern zu können – hat erst einmal das bewaffnete Volk diesen Feind erkannt, dann ist es mit der Herrschaft desselben für immer vorbei. Dann mag der Staat durch das Versagen seiner Wehrkraft und durch die Invasion des äußeren Feindes eine Niederlage erlitten haben. Dies bedingt unter den heutigen Verhältnissen bloß eine vorübergehende Fremdherrschaft. Das Volk des besiegten Staates selbst aber feiert einen großen und entscheidenden Sieg über seine dauernden Feinde, über die Fremdherrschaft seiner unterdrückenden und ausbeutenden Klassen. Schon steht verheißungsvoll die deutsche sozialistische Republik vor den staunenden Augen der Mitwelt da, und im stürmischen Drang bereitet das Proletariat auch bei uns sich vor, diesem leuchtenden Beispiel zu folgen.

            Und das ist der Punkt, in welchem der Krieg, der sonst die größten Hoffnungen der Entente erfüllt hat, doch so ganz anders ausgegangen ist, als sie es erwartet hat und ihr recht sein kann. Die Heere der Entente ziehen zwar in ein geschlagenes Land, aber in ein revolutioniertes Volk ein. Sie finden keine niedergeworfenen Staaten: denn diese existieren nicht mehr, sie sind von dem jäh erstarkten Volkswillen hinweggefegt worden. Das alte Österreich, dieses Zuchthaus seiner vielsprachigen Völker, die übermächtige Adelsrepublik des alten Ungarn, die preußisch-deutsche Militärmonarchie – sie alle sind gewesen und an ihre Stelle sind neue Staaten getreten, in denen zwar noch nicht überall das Proletariat die Herrschaft anzutreten vermochte, was aber dadurch wettgemacht ist, daß dies in dem mächtigsten und größten dieser neuen Staaten, in der deutschen Republik, der Fall ist. Die Tatsache der deutschen sozialistischen Republik gibt der geschichtlichen Situation, die nun nach Beendigung des Krieges eingetreten ist, viel mehr das Gepräge als der Sieg der Entente.

            Denn allerdings steht der Ententekapitalismus noch ungebrochen da und zeigt seine ganze hemmungslose Raubtiernatur in den Waffenstillstandsbedingungen, die er den einzelnen Teilen der ehemaligen Zentralstaaten aufgezwungen hat. /780/ […]

An der Macht des deutschen Proletariats wird sich die Kraft der sozialistischen Bewegung in den Ententestaaten ebenso entzünden, wie sich die unsrige an der Revolution Rußlands entzündet hat. Auch der großmächtige Imperialismus der Entente wird daran glauben müssen und den lebendigen Sinn des alten Wortes an sich erfahren: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen. Und der Gott, der sie in Gang bringt, das wird die wieder erstehende Internationale sein. //

            Nun halten wir selbst in Deutschösterreich allerdings erst bei einer bloß politischen Revolution. Wir haben erst nur die bürgerliche Republik aufgerichtet. Aber wer sich von dieser Einschätzung der bei uns vollzogenen Umwälzung allein leiten ließe, ginge mächtig an ihrer eigentlichen geschichtlichen Bedeutung vorbei. Für Österreich und ebenso für Ungarn liegt das eigentlich Revolutionäre in diesem ersten Abschnitt in der Zertrümmerung des alten alten Habsburgerreiches und damit in der endlichen Befreiung von der würgenden Fessel des Nationalitätenstreites, der jede politische und noch mehr soziale Entwicklung unmöglich gemacht hat. Hier mußten also zuerst die neuen, national einheitlichen Staaten aufgerichtet werden, was zunächst nicht anders möglich war als in der Form der bürgerlichen Republik, das heißt in der Form eines einheitlichen Vorgehens aller Klassen der Nation. Diese nationale Konstituierung hat aber, soweit die Sozialdemokratie in Betracht kommt, die sich ja zur Hauptträgerin dieser Forderung gemacht hat, ganz und gar nichts mit Nationalismus zu tun. In der Forderung nach einem deutschösterreichischen Staat ist die deutsche Sozialdemokratie in Österreich nicht etwa auf einmal deutschnational geworden. Sondern diese Forderung nach nationaler Trennung und staatlicher Konstituierung der einzelnen Völker des alten Österreich ist nur die Verwirklichung der revolutionären Forderung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. […] Das ist fürwahr kein Nationalismus, sondern die einfache Vorbedingung jeder wirklichen Demokratie. Weil sie aber das deutsche Volk in Österreich zugleich befreit von dem unfruchtbaren Streit mit Tschechen, Polen und Südslawen, weil sei endlich die Möglichkeit schafft, nunmehr statt des Nationalitätenstreites der ganzen Völker den Klassenkampf des deutschen Proletariats gegen die deutsche Bourgeoisie auf die Tagesordnung zu setzen, darum ist diese bis jetzt nur erst bürgerliche Revolution zugleich ein großer und bleibender Gewinn für das Proletariat.

            Und das gleiche gilt von von der Erringung der Demokratie. Kein Zweifel: für uns ist die Demokratie kein Selbstzweck, nicht sie ist das Ziel, sondern die sozialistische Gesellschaft. Aber die Demokratie ist dazu das unerläßliche Mittel, weil erst sie dem Emanzipationskampf des Proletariats jene Bewegungsfreiheit verschafft, die es braucht, um zur Macht zu gelangen. Die Vorgänge und das Schicksal des Sozialismus in Rußland// beweisen, wie verhängnisvoll der Weg in die Irre führt, welcher meint, die Demokratie durch die Diktatur ersetzen zu können, die sich zwar Diktatur des Proletariats nennt, aber, weil Diktatur bloß einer kleinen Gruppe desselben, eher eine Diktatur gegen das Proletariat ist. […]

            Unser Ziel aber, das nicht etwa als ein fernes zu betrachten ist, sondern als eine Sache, die heute unsere unmittelbare politische Tätigkeit praktisch zu bestimmen hat, ist die sozialistische Republik; und deren Verwirklichung gilt die von der Sozialdemokratie als treibende Kraft durchgesetzte Forderung des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Auch der Sinn dieser vielfach von dem Proletariat noch gar nicht in seiner revolutionären Bedeutung erfaßten Forderung ist kein in erster Linie nationaler. Wir unterschätzen durchaus nicht auch die nationale Seite unserer Forderung. Im Gegenteil, es erfüllt uns mit hoher Genugtuung, daß gerade die sozialistische Politik des Proletariats dazu ausersehen ist, den Traum so vieler deutscher Generationen zu erfüllen und das Ideal zum Besten unseres Volkes zu verwirklichen: die politische Einheit des deutschen Volkes. Aber dieses nationale Interesse ist nicht das Entscheidende für unsere Stellungnahme, so verscheiden es selbst in diesem Falle von dem der Deutschnationalen wäre. Denn nicht das Deutschland des Imperialismus, das Deutschland des „herrlichen Kriegsheeres“ und der der Flottenbegeisterung ist es, zu dem wir Sozialdemokraten stoßen wollen. Dieses ist vielmehr dem Arbeiter bei uns ebenso verhaßt gewesen, wie es den Haß der ganzen Welt auf sich gezogen hatte. Was der Gegenstand der Begeisterung studentischer und „völkischer“ Deutschprotzerei war, das Deutschland Bismarcks mit seinem Sozialistengesetz, das Deutschland der Hohenzollern mit seinem persönlichen Regiment und seiner Junkerherrschaft, dem waren wir stets aus ganzer Seele feind. Aber wir liebten und bewunderten stets das Deutschland der Dichter und Denker, das Deutschland der // Erfinder und Entdecker, des werktätigen Fleißes und der zielbewußten Organisation. Und darum schätzen wir dieses Deutschland als das Land der höchstentwickelten produktiven Arbeit und zugleich der höchsten geistigen Kultur, als das Land, in welchem, wenn überhaupt irgendwo, alle objektiven und subjektiven Bedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus bereits gegeben sind. Wenn daher die Begeisterung für den Anschluß an Deutschland  hier zuerst beim Bürgertum recht hoch stieg, während die Arbeiter noch eher zurückhielten, so bemerken wir bereits jetzt, unter dem Einfluß der Aufrichtung der sozialistischen Republik in Deutschland, wie wenig echt diese bürgerliche nationale Begeisterung war, da sie schon bedeutend abzuflauen beginnt, seitdem es klar wird, daß es nicht die schwarz-rot-goldenen Fahnen und schon gar nicht die schwarz-weiß-roten Fahnen sind, zu denen wir stoßen werden, sondern die roten Fahnen. Für die Arbeiter aber wird es im selben Maße klarer, daß unser Anschluß an Deutschland keine deutschnationale Politik ist, so wenig, als die rote Fahne eine nationale Fahne ist, sondern daß dieser Anschluß eine direkte Folge unserer sozialistischen Politik ist und eine unbedingte Forderung für ihre Fortentwicklung.

            Denn Deutschösterreich, das für sich allein keine wirtschaftliche Selbständigkeit behaupten kann, ist heute auch noch nicht imstande, den Sozialismus für sich allein zu verwirklichen. Dem stehen noch der überwiegend agrarische Charakter unseres Landes entgegen. Als ein Teil des großen Deutschen Reiches aber entscheidet sich unser Schicksal mit dem des ganzen deutschen Volkes. Als ein Teil der deutschen sozialistischen Republik ist der Fortbestand einer bloß bürgerlichen Republik bei uns unmöglich. Indem wir unseren Anschluß an das deutsche Volk vollziehen, werden wir durch seine soziale Kraft mit einem Male auf eine Entwicklungsstufe hinaufgerissen, die wir allein erst beträchtlich später zu erreichen vermöchten.

[…] //

            Der Krieg ist aus und er endet mit einer Weltenwende. Ja, jetzt wird erst vollends klar, was wir Sozialisten schon immer während des Krieges von ihm sagten, daß er selbst schon der Beginn dieser Weltenwende war, der Beginn des Zusammenbruches der bürgerlichen Welt.

In: Der Kampf, H. 12/1918, S. 776-784.

Otto Bauer: Geistige Weltkrise (1930)

Es gibt nichts Ungeistigeres als öster­reichische Wahlkämpfe. Kann man geistig ringen mit ungeistiger Brutalität, mit vul­gärer Spießerhaftigkeit? Und doch gibt es auch hierzulande Menschen, die die geistige Krise unserer Generation erschüttert mit­erleben. Auch hier Unterrichtete, Denkende, für die der Akt der Wahl Stellungnahme zu den Problemen der Kultur unseres Zeit­ alters ist.

Die Technik ist das Schicksal unserer Kultur. Krieg und Nachkriegsnöte haben ihrer Entwicklung mächtigen Anstoß gegeben. Wir leiten in Hochspannungs­leitungen von 220.000 Volt den elektrischen Strom Hunderte Kilometer weit. Wir bauen Dampfkessel mit einem Druck von hundert Atmosphären und Dampfturbinenanlagen, die 250.000 Pferdekräfte liefern. Wir brauchen zur Gewinnung der Kilowatt­stunde nur halbsoviel Kohle als vor dem

Kriege. Wir haben durch die Verwendung der Verbrennungskraftmaschinen im Auto, im Motorrad, im Traktor, im Tank, im Flugzeug, im Luftschiff unser ganzes Leben umgewälzt. Die Züchtung neuer Weizen­sorten hat die Zone des Getreidebaues um hundert Kilometer nach dem Norden vor­geschoben. Die Gewinnung des Stickstoffes aus der Luft hat die Erträge unseres Bodens bedeutend gesteigert. Der Mähdrescher, der das Getreide auf dem Felde

in einem Arbeitsgang schneidet und drischt, hat das Arbeitserfordernis zur Erntearbeit auf ein Viertel herabgesetzt. Die Preßluftwerkzeuge mechanisieren den Bergbau. Die Chemie gewinnt Oel aus Kohle, Seide und Futtermittel aus Holz. Spezialisierung und Automatisierung der Arbeitsmaschinen, Fließarbeit und laufendes Band wälzen unsere Fabriken um. Kino und Radio geben der Muße der Massen neuen Inhalt.

Mister Babbit bastelt abends an seinem Auto, der Angestellte an seinem Motorrad, der Arbeiter an seinem Radioapparat. Die Menschen werden mit stärkstem Interesse für alles Technische erfüllt.

Das ingenieursmäßige Denken wird zum vorherrschenden Denken der Zeit. Wir denken in Kurven, Gleichungen, Wirkungsgraden.

Die Naturwissenschaft ist in einen Zu­stand völliger Umwälzung geraten. Die Einspannung jedes Betriebes, jeder Maschine, jedes Haushaltes in das die Länder überdeckende elektrische Stromnetz macht das Denken unserer Generation für neue Weltbilder empfänglich. An die Stelle des anschaulichen mechanistischen Weltbildes des Zeitalters der jungen Maschinerie treten in einer Zeit, in der jedermann die Anwendung der Elektrodynamik täglich erlebt, die Vorstellungen der Feld-, der Elektronen-, der Quantenphysik.

Wir sind stolz auf diese Entwicklung. Wir jubeln den Ozeanfliegern zu. Wir feiern jedes neue große Elektrizitätswerk als einen Sieg, jede neue Leistung der Konstruktionsbüros der Maschinenfabriken, der Labora­torien der chemischen Industrie als eine Errungenschaft der Menschheit.

Und doch— je mehr wir den Siegeszug der Technik rühmen, desto grauenhafter wird uns die Welt, die dieser Siegeszug schafft!

Der Arbeiter am laufenden Band. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute in ewigem Einerlei, in ständiger Hast denselben Handgriff.

Der Angestellte an der Buchungmaschine, die für ihn schreibt und rechnet. Sein Lebensberuf, die Konti der Kunden, deren Namen mit dem Buchstaben 8 anfangen, zu führen!

Diese Menschen haben den Krieg, sie haben die Hoffnungen, die Leidenschaften, die Enttäuschungen der Revolution erlebt. Jetzt sind sie zu entgeistigter Arbeit Tag für Tag verdammt, zu einer Arbeit, die persönlicher Initiative, persönlicher Phan­tasie, persönlichem Geltungstrieb keine Betätigungsmöglichkeit gibt! Was ihnen die Arbeit versagt, suchen sie am Feierabend im Kino, auf dem Sportplatz. Sie suchen es auch im öffentlichen Leben. Je mechanischer, je monotoner die Arbeit, desto größer ihr Verlangen nach großem Erleben, ihre Sehnsucht nach dem großen Abenteuer. Die einen locken die Phantasiebilder der Weltrevolution zum Bolschewismus. Die andern lockt das Phantasiebild der nationalen Revolution zum Fascismus.

Hochgezüchtete Getreidesorten, Stickstoff­dünger aus der Luft, neue wunderbare Landmaschinen — der Erntesegen ist viel schneller gewachsen als die Kaufkraft der Welt. Millionen Bauernwirtschasten droht der Untergang. Der Bauer ist in Not. Der Bauer grollt. Und auch an ihn drängt sich die Versuchung heran: Ist das wahre Demokratie, was dir nicht einmal dürftigen Lohn für deine Arbeit mehr sichern kann?

In den Tiefen der Gesellschaft aber grollt die Masse der Arbeitslosen. Ja, wir brauchen nicht mehr halb soviel Kohle wie vordem zur Erzeugung einer Energieeinheit — aber Hunderttausende Kohlengräber bezahlen das mit der Arbeitslosig­keit! Ja, wir haben immer neue, immer vollkommenere Maschinen in den Dienst unserer Arbeit gestellt. Aber jede neue Maschine hat Menschen, Menschen aus Fleisch und Blut, Menschen mit Weib und Kind um Arbeit und Brot gebracht.

Fühlt ihr es nicht, wie die Erde unter euren Füßen bebt? Wenn die Kaffeepreise sinken, rast in Brasilien die Revolution. Wenn Europa dem Gefrierfleisch seine Grenzen sperrt, gibt es Straßenschlachten in Buenos Aires. Wenn die Baumwollpreise sinken, brennen in Indien die Flammen des Aufruhrs lichterloh. Und Europa? Europa mit seinen acht Millionen Arbeits­losen? Sind die deutschen Reichstagswahlen nicht ein warnendes Anzeichen?

In dieser im Innersten aufgewühlten Welt leben die Intellektuellen. Und das große Unbehagen packt auch sie.

Die Geldentwertung hat ihre Vermögen, ihre Renten vernichtet. Die wirtschaftliche

Not entzieht dem Arzt die Patienten, dem Rechtsanwalt die Klienten. Wer kauft noch Bücher? Wer Kunstwerke?

Und wie das wirtschaftliche Erbe der Intelligenz zerfallen ist, droht ihr Kulturerbe zu zerfallen. Das überlieferte humanistische Bildungsgut kann den Wettbewerb mit dem ingenieursmäßigen, positivistischen technisch-naturwissenschaftlichen Denken des Zeitalters nicht mehr bestehen. Was sagt der Phantasie dieser Generation Hephaistos neben Henry Ford, Dädalos neben Lindbergh? Man hat keine Zeit für die Antike, wenn man die moderne Technik verstehen lernen will, und liest kein griechisch Trauerspiel, wenn man vom Tonfilm kommt.

Gewiß, eine neue Wissenschaft steigt auf. Aber was kann sie der Masse der Gebildeten sagen? Ein halbes Jahrhundert erkenntniskritischer Arbeit hat uns ernüchtert. Uns löst die Naturwissenschaft keine Welträtsel mehr. Wir wissen: ihre Elektronen — das sind doch nur Hilfsmittel des Denkens, experimentell Erfahrenes zu ordnen; ihre Differentialgleichungen doch nur Rechnungsanweisungen, die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, zu be­rechnen.

Und die neue Kunst? Sind nicht diese Romane, diese Theaterstücke, deren Technik mit dem Film konkurriert, Symptome nur der Mechanisierung alles Geistigen?

Viele der Besten unter den Intellektuellen lehnen sich gegen diese Kultur auf. Aus diesem positivistischen, relativistischen Wissen, das mit der ingenieursmäßigen Denkweise aufsteigt, aus diesem Wissen, das an die Stelle der „ewigen, ehernen Gesetze“, in denen eine vergangene Zeit die Lösung der Geheimnisse der Schöpfung zu entdecken glaubte, ein bloßes System von Gleichungen setzt, das die Wahrscheinlichkeit aufzeigt, mit der einem Vorgang ein andrer folgen werde — aus ihm fliehen sie alle, die Ingenieure unter ihnen mit, ins Transzendente, suchen die Befriedigung in mit dem Metaphysischen spielendem Wortgepränge.

Und dieses ganze Unbehagen an der Kultur unserer Zeit, sie übertragen es auch auf das Politische.

Was ist aus der Demokratie, in die die Intellektuellen vor zwölf Jahren hineingeschleudert worden sind, was ist aus ihr geworden?

Auf der einen Seite eine Maske der Plutokratie. Nie haben die Großbanken, nie die großen Industriekonzerne den Staaten so ihren Willen diktieren können wie in dieser Zeit der wirtschaftlichen Not, die den Staat von den Kapitalsherren so abhängig gemacht hat.

Auf der andern Seite aber der Aufstieg der Massen — der Massen, so wie sie der Kapitalismus geschaffen hat. Mit rauhen Händen. Mit dürftiger Bildung.

Verständnislos steht ein Großteil der Intellektuellen dieser neuen Macht gegenüber. Ihre Organisationen, in denen der Arbeiter das Betätigungsfeld individueller Initiative, individuellen Geltungstriebes, individueller Führerqualitäten findet, das ihm die Fabrik versagt — dem Intellektuellen erscheinen sie als Ungetüme nivellierender Massenballung. Das bißchen mehr Lohn, die Höhe der Arbeitslosenunterstützung — für den Arbeiter sind es Lebensfragen. Mieter­schutz — für den Arbeiter ist es die Frage, ob seine Kinder im Pubertätsalter neben dem Ehebett der Eltern schlafen sollen, ob er am Feierabend ein behagliches Heim finden, ob er für Wanderung, für einen Urlaub etwas erübrigen soll. Zölle — für den Ar­beiter ist es die Frage, ob er noch Arbeit finden soll! Aber was sagt all das, was die Masse bewegt, dem Intellektuellen? Was Menschen, deren Schicksal es ist, ihr ganzes Leben lang in fremdem Dienst, unter fremdem Kommando arbeiten zu müssen der Kampf um das Mitbestimmungsrecht im Be­trieb, um das Recht der Betriebsräte und der Personalvertretungen, der Kampf gegen den Unternehmerterror, der dem Arbeiter mit der Arbeit auch die Gesinnung zu dik­tieren sich vermißt, bedeutet — wie soll es der Intellektuelle, der allein und frei an seinem Schreibtisch schafft, ganz fühlen können?

So sieht mancher Intellektuelle an der Masse nichts, als daß sie rauh und unge­bildet ist; daß sie in Not, Erregung, Zorn zur Gewalttätigkeit neigt; daß ihr Aufstieg den politischen Kampf vergröbert, mechani­siert, materialisiert hat. Enttäuscht wendet er sich ab. Nun ist er reif für den Versucher. Nun lockt ihn das Phantasiebild einer autoritären Ordnung, die die Masse bän­digen, der „Arbeit edleren Stammes“, der schöpferischen, geistigen Arbeit die Führung sichern, die die Kraft des ganzen Volkes zur nationalen Selbstbehauptung zusammenfassen werde. So wird er reif für den Fascismus.

Auf der einen Seite die dumpfgrollenden Massen, die sich gegen die kapitalistische Ordnung auflehnen, die fünfzehn Millionen keinen Arbeitsplatz, keinen Erwerb zu sichern vermag. Auf der andern Seite die kapitalistischen Klassen, die, demokratisch, solange die Demokratie ihre Herrschaft nicht gefährdet, täglich bereit sind, sich dem Fascismus in die Arme zu werfen, wenn die Demokratie gegen sie zu entscheiden droht. Und zwischen beiden die Zwischenschichten, die die wirtschaftliche und geistige Erschütterung unserer Zeit dem Fascismus in die Arme zu treiben droht — spürt ihr die Gefahr?

Es ist nicht nur eine Gefahr für wirt­schaftliche Güter, nicht einmal nur eine Ge­fahr für Menschenleben. Es ist mehr.

Die geistige Freiheit ist der Lebensquell aller Demokratie. Daß alle Meinungen, alle Gesinnungen im freien Wettbewerb um die Seele des Volkes ringen können und jene obsiegt, für die sich jeweils die Mehrheit des Volkes in Freiheit entscheidet, das ist das Wesen der Demokratie.

Keine Diktatur kann geistige Freiheit dulden. Der italienische Fascismus und der russische Bolschewismus, die sonst eine Welt scheidet, in einem sind sie eins: Ein Häuflein von Gewalthabern bestimmt, was gesprochen, gelehrt, gedruckt werden darf. Es gibt nur eine Meinung, nur eine Überzeugung, die erlaubt ist. Kein Lehrer, der sie nicht lehren will, wird an den Schulen, von der Volks- bis zur Hochschule, geduldet. Keine Zeitung, kein Buch, das sie nicht verkündet, kann ge­druckt, kein Kunstwerk, das ihr nicht dient, geschaffen werden. Wer eine andre Meinung zu äußern wagt, der endet auf den Liparischen Inseln da, auf der Ssolowkiinsel dort!

Drei Jahrhunderte lang sind die Besten der Menschheit auf den Scheiterhaufen, in den Bastillen, auf den Barrikaden für die geistige Freiheit gestorben. Sie ist das kostbarste Erbe des Kampfes dreier Jahr­hunderte. Das kostbarste Erbe, das uns die bürgerliche Geschichtsepoche hinterlassen hat. Sie ist heute in bitterernster Gefahr. Wenn die Gegensätze, die die wirtschaftliche und die geistige Weltkrise des Kapitalismus her­vorruft, die Demokratie sprengen, begraben sie die geistige Freiheit unter ihren Trümmern.

Sind aus der Schöpferkraft der geistigen Freiheit die ganze moderne Naturwissenschaft und damit auch die ganze moderne Technik geboren worden, so bringt jetzt die moderne Technik, die unter der Herrschaft des Kapitals alle wirtschaftlichen, sozialen, geistigen Widersprüche bis zur Sprengung der Demokratie zu entwickeln und zu verschärfen droht, ihre eigene Mutter, die geistige Freiheit, in ernsteste Gefahr.

Wo ist der Ausweg? Wo ist die Rettung der geistigen Freiheit?

Es ist der Kapitalismus, gegen den sich die Massen auflehnen. Der Kapitalismus, der die Demokratien kapitalistischen Plutokratien Untertan macht. Der Kapitalismus, der die harte Fron in Fabrik und Büro entadelt, indem er die Arbeit für die Gesamt­heit zum Dienst am Profit von Privatleuten erniedrigt. Der Kapitalismus, der immer wieder Millionen Menschen müßiggehen und darben läßt, obwohl die Maschinen da sind, die diese Menschen bedienen, die Rohstoffe, die sie verarbeiten möchten —, Millionen müßig gehen läßt, obwohl Millionen Nahrung und Kleidung und Wohnraum entbehren.

Eine Demokratie, die nur eine Maske kapitalistischer Plutokratie ist, eine Demo­kratie, die die kapitalistische Herrschaft im Staate und die kapitalistische Anarchie im Wirtschaftsleben verewigt, wird die Massen nicht festzuhalten vermögen. Eine Demokratie, die ohne schöpferisches Ideal in den kleinen Aufgaben des Alltags aufgeht, wird die Sehnsucht der an das laufende Band gefesselten Massen nach größerem, erhebenderem Erleben nicht befriedigen können. Die Demokratie wird nur dann im festen Willen der breiten Massen unzerstörbar ver­wurzelt sein, wenn sie die Massen durch die Tat überzeugt, daß sie die Gebrechen der Gesellschaftsordnung, gegen die sich die Massen auflehnen, allmählich zu überwinden, daß sie schrittweise eine andre, eine höhere, eine sozialistische Ordnung aufzubauen ver­mag.

Warum gibt es in Wien viel weniger Kommunisten und viel weniger Nationalsozialisten als in Deutschland? Weil das Werk der Gemeinde Wien hier der Masse gezeigt hat, daß auch eine mit den demo­kratischen Mitteln gewonnene und behauptete Macht befähigt ist, Zehntausenden Arbeit, Zehntausenden Wohnungen, Zehntausenden soziale Hilfe in der Not, dem ganzen Volke mehr Kultur für seine Kinder zu sichern, Keimzellen neuer sozialistischer Ordnung zu bauen.

Bolschewismus und Fascismus locken die Massen: Ihr müßt der Demokratie entsagen, euch einer Gewaltherrschaft unterwerfen, auf die geistige Freiheit, das kostbarste Erbe der Vergangenheit, verzichten; denn nur eine Diktatur kann euch aus eurer wirtschaftlichen, sozialen Not befreien, kann euer Bedürfnis nach größerem Erlebensinhalt befriedigen. Die Demokratie kann sich gegen ihre Lockungen nur behaupten, wenn sie der Masse durch die Tat beweist, daß sie selbst aus einer Herrschaftsform des Kapitals zum Werkzeug der Befreiung der Arbeiterklasse, zur Stätte schöpferischen sozialistischen Aufbaues werden kann.

Die bürgerliche Demokratie will geistige Freiheit ohne soziale Befreiung. Sie kann die Massen nicht festhalten. Der Bolschewismus und der Fascismus versprechen den Massen soziale und nationale Revolution, um den Preis des Verzichtes auf die Demokratie.

Das wäre das Ende der geistigen Freiheit. Der demokratische Sozialismus vereint das große Erbe der Vergangenheit mit der großen Aufgabe der Zukunft: eine sozialistische Welt, die entstehen soll aus freier Ent­schließung der im geistigen Ringen dem Sozialismus gewonnenen Völker, aufgebaut in freier Selbsttätigkeit sich demokratisch selbstregierender Massen.

Kann diese Vision des demokratischen Sozialismus Wirklichkeit werden? Es kann geschehen, daß sich die kapitalistischen Klassen dem Fascismus in die Arme werfen, sobald die Demokratie ihrer Herrschaft gefährlich wird. Daß sie die Entscheidung durch die Gewalt erzwingen. Daß die Demokratie in blutigem Bürgerkrieg zugrunde geht. Und Krieg und Bürgerkrieg haben immer in der Geschichte Diktaturen gezeugt. Das wäre das Ende der geistigen Freiheit. Gegen diese Gefahr kämpfen wir. Vor diesen Gefahren die Menschheit zu retten — das ist es, wo­rum der demokratische Sozialismus heute in der Welt ringt.

Das ist es. was unser Linzer Programm, um das Ignoranz und Lüge ihr Gewebe der Entstellung gewoben haben, verkündet hat. Klar, unzweideutig hat es verkündet: Wir wollen die Macht zum Umbau der Gesell­schaft erringen im demokratischen Kampf um die Seele der Mehrheit unseres Volkes. Wir wollen diesen Umbau vollziehen auf dem Boden der Demokratie, unter allen Bürg­schaften der Demokratie, unter der demokrati­schen Kontrolle des ganzen Volkes. Aber warnend hat das Linzer Programm hinzugefügt: „die Kapitalistenklasse werde versucht sein, die demokratische Republik zu stürzen, eine monarchistische oder fascistische Diktatur aufzurichten, sobald das allgemeine Wahl­recht die Staatsmacht der Arbeiterklasse zu überantworten droht oder schon überant­wortet haben wird“. Warnend hat das Linzer Programm hinzugefügt, daß jeder Versuch, die Entscheidung des Stimmzettels zu er­setzen durch die Entscheidung der Gewalt das Land in den Bürgerkrieg stürzen würde. Und der Bürgerkrieg freilich gebiert, wer immer in ihm siege, nach allen Erfahrungen der Geschichte die Diktatur. Bestätigen die Gefahren, in denen Österreich heute schwebt, bestätigen sie nicht die große Warnung des Linzer Programms?

Wir haben in unserem Lande 1919 — zwischen Budapest und München — die Demokratie vor dem Bolschewismus gerettet. Wir haben sie heute — zwischen Rom und Budapest— vor dem Fascismus zu retten. Das ist unser Kampf um die Demokratie — um das kostbare Gefäß der geistigen Frei­heit!

Die geistige Freiheit — sie allein kann allmählich die geistige Weltkrise überwinden, die die Besten unserer Zeit erschüttert. Die bürgerliche Demokratie, eine Demo­kratie ohne großes, begeisterndes Ziel, eine Demokratie, die restlos aufgeht in den kleinen Tageskämpfen um Zölle und Unter­stützungssätze und Steuern, eine Demokratie, die sich erschöpft in dem ewigen Einer­lei täglicher Kompromisse — sie sagt dem Geiste der Zeit zu wenig. Eine Intelligenz, die aufgeht in der Ideallosigkeit des täglichen Getriebes der bürgerlichen Demokratie, denkt skeptisch, relativistisch. Sie flüchtet vor ihrer eigenen Skepsis, vor ihrem eigenen Rela­tivismus, vor ihrer eigenen Ideallosigkeit in die Sehnsucht nach dem Abenteuer, nach der geschichtlichen Tat, nach der straffenden Disziplin, in die Sehnsucht nach dem Fascismus und bringt so den Lebensquell ihres, eigenen Schaffens, die geistige Freiheit, in Gefahr. Nur die Vision des demokratischen Sozialismus kann die Demokratie mit einem Ideal beseelen, ihre kleinen Tageskämpfe durch ein hohes Ziel, das sie verknüpft, adeln, das Bedürfnis der zur entseelten Arbeit verdammten Masse nach größerem, höherem Erlebnis befriedigen, den skeptischen Relativismus der Intelligenz, der sich, seiner selbst überdrüssig, geistig in das Abenteuer metaphysischer Romantik, politisch in das Abenteuer des Fascismus wirft, durch ein hohes Schaffens-, durch ein hohes Kampfziel überwinden.

Das Zeitalter ist zerrissen im Verhältnis zu seinen eigensten Errungenschaften. Stolz auf die Technik und doch unzufrieden mit den sozialen und geistigen Wirkungen der technischen Umwälzung. Die sozialistische Organisation des Wirtschaftslebens — es ist nichts andres als die Aufgabe, die Technik, die unter der Herrschaft des Kapitals den Arbeiter aus der Produktionsstätte hinausschleudert, den Bauern in Not stürzt, das geistige Leben mechanisiert, zum Instrument zu verwandeln, den Wohlstand aller zu heben, die Arbeits­mühe aller zu lindern, die geistige Kultur der Massen zu bereichern. Die Aufgabe, die Wissenschaft in ihrer technischen Verwertung, die heute über das Volk wie ein grausames, Lebensgrundlagen und Lebensglück von Millionen zerstörendes Schicksal hereinbricht, den Völkern zum dienenden, bereichernden Erbe zu geben und damit den Völkern zu ver­söhnen. Gibt es ein andres Ideal, das das ingenieursmäßige, das technisch-naturwissenschaftliche, das positivistische Denken unserer Zeit, das so viele nicht zu befriedigen vermag und sie darum zur Flucht in das trügerische Wortgepränge neumodischer Scheinmetaphysik treibt, vereinigen und versöhnen könnte mit den hohen Menschheitswetten, die der beste Kern unserer humanistischen Kulturtradition sind?

Aber halt! Da sprechen wir von Mensch­heitsproblemen. Sie werden nicht in Österreich gelöst werden. Über sie wird sicherlich nicht in diesem Wahlkampf entschieden. Und doch — es gibt einen Faden, der die Probleme der großen geistigen Weltkrise der Zeit selbst mit unserem kleinen österreichischen Tages­kampf verbindet!

Die Bürger dieser Stadt mögen die rote Gemeindeverwaltung schmähen wie sie wollen — es bleibt dennoch wahr, daß ihr Werk ein Gegenstand des Stolzes, ein Mittel der Wer­bung für den demokratischen Sozialismus der Welt ist. Bei englischen Grafschaftswahlen und schweizerischen Gemeindewahlen, in reichsdeutschen und in französischen Wahlkämpfen haben die Sozialisten das Werk der Gemeinde Wien als ein werbendes Beispiel der Schaf­fenskraft des demokratischen Sozialismus Bürgern, Fascisten und Bolschewiken ent­gegengehalten. Wo immer Sozialisten mit Bourgeois, mit Fascisten und Bolschewiken diskutieren, wird um Wien gekämpft! Wir haben der Welt des demokratischen Sozialis­mus etwas gegeben. Wir haben für sie etwas zu verteidigen. Unser Kampf um Behauptung und Entwicklung unserer Leistung gegen spießerhafte Unkultur und fascistische Bruta­lität — es ist ein Kampf, dessen Ausgang für die Werbekraft der Idee des demokratischen Sozialismus in der Welt etwas bedeutet! In der Enge unseres Raumes ringen wir doch um etwas, was der großen Welt wichtig und wert ist, ringen wir um unseren Beitrag zu der Be­wältigung der Aufgabe, die der Welt gestellt ist: der Aufgabe der Synthese der Demo­kratie und des Sozialismus. Der Demokratie, der Bürgin der geistigen Freiheit, und des Sozialismus, der Lösung der geistigen Weltkrise. (Aus: Der Kampf, H. 11/1930, S. 449-454.)

In: AZ, 1.11.1930, S. 4-5.