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Karl Renner: Das Urteil des Staatskanzlers über den Vertrag. (1919)

                Wenn man das gesamte Vertragsinstrument mit seinen 381 Artikeln durchgelesen hat, ist man erschüttert von der Tragweite der politischen Umwälzung, die durch den Vertrag für das Zentrum Europas bewirkt wird. Schwere Besorgnis erfüllt uns für die deutschen Alpenländer, die eine Schuld büßen müssen, von der ihre Bevölkerung nichts weiß. Freilich spricht, und das muß trotz alledem zum Lob des Vertrags gesagt werden, aus jeder Seite das sorgfältige Bemühen der Konferenz, der österreichischen Sphinx ihre Rätsel abzugewinnen und die verworrenen Verhältnisse halbwegs zu ordnen. Die Konferenz hat viel Fleiß auf den Vertrag verwandt, aber sie konnte, was nicht verwunderlich ist, dennoch die innersten wirtschaftlichen Zusammenhänge nicht vollständig erfassen, noch hat sie in gerechter Weise die Übel und Lasten, die der Krieg zurückgelassen hat, auf die Nachfolgestaaten verteilt.

            Politisch und national sind wir schwer getroffen. Die von der Nationalversammlung unserem Land gegebene Bezeichnung Deutschösterreich entspricht den Tatsachen nicht mehr. Der Gedanke der Novemberrevolution, alle deutschen Siedlungen des alten Österreich auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu einem Staat zusammenzufassen, ist vereitelt. Unser Staat ist beschränkt auf die deutschen Alpenländer. Die vierhundertjährige Gemeinbürgerschaft der Alpen- und Sudetenländer ist zerrissen. Auch von den deutschen Siedlungsgebieten in den Alpen sind uns wesentliche Stücke vorenthalten. Der geheiligte Boden, das geschlossene Südland deutscher Zunge Südtirol wird dem italienischen Königreich unterworfen. Das urdeutsche Marburg, dessen deutschen Charakter die Antwortnote selbst hervorhebt, soll in Hinkunft seine Vertreter nach Belgrad schicken. Das kerndeutsche Abstaller Becken ist verloren. Das einzige Radkersburg verbleibt uns. Der Schmerz über diese Verluste kann nicht gemildert werden durch die Freude darüber, daß das Alpenvorland im Leithagebirge, nachdem es vier Jahrhunderte unter Fremdherrschaft stand, uns wieder zurückgegeben wird. Feldsberg bleibt verloren und der Gmündner Bahnhof ebenso. Die Nationalversammlung wird selbst darüber entscheiden müssen, ob trotz dieser Opfer dieser Vertrag unterzeichnet werden kann.

            National bedeutet dieser Vertrag für die Republik das schwerste Opfer. Sie büßt ihre Handlungsfreiheit ein und das mit elementarer Gewalt in den Novembertagen hervorgetretene Anschlußbestreben ist auf den schwierigen Weg von Verhandlungen mit dem Völkerbund verwiesen.

            Die deutschen Alpenländer werden politisch allein stehen. Wie können sie das? Die Entente gibt uns die Antwort: Wir schicken euch die Reparationskommission. Sie wird eure Lasten prüfen und eure Lebensnotwendigkeiten wahrnehmen. Sie wird bestimmen, wieviel Kohle ihr zum Heizen bekommt, wieviel Nahrungsmittel ihr aus dem Ausland zuführen könnt, wie ihr eure Schulden zahlen und wie ihr Kredite bezahlen sollt. Wir erhalten eine politische Souveränität, von der wir kaum Gebrauch machen dürfen, und dazu die vollständige ökonomische Oberhoheit der alliierten Großmächte, die sich in der Reparationskommission verkörpert. Über der Kommission steht dann als höchste Instanz der Völkerbund. Man ist versucht zu sagen: Das wäre wohl zu ertragen, wenn man nur wüßte, ob der Völkerbund bestehen wird und ob er so organisiert sein wird, daß er gerecht zu sein imstande ist. Wenn man nur wüßte, ob und welchen Plan die alliierten Großmächte haben, um unserer handgreiflichen wirtschaftlichen Unzulänglichkeit abzuhelfen.

            Jedenfalls ist für Deutschösterreich der Bestand und das Funktionieren des Völkerbundes ein Essentiale des Vertrages, mit dem auch dieser steht und fällt. Sehr erschwert haben sich die Mächte ihre Aufgabe und uns das Leben dadurch, daß sie uns für alle Sünden des alten Regimes zum Sündenbock gemacht haben und uns ein Übermaß von Kriegsschulden, nichttitulierten Schulden, Auslandsschulden, Valutaschulden und im Ausland befindlichen Banknoten aufgebürdet haben. Sie wollen den Ertrinkenden retten und belasten ihn zuvor mit einem Mühlstein. Offenbar rechnen sie mit dem Lebenswillen und der eigenen Kraft des Schwimmers.

            In der Tat ist unser Volk vor die furchtbarste Prüfung gestellt. Diese Probe wird uns entweder außerordentlich ertüchtigen oder dauernd verelenden. Sie setzt dem Sichgehenlassen, In-den-Tag-Hineinleben, den Herrgott einen guten Mann sein lassen und den sonstigen uns überlieferten „Nationaltugenden“ ein jähes Ende.

            Wir müssen uns zusammennehmen in einem doppelten Sinne, uns einheitlich organisieren, eine wirkliche Gemeinschaft werden im ganzen und alle Kraft einsetzen jeder einzelne. Dann kann es gelingen.

In: Neue Freie Presse, 4.9.1919, S. 1.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Der Zerfall des Reiches (1918)

Der kroatische Landtag hat heute beschlossen, die kroatisch-ungarischen Ausgleichsgesetze vom Jahre 1868 für null und nichtig, die Königreiche Kroatien, Slavonien und Dalmatien für vollständig unabhängig sowohl von Österreich als auch von Ungarn zu erklären. Die Kroaten sind es, die Treuesten der Treuen, die zuerst in aller Form Rechtens, durch Beschluß ihres verfassungsmäßigen Landtages den Abfall von der Monarchie verkünden! Vor wenigen Wochen noch ist der Herr Graf Tisza in Kroatien wie ein Diktator herumgefahren, haben die Magyaren noch den schamlosen Plan erörtert, die serbischen Komitate von Kroatien abzutrennen, um sie besser magyarisieren zu können, haben Österreich und Ungarn noch um Bosnien und Dalmatien gefeilscht, als wäre das südslavische Volk ihr Eigentum, das sie nach ihrem Gutdünken zerstückeln und zu Tauschgeschäften benützen könnten. Jetzt ist es mit einemmal vorbei! Die Südslaven sind frei. Und da die Truppen in Kroatien dem südslavischen Nationalrat huldigen, da sich die Heere der Entente der slavonischen Grenze nähern und Wilson schützend seine Hand über die Freiheit der Südslaven hält, kann Ungarn es nicht wagen, einen Feldzug gegen Kroatien zu beginnen. Ungarn hat die ganze Welt in Unruhe versetzt, um nur den Serben keinen Zugang zum Meere, denn mit Kroatien ist auch Fiume verloren. Ungarn und Österreich haben den Krieg begonnen, um der Monarchie den Besitz Bosniens zu sichern; jetzt werden beide viel, viel mehr verlieren als Bosnien!

In Prag hat sich der tschechische Nationalrat mit der böhmischen Statthalterei geeinigt. Sie werden fortan die Verwaltung gemeinsam führen: die Bürokratie der Statthalterei wird unter Aufsicht der Bevollmächtigten des Nationalrates verwalten. In ähnlicher Form hat der tschechische Nationalrat auch die Brünner Statthalterei seiner Aufsicht unterworfen. So geht die Revolution ihren Gang: Schritt für Schritt geht die Staatsgewalt aus den Händen der k.k. Regierung in die Hände der freigewordenen Völker über. Und nur weil die Staatsgewalt durch die Niederlage im Kriege und durch den Abfall aller Völker völlig gebrochen, klug genug ist, jeden Widerstand gegen das Unvermeidliche aufzugeben, vollzieht sich die große Umwälzung, die Auflösung des alten Reiches ohne Gewalttaten und ohne Blutvergießen.

Auch Deutschösterreich muß nun nach. Die Nationalversammlung wird sich morgen zum zweitenmal versammeln. Der Vollzugsausschuß legt ihr Anträge vor, die, zum Beschluß erhoben, wahrhaft geschichtliche Bedeutung erlangen werden. Vor allem die Verfassung des neuen deutschösterreichischen Staates. Der Vollzugsausschuß soll zu einem Staatsrat ausgestaltet werden, der der eigentliche Souverän Deutschösterreichs sein, die Regierung ernennen, die von der Nationalversammlung beschlossenen Gesetze kundmachen wird. Nimmt die Nationalversammlung diese Beschlüsse an, so wird in den nächsten Tagen die erste Regierung Deutschösterreichs gebildet werden und sie wird die Verwaltung des Landes übernehmen. Damit wird auch das deutsche Volk in Österreich frei werden, über sein Geschick zu entscheiden. Und der erste Schritt zum auf dem neuen Wege zur Freiheit wird ein Schritt zum Frieden sein. Der Vollzugsausschuß wird morgen der Nationalversammlung auch eine Note an den Präsidenten Wilson vorlegen, die Amerika die Bildung des selbständigen deutschösterreichischen Staates bekanntgibt, für ihn das Recht beansprucht, durch seine Bevollmächtigten die Friedensverhandlungen zu führen, und jedem anderen das Recht abspricht, im Namen Deutschösterreichs Frieden zu schließen. Die k. und k. Diplomatie hat über uns den Krieg verhängt; den Frieden werden die Völker selbst schließen!

Indessen spinnen sich um den Frieden alle möglichen Ränke. Die Note des Grafen Andrassy wird von den einen überschwenglich gelobt, von den anderen leidenschaftlich bekämpft. Die einen rühmen Andrassys Entschluß, ohne Rücksicht auf Deutschland Waffenstillstand und Sonderfrieden zu schließen, als eine sittliche Tat, die den Frieden näherbringe. Die anderen bekämpfen den Abfall vom Deutschen Reiche leidenschaftlich als Undank und Untreue. Aber der Eifer beider verdunkelt nur eine sehr einfache Tatsache. Daß nach allen den ungeheuren Blutopfern, die Deutschland in diesen vier Jahren der Verteidigung des habsburgischen Länderbesitzes gebracht hat, das Sonderfriedensangebot ein Akt des Undanks und der Untreue ist, kann niemand leugnen; [3 Zeilen von der Zensur gestrichen, im Text als Auslassung markiert]

Damals, als Deutschland durch dreiste Eroberungspläne den Frieden verhinderte und die Freiheit Europas bedrohte, wäre eine Trennung von Deutschland eine sittliche Tat, eine Tat für Freiheit und Frieden gewesen; jetzt, da Deutschland in der Not, der deutsche Imperialismus gebrochen ist, da nicht mehr der deutsche, sondern der Entente-Imperialismus dem Frieden im Wege steht, werden wir uns den Sonderfrieden nicht als rühmliche Tat einreden lassen. Er ist keine sittliche Tat, sondern nur eine Tat der bittersten Not. Er ist ein Verbrechen wider beschworene Treue, aber ein Verbrechen aus unwiderstehlichem Zwang. Von allen seinen Völkern verlassen, der schwersten wirtschaftlichen und der schwersten politischen Krise verfallen, an der italienischen und an der serbischen Grenze heute schon, an der rumänischen in naher Zukunft tödlich bedroht, kann das zusammenbrechende Reich einfach nicht anders, als den Frieden um jeden Preis und auf jede Art zu erbitten. Es ist albern, den Grafen Andrassy, der zur Zeit, als der deutsche Imperialismus der gefährlichste Feind des Friedens und der Freiheit war, zu den treuesten Schildknappen Ludendorffs gehört, als den Schrittmacher des Friedens zu rühmen, weil er jetzt tut, was er muß; es ist aber auch kindlich, dem magyarischen Grafen als einem Verräter am deutschen Volke zu fluchen, weil er mit allen Mitteln zu retten sucht, was nicht mehr zu retten ist. Sein Entschluß ist jenseits von gut und böse; es ist die Kapitulation eines zusammengebrochenen Reiches, das keine andere Möglichkeit und keine andere Funktion mehr hat als die, den Kampf einzustellen, den Waffenstillstand zu schließen und es den Völkern, die durch seinen Zusammenbruch frei werden, zu überlassen, ihren Frieden untereinander und ihren Frieden mit der Welt selbst zu schließen.

Aber freilich, so wenig wir leugnen wollen, daß der Graf Andrassy nur das Unvermeidliche, ihm durch die militärische und politische Lage Aufgezwungene getan hat, so ist es uns doch klar, daß es heute Leute gibt, die aus der Lage, die durch die Trennung von Deutschland geschaffen worden ist, gefährlichen Gewinn zu schöpfen hoffen. Es gibt unzweifelhaft höfische Kreise, die hoffen, mit der Entente ein Geschäft machen, mit ihrer Hilfe den Bestand der Monarchie retten zu können, wenn sich die Monarchie nur von Deutschland abkehrt. Und insbesondere die Magyaren hoffen, die Entente werde sie für den Abfall von Deutschland belohnen, indem sie ihnen die Herrschaft über Slovaken und Rumänen läßt. Darin steckt eine Gefahr, eben die Gefahr, daß beim Friedensschluß die Interessen der Völker preisgegeben werden, um die Zustimmung der Entente zum Fortbestand der Monarchie und zur Sicherung magyarischer Herrschaft zu erlangen. Deshalb müssen die Völker jetzt erst recht darauf bestehen, daß sie völlig unabhängig sind, daß nur sie allein berechtigt sind, die Friedensverhandlungen zu führen, nur sie allein befugt, ihre staatliche Ordnung zu vereinbaren. So unvermeidlich der Entschluß des Grafen Andrassy war, so unvermeidlich ist es, daß die Völker, daß insbesondere die Deutschen in Österreich aus ihm nun erst recht den Schluß ziehen, daß nur ihre völlige Freiheit, ihre völlige Unabhängigkeit sie davor bewahren kann, daß ihre Interessen zum Preis für die Rettung der Dynastie und für die Rettung der magyarischen Oligarchie werden. So vollzieht sich der Zerfall des Reiches unaufhaltsam. Selbst die Mittel, durch die man ihn aufhalten will, beschleunigen ihn nur. Jeden Tag stürzt ein neues Stück von dem alten Bau.

In: Arbeiter-Zeitung, 30.10.1918, S. 1.

N.N. [Leitartikel]: Die Umwälzung. (1918)

            Wien ist von morgen an nicht nur eine deutsche Stadt, sondern eine Stadt in Deutschland, in der deutschen Republik. Dies mag für uns Wiener der sinnfälligste Ausdruck des ungeheuren Umsturzes sein, den wir in diesen Tagen miterleben.

            Kaiser Karl hat auf seinen Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet. Er behält den Titel eines Kaisers, erklärt aber gleichzeitig, daß er die Entscheidung Deutschösterreichs über seine zukünftige Staatsform anerkennt. Nun wird Deutschösterreich morgen seine Umwandlung in eine Republik und seinen Anschluß an die deutsche Republik verkünden. Von der kaiserlichen Würde bleibt somit nichts andres übrig als der Titel.

            Aber das Wort, das der Kaiser über die Anerkennung unsrer zukünftigen Staatsform gegeben hat, verbürgt uns, daß der morgige Tag in Ruhe und Frieden verlaufen wird und daß auch der kaisertreueste Offizier keine Veranlassung haben kann, seine Waffen gegen den Willen des Volkes zu erheben. Es gibt in diesem neuen Staate keine Macht mehr, die sich gegen die republikanische Regierungsform und gegen unser restloses Eingehen in die so herrlich neugestärkte Gemeinschaft der deutschen Brüder wehren könnte. So haben diese Tage des tiefsten Leides es neuerdings bewiesen, daß niemand Deutschland zu schwächen und zu verkleinern vermag. Die deutschen Männer, die an den Küsten des Eismeeres, in Italien und am Balkan begraben liegen, sind nicht umsonst gestorben.

            Wir wollen mitten im Jubel den schweren und langen Weg nicht vergessen, der uns noch von der Vollendung unsrer neuen Heimat trennt. Die Loslösung von den früheren Staatsgenossen, die Angliederung an ein neues Staatsgebilde, das selbst noch alle Wehen der Umbildung durchzumachen hat, können noch Schwierigkeiten der ernstesten Art bringen. Neue Staaten können nicht mit dem Gefühl allein gebildet, sie müssen mit kühler, verstandesmäßiger Überlegung aufgebaut werden. Auch wir alle, die politisch mit ihm nicht eines Sinnes waren, müssen uns trauernd eingestehen, daß der Tod Viktor Adlers in dieser Stunde für unsre Republik ein Schicksalsschlag schwerster Art ist. Seine Lauterkeit hätte dem neuen Staate, die Art, wie er allein die Rede meisterte, hätte den Friedensverhandlungen Dienste getan, in denen ihn kein anderer zu ersetzen vermag.

            Der Antrag des Staatsrates, der morgen in der Nationalversammlung zur Annahme gelangen wird, hebt alle Vorrechte der Geburt auf und verbürgt allen politischen Ansichten durch die Festlegung des Verhältniswahlrechtes die Gleichberechtigung. Wir dürfen hoffen, daß keine politische Partei den Drang verspüren wird, die Umgestaltung in ein beschleunigteres Tempo zu versetzen. Damit zerfällt auch die Drohung der Entente, sie würde, um bolschewistische Regungen zu unterdrücken, in Deutschland einmarschieren, in Nichts. Sonst könnten der König von Italien, die englischen Lords und die regierenden französischen Advokaten am eigenen Leibe verspüren, was sie uns so lange vorgehalten haben, daß nämlich in diesem Kriege die militärischen Siege nichts gelten.

In: Neues 8 Uhr-Blatt, 11.11.1918, S. 1.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Deutsch oder russisch? (1918)

Die Demokratie die die Voraussetzung des Sozialismus –: das war bis vor einem Jahre die gemeinsame Überzeugung aller Sozialdemokraten der Welt, die Überzeugung, die den Sozialismus vom Anarchismus schied. Im Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist die Sozialdemokratie entstanden; daß alle Macht im Staate Vertretungskörperschaften übertragen werden müsse, die vom ganzen Volk frei gewählt werden sollen, war die erste Forderung jedes sozialdemokratischen Programms.  Wofür wir gekämpft haben seit einem halben Jahrhundert, das zu verwirklichen ist jetzt in unserer Macht: Die Fürsten sind davongejagt, die Herrscherhäuser beseitigt, die Wahlrechtsprivilegien zertrümmert; wir können jetzt, wenn wir nur wollen, die alte Forderung restlos verwirklichen, alle Macht der vom ganzen Volk gewählten Körperschaft übertragen.

            Aber jetzt, da wir diesem Ziele nahe sind, halten manche unserer Genossen seine Verwirklichung nicht mehr für erstrebenswert. Der demokratischen Selbstregierung des ganzen Volkes, für die sie selbst seit Jahrzehnten gekämpft haben, stellen sie jetzt die „Diktatur des Proletariats“ entgegen. Nicht Vertretungskörper, die aus allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt werden, sollen das Land regieren, sondern Arbeiter- und Soldatenräte. Es soll nicht allen Staatsbürgern das gleiche politische Recht zustehen, sondern die Arbeiter und die Soldaten allein sollen den Staat beherrschen, die Angehörigen aller anderen Klassen sollen von allen politischen Rechten ausgeschlossen sein.

            Der Gedanke ist zuerst in Rußland aufgetaucht. Die zweite russische Revolution im Oktober 1917 gab die Herrschaft den Arbeiter- und Soldatenräten. Doch dachte man auch damals noch nicht daran, die Räte an die Stelle der aus dem allgemeinen Wahlrecht gewählten Nationalversammlung zu setzen. Erst nach der Oktoberrevolution wurde die Nationalversammlung gewählt und einberufen. Als es sich aber zeigte, daß die Industriearbeiter in dem überwiegend noch bäuerlichen Lande eine Minderheit sind, daß daher über die Mehrheit in der Nationalversammlung die Vertreter der Bauernschaft verfügten, jagten die Bolschewiki die Nationalversammlung auseinander, ohne eine neue Nationalversammlung wählen zu lassen. Jetzt erst tauchte der Gedanke auf, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt nicht geeignet sei, ein sozialistisches Gemeinwesen zu begründen; nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte könne den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung herbeiführen.

            Diese Ansicht ist damals schon heftig bekämpft worden; nicht nur in Rußland von den Menschewiki und den Sozialisten-Revolutionären, sondern auch von den sozialdemokratischen Parteien West- und Mitteleuropas. Besonders Kautsky, der bedeutendste und bekannteste Vertreter der Marxschen Schule, hat in seiner lesenswerten Broschüre Die Diktatur des Proletariats die neue Lehre der Bolschewiki heftig bekämpft. Er hat gezeigt, daß der Versuch, die Demokratie durch die Diktatur, die Gleichberechtigung aller durch das Privileg der Arbeiter und Soldaten zu ersetzen, die Alleinherrschaft der Arbeiter durch die politische Entmündigung der Kleinbürger und der Bauern zu begründen, zu nichts anderem führen könne, als zu blutigen Bürgerkriegen, zu endlosen Wirren, innerhalb deren die große Aufgabe des Ausbaues einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht vollbracht werden könne. Wohl müsste das Proletariat die Herrschaft im Staate zu erringen suchen; aber das könne es nicht gegen die Demokratie, nicht dadurch, daß es das allgemeine Wahlrecht beseitigt, sondern nur dadurch, daß es die Mehrheit der Wähler für sich gewinnt.

            In Rußland freilich hat ein sehr großer Teil der Arbeiterklasse an der Ansicht festgehalten, daß nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte die kapitalistische Gesellschaftsordnung zertrümmern könne. In der Tat ging ja diese Ansicht aus den besonderen russischen Verhältnissen hervor. Da das industrielle Proletariat kaum ein Zehntel der Bevölkerung Rußlands bildet, kann es nicht hoffen, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht ihm die Mehrheit in der Nationalversammlung gibt. Deshalb sind die Bolschewiki Gegner des allgemeinen Wahlrechtes; deshalb haben sie den Grundsatz verfochten, nicht eine aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgegangene Nationalversammlung, sondern die von den Arbeitern und Soldaten gewählten Räte allein sollten den Staat beherrschen. Die Formel „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ ist hervorgegangen aus der wirtschaftlichen Rückständigkeit Rußlands.

            Aber in Rußland entstanden, hat diese Staatsidee bald über die Grenzen hinaus gewirkt. Auch die große deutsche Revolution hat die Macht zunächst in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte gelegt. So tauchte auch in Deutschland die Frage auf: Soll die Staatsgewalt in den Händen der Räte bleiben oder soll die von den Räten ernannte Regierung die Wahl einer Nationalversammlung ausschreiben, damit das ganze deutsche Volk durch allgemeines und gleiches Wahlrecht seine künftige Regierung einsetze? Deutschland steht also heute vor derselben Frage, vor der vor einem Jahr Rußland stand. Aber es hat diese Frage unter ganz anderen Voraussetzungen zu beantworten.

            In Deutschland ist das Proletariat nicht wie in Rußland eine kleine Minderheit, sondern die große Mehrheit der Bevölkerung. Die russischen Arbeiter können bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht die Mehrheit in der Nationalversammlung nicht erringen; die deutschen Arbeiter brauchen nur einig zu sein, um die Mehrheit in der Nationalversammlung zu erobern! Nur Kleinmütige, die der deutschen Arbeiterklassen nicht die Fähigkeit zutrauen, ihr eigenes Interesse zu erkennen, können glauben, daß das deutsche Proletariat sein Schicksal dem allgemeinen Wahlrecht nicht anvertrauen könne. Wer zu der Einsicht des deutschen Proletariats Vertrauen hat, darf darauf rechnen, daß das deutsche Proletariat auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes unschwer die Mehrheit in der Nationalversammlung erobern wird. Die Herrschaft des Sozialismus in Deutschland wird ungleich gefestigter sein, wenn sie sich auf eine vom ganzen Volke gewählte Nationalversammlung stützt, als wenn sie einen großen Teil des deutschen Volkes aller politischen Rechte beraubt; denn nur das gleiche Recht aller, nicht das Privileg einer Klasse kann eine feste und gesicherte Regierungsform begründen.

            Der Versuch einer Sowjetdikatur hätte in Deutschland zunächst wohl dieselben Wirkungen wie in Rußland: er würde den offenen Bürgerkrieg herbeiführen und dadurch das ganze Wirtschaftsleben zerrütten und die Gefahr der Einmengung des Entente-Imperialismus in Deutschlands innere Verhältnisse vergrößern. Ein so gefährliches Experiment wäre begreiflich, wenn es für Deutschlands Arbeiterklasse keinen anderen Weg gäbe, sich von der Kapitalsherrschaft zu befreien. Aber so ist es nicht. In dem russischen Agrarland mag das Proletariat nur durch die Diktatur die Macht festhalten können; in dem deutschen Industriestaat kann das Proletariat durch die Demokratie die Herrschaft erringen. Das deutsche Proletariat hat nicht russische Beispiele ungeprüft zu übernehmen; es hat nach seinen besonderen deutschen Kampfbedingungen seine Waffen zu wählen.

            Die Konferenz der Bundesstaaten hat beschlossen, eine konstituierende Nationalversammlung wählen zu lassen und die Vorbereitungen zur Wahl möglichst zu beschleunigen. Damit ist die grundsätzliche Entscheidung gegen die Diktatur, für die Demokratie gefallen; auch in Deutschland soll das Volk durch die Wahl der Nationalversammlung entscheiden, ob es eine Geldsackrepublik oder eine sozialistische Republik haben will. Gelingt es den deutschen Arbeitern allen inneren Zwist zu überwinden und ihre ganze Kraft gegen die Bourgeoisie zu sammeln, dann wird die deutsche Republik das erste wirklich sozialistische Gemeinwesen der Welt sein. Und der Sieg des deutschen Proletariats wird auch unser Sieg sein. Denn auch Deutschösterreich wird ein Teil des sozialistischen Deutschland von morgen sein.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.11.1918, S. 1.

Friedrich Austerlitz: Ein Tag gewaltigsten Umsturzes (1918)

Welch ein Tag! In seinem Rahmen drängen sich Ereignisse zusammen, die wie Flammenzeichen aufsteigen und der ganzen Erde das Ende Österreichs verkünden. Das endgültige, furchtbare, schreckliche Ende!

Am Piave ist der Widerstand der österreichisch-ungarischen Armee zusammengebrochen und so hat sie um den Waffenstillstand gebeten. Mittwoch früh 1 hat das Armeeoberkommando zu der italienischen Heeresverwaltung einen Parlamentär geschickt. Die Italiener haben die Verhandlungen zuerst abgelehnt […] Der Sieg der Feinde ist vollendet; es gibt keine Gegenwehr mehr in Österreich, weil es kein Österreich mehr gibt. Es war von den schwarz-gelben Patrioten doch recht voreilig auf das „Österreich der Front“ stolz und rühmend hinzuweisen. Würdig an den Zusammen-//bruch des Landheeres reiht sich die Auflösung der Kriegsmarine an: Die österreichisch-ungarische Kriegsflotte besteht seit heute nicht mehr. Sie wird einfach dem kroatischen Nationalrat übergeben, der auch sofort seine Flagge hissen kann. Die Mannschaften können, wenn sie nicht Südslaven sind, nach Hause gehen; aber der ganze Stab kann auch bei dem Nationalrat Dienst nehmen. Die Übergabe wird mit der Stimmung der südslavischen Mannschaften folgendermaßen begründet: „Die Erklärung der Trennung Ungarns von Österreich, dann die Erklärungen des tschechischen und südslavischen Nationalrates konnten nicht ohne Einwirkung auf die Mannschaften der Kriegsmarine bleiben. Die Rückberufung der Mannschaften durch die Nationalräte hätte derart auflösend gewirkt, daß blutige Zusammenstöße zwischen den einzelnen Nationalitäten nicht unwahrscheinlich würden und die Flotte dadurch wehrlos gemacht, dem Feinde zum Opfer gefallen wäre. Dem vorzubeugen und das wertvolle Material der Kriegsmarine den Nationalstaaten Österreich-Ungarns zu erhalten, entschloß man sich zu dem bekannten Schritte, als dem einzig richtigen in dieser schwierigen Lage.“ Die Behörden haben bei der Übergabe das Eigentumsrecht der „nichtsüdslavischen Nationen“ geltend zu machen und sich die seinerzeitige „Ablösung“ vorzubehalten. Protokollarisch vorzubehalten! […] Triest ist von der amerikanischen Flotte besetzt worden, und das ist schon ein Trost: Man nimmt an, daß die Amerikaner die Stadt besetzt haben, damit die Italiener nicht kommen und sie gleich endgültig in Besitz nehmen, damit also ihr weiteres Schicksal noch eine offene Frage bleibe. Und um das militärische Ungemach voll zu erleiden: Fiume ist von der italienischen Flotte besetzt und in Laibach sind englische Truppen eingezogen 

Während sich in Österreich die Auflösung des Nationalitätenstaates und die Gründung der Nationalstaaten in disziplinierten Formen vollzieht, obwohl die tiefe Gärung im gesamten Volkskörper unverkennbar ist, war Budapest von Mittwoch abend an der Schauplatz von Vorgängen revolutionärster Art, die damit endigten, daß die gesamte bürgerliche und militärische Gewalt in die Hände des Nationalrates fiel. Die unmittelbare Folge war, daß die Mission des Grafen Hadik aufgegeben und Graf Michael Karoly mit der Kabinettsbildung betraut wurde. Daß nur Karoly, der Demokrat und Pazifist, fähig sei, die Dinge zu meistern, war schon längst klar; warum man sich also weigerte, ihn zu ernennen, ist nicht zu begreifen. In Karolys Regierung treten zwei Sozialdemokraten ein: die Genossen Garami und Kunfi auch das zeigt den gewaltigen Wandel an, der sich in so wenigen Tagen vollzogen hat. Dazwischen fällt als aufrüttelndes Ereignis die Ermordung des Grafen Stephan Tisza, den auf einem Spaziergang Soldaten erschossen haben. In dem Attentat hat sich offenkundig die Verbitterung der Soldaten gegen den Mann entladen, der an dem Ausbruch des Krieges so große Schuld trägt. Die neue Regierung hat ernste Aufrufe erlassen, in denen sie zur Ruhe und Ordnung mahnt. 

In guten Bahnen bewegt sich die Bildung der neuen Regierung in Deutschösterreichs. Sie ist nun vollendet, das Direktorium des Staatsrates und die Staatssekretäre ernannt und feierlich in die Pflicht genommen; die Übernahme sämtlicher alter Ministerien, soweit ihre Funktionen das deutsche Gebiet betreffen, wird ohne Verzug geschehen. Schwere, ernste, unendlich große Arbeit steht vor den Männern, die nun berufen sind, die Geschicke Deutschösterreichs zu leiten; möge ihnen fruchtbarer Erfolg beschieden sein. Die ungeheure Sorge, die sie auf sich nehmen, die Verantwortung, die auf ihnen lastet, gebietet allen, ihnen mit Vertrauen, Hingebung und Disziplin zur Seite zu stehen und alles zu tun, was ihre Arbeit fördern, alles zu unterlassen, was sie stören könnte. 

In: Arbeiter-Zeitung, 1.11.1918, S. 1-2.

  1. 10.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Ungarn und wir

             Die proletarische Revolution in Ungarn hat ihre besonderen, ihre eigentümlichen Züge. Sie ist nicht so sehr eine Erhebung gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes als ein Aufstand gegen die Ententebourgeoisie. Die Entente hat den größten Teil Ungarns an Tschechen, Rumänen und Südslaven verschenkt. Das ungarische Volk lehnt sich gegen die Zerstückelung seines Landes, gegen die Preisgabe magyarischer Städte an fremde Nationen auf. Es faßt den verzweifelten Entschluß, sich gegen die übermächtigen Sieger mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzten. Aber werden die Arbeiter und die Bauern dem Rufe zu den Waffen folgen? Werden die kriegsmüden Soldaten todesbereit gegen Tschecho-Slovaken und Rumänen marschieren? Sie werden es nur dann, wenn Ungarn wirklich zu ihrem Vaterland wird; wenn der Staat ihr Eigentum wird, wenn die Fabriken und der Boden ihr Besitz werden. Die magyarische Bourgeoisie, deren wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit die Zerstückelung des Landes zerstört, faßt den verzweifelten Entschluß, zeitweilig abzudanken, Arbeitern und Bauern kampflos die Staatsgewalt zu überlassen, weil sie darin das einzige Mittel erblickt, die Proletarier der Fabrik und der Scholle zu neuem Kampfe gegen den Landesfeind aufzubieten. So kann das Proletariat, ohne Widerstand zu finden, die Macht ergreifen. Die soziale Revolution dient hier der nationalen Verteidigung; der Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats dient der Verteidigung des Landes gegen den äußeren Feind. Es ist nicht zum erstenmal so: 1792 hat das französische Volk die Jakobiner zur Macht erhoben, weil es sie allein für befähigt hielt, den nationalen Widerstand gegen die koalierten Fürsten ganz Europas zu entfesseln; 1871 ist die Pariser Commune aus der Bewegung der Patrioten hervorgegangen, die die Unterwerfung unter das Gebot des deutschen Siegers bekämpfen, den Krieg gegen Deutschland fortsetzen wollten.

             Das ungarische Proletariat ruft die Proletarier der Nachbarländer, auch die Proletarier Deutschösterreichs auf, seinem Beispiel zu folgen. Und schon leuchtet hier manches Auge heller, schon schlägt hier lauter manches Herz! Ist nicht auch hier – in Deutschböhmen und im Sudetenland, in Südtirol, Kärnten und Untersteier – deutsches Land vom übermütigen Sieger bedroht, der über Völker verfügt, als ob es Herden wären? Ist nicht auch für uns die Stunde gekommen, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht an uns zu reißen, die Fabriken und Bergwerke, den Boden des Adels und der Kirche mit einem Schlag dem Volke zuzueignen?

             Und doch sind wir in ganz anderer, viel schlimmerer Lage als die Brüder in Ungarn. Gewiß, die Bourgeoisie des eigenen Landes könnten wir so leicht und so schnell entthronen wie wie; das würden ein paar Bataillone Volkswehr besorgen. Aber von der Ententebourgeoisie sind wir ganz anders gefesselt als das magyarische Proletariat. Die Diktatur des Proletariats würde hier wie dort eine Herausforderung der Entente, eine Kriegserklärung an sie bedeuten. Die Ungarn ertragen es, wenn die Ententemissionen Budapest verlassen; sie haben immerhin noch Lebensmittel im eigenen Lande. Wir würden es nicht ertragen. Wir haben kein Mehl mehr als das, das die Entente uns schickt. Wenn die Entente die Lebensmittelzüge einstellt, hätten wir kein Brot mehr. Die Ungarn raten uns, uns von Paris zu trennen, um uns mit Moskau zu verbünden; aber Moskau ist weit, die Sowjetarmeen stehen noch mehr als tausend Kilometer von uns, Polen und die Ukraine sperren uns jede Verbindung mit ihnen; wir sind an Paris gefesselt, weil nur Paris uns Brot geben kann.

Was täten wir, wenn die Entente uns kein Getreide, kein Mehl mehr schickt? Bei den Reichen requirieren? In Wien gibt es ungefähr 500.000 Haushaltungen, unter ihnen etwa ein Zehntel, also etwa 50.000 reiche. Nehmen wir an, daß jede reiche Famile für zehn Tage Mehl vorrätig habe. Wir könnten dieses Mehl requirieren. 50.000 Familien brauche für zehn Tage so viel wie 500.000 für einen Tag. Wenn wir also die gehamsterten Vorräte der Reichen beschlagnahmen, so hätten wir gerade so viel Mehl, als das Wiener Volk für einen Tag braucht. Und dann?

Wir könnten bei den Bauern requirieren. Aber Deutschösterreich ist ein Gebirgsland; im größten Teil des Alpenlandes wächst kein Getreide. Wir haben auch im Frieden nie von deutschösterreichischem, sondern von ungarischem, galizischem, mährischem Getreide gelebt. Was heute bei den schärfsten Requisitionen aus den Bauernhöfen noch herauszuholen wäre, würde nicht einmal für einige Wochen, wahrscheinlich nicht für vierzehn Tage reichen. Und dann?

Ungarn kann uns nichts geben; seine getreidereichen Gebiete – die Bacsa, das Banat, die Slovakei – sind von fremden Truppen besetzt. Oder sollen wir darauf rechnen, daß die Revolution auch nach Böhmen überschlagen wird, daß die Tschechen uns dann helfen werden? Nun, die Tschechen könnten uns Kohlen liefern, sie könnten uns vielleicht für ein paar Tage mit Kartoffeln versorgen, aber Getreide für uns hätten auch sie nicht! Oder sollen wir darauf bauen, daß die Revolution auch die Ententeländer erfassen, ihr Proletariat uns dann Getreide schicken wird? Aber wann wird das geschehen? Vielleicht nach Monaten, vielleicht in einem Jahre! Und wir haben nicht für zwei Wochen Vorräte!

So ist Deutschösterreich ganz auf die Zuschübe der Entente angewiesen. Durch den Hunger sind wir der Entente wehrloser ausgeliefert, als wir es durch eine Besatzungsarmee wären. Der Versuch, hier eine Rätediktatur aufzurichten, würde damit enden, daß wir in ein paar Tagen ganz ohne Brot wären, binnen kurzem durch die Hungersnot zur Kapitulation gezwungen würden. Darum keine Illusionen! Mit der Bourgeoisie des eigenen Landes fertig zu werden, wäre leicht; aber die Ententebourgeoisie hält uns in Fesseln, die wir nicht zu sprengen vermögen, und sie hält schützend die Hand über der heimischen Bourgeoisie!

Aber so wehrlos wir heute sind, wir brauchen darum nicht zu verzweifeln. Die Rätedikatur in Ungarn beweist trotz alledem, daß unsere Sache marschiert. Unaufhaltsam wälzt sich die Welle der sozialen Revolution vom Osten nach dem Westen. Die Stunde wird kommen, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen wird! Der Ententebourgeoisie wehrlos unterworfen, sind wir heute noch ohnmächtig; aber wenn sich das Proletariat der Ententeländer selbst gegen seien Bourgeoisie erhebt, dann werden im Bunde mit ihm auch wir alle Fesseln brechen.

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.

Otto Bauer: Die deutschösterreichische Republik.

             In den vier Tagen vom 28. bis zum 31. Oktober hatte sich die Auflösung der Habsburgermonarchie vollendet. In diesen vier Tagen war die Armee an der Front zusammengebrochen, hatten sich die neuen nationalen Regierungen im Hinterlande der Regierungsgewalt bemächtigt. Es war eine nationale und eine demokratische Revolution, was sich da vollzog: statt der Dynastie, ihrer ‚übernationalen‘ Bürokratie, Generalität und Diplomatie übernahmen in Deutschösterreich wie in Tschechien, in Galizien wie im südslawischen Gebiet nationale Volksregierungen, aus den Wortführern der Parteien des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zusammengesetzt, die Regierungsgewalt. Aber der Zusammenbruch der alten Mächte entfesselte zugleich auch die bisher von der Gewalt niedergehaltenen Arbeitermassen. In den täglichen stürmischen Soldatendemonstrationen, die in Wien mit der großen Massenkundgebung am 30. Oktober begonnen hatten, kündigte sich an, daß die national-demokratische Revolution zugleich  auch die soziale Revolution weckte, der Übergang der Regierungsgewalt von der Dynastie  auf die Völker zugleich auch den Klassenkampf innerhalb des Volkes, die Verschiebung der Machtverhältnisse  zwischen den Klassen innerhalb der Nation einleitete. Die Entfaltung dieses dreifachen revolutionären Prozesses der demokratischen, der nationalen und der sozialen Revolution ist die Geschichte des entstehenden deutschösterreichischen Staates vom 30. Oktober bis zum 12. November.

             Am 30. Oktober hatte die Provisorische Nationalversammlung den Staatsrat beauftragt, die Regierungsgewalt in Deutschösterreich zu übernehmen, und eine deutschösterreichische Regierung einzusetzen. Deutschösterreich war damit, ebenso wie alle anderen entstehenden Nationalstaaten in diesen Tagen, vor das Problem der Regierungsbildung gestellt. Es handelte sich nicht, wie sonst bei Regierungsbildungen, um den Übergang einer bestehenden Staatsgewalt aus den Händen einer Machtgruppe in die einer anderen, sondern um die Schaffung neuer Staaten, um die Organisierung noch nicht bestehender Staatsgewalten. Die Regierungen, die da gebildet wurden, verfügten zunächst über keinerlei materielle Machtmittel, weder über den Verwaltungsapparat noch über eine Militärmacht; sie konnten sich nur durch ihre moralische Autorität durchsetzen, nur durch ihre moralische Autorität sich die Verwaltungsmaschinerie der zerfallenden Monarchie unterordnen und sich eine nationale Wehrmacht schaffen. Sollte die moralische Autorität der neuen Regierung groß genug sein, diese Aufgabe zu bewältigen, sollte sie sich in der Großstadt wie im Dorfe, in den Industriegebieten wie im Landvolk, in den Ämtern wie in den Kasernen durchsetzen, dann mußten die neuen Regierungen aus Vertrauensmännern aller Volksschichten zusammengesetzt werden. So erklärt es sich, daß die neuen Regierungen in all den neuen Nationalstaaten damals aus den Vertretern aller großen politischen Parteien der sich konstituierenden Nationen zusammengesetzt werden mußten. Daß ‚Bürger,// Bauern und Arbeiter‘ gemeinsam die neue Regierung bilden mußten, war das Schlagwort jener Tage.

             Auch der deutschösterreichische Staat war im Grunde aus einem Contrat social, einem staatsbegründenden Vertrage der durch die politischen Parteien vertretenen Klassen des deutschösterreichischen Volkes hervorgegangen. Die Gesamtheit der deutschösterreichischen Abgeordneten hatte sich auf Grund von Vereinbarungen zwischen den Parteien als Provisorische Nationalversammlung proklamiert. Nur diese Gesamtheit konnte jetzt die Regierungsgewalt übernehmen. Der von der Provisorischen Nationalversammlung nach dem Verhältniswahlrecht gewählte, also aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzte Staatsrat bildete die eigentliche Regierung. Nur als seine Beauftragten übernahmen die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre die Leitung der einzelnen Staatsämter; nicht ihnen, sondern dem Staatsrat selbst teilte die provisorische Verfassung vom 30. Oktober die Verordnungsgewalt zu. Wie der Staatsrat selbst aus allen in der Provisorischen Nationalversammlung vertretenen Parteien zusammengesetzt war, so wurden auch die von ihm bestellten Staatssekretäre allen Parteien entnommen. […] Dr. Karl Renner wurde zum Leiter der Kanzlei des Staatsrates bestellt. Dem christlichsozialen Staatssekretär für Inneres gaben wir Sozialdemokraten Otto Glöckel, dem deutschnationalen Staatssekretär für Heerwesen den Sozialdemokraten Dr. Julius Deutsch als Unterstaatssekretäre bei. Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung. Erst sie machten den Leiter der Staatskanzlei zum Staatskanzler. Erst sie ließen in den beiden wichtigsten Staatsämtern, im Staatsamt des Innern, das über die innere Verwaltung, über Polizei und Gendarmerie verfügte, und im Staatsamt für Heerwesen, das die Demobilisierung zu leiten und eine neue Wehrmacht aufzustellen hatte, die bürgerlichen Staatssekretäre weit hinter die sozialdemokratischen Unterstaatssekretäre zurücktreten. Es war eine Machtverschiebung, die sich durch die Ereignisse selbst vollzog, in der sich der Fortgang der Revolution ausdrückte.

             Aus dem Krieg entstanden, ist die soziale Revolution nicht so sehr von der Fabrik als vielmehr von der Kaserne ausgegangen. Als an der Massenkundgebung des 30. Oktober auch Soldaten und Offiziere in großer Zahl teilnahmen; als an diesem Tage auf den Soldatenklappen die roten, auf den Offizierskappen die schwarzrotgoldenen Kokarden aufzutauchen begannen;// als am Abend des 30. Oktober Soldatenhaufen den Offizieren auf der Straße die Rosetten mit den kaiserlichen Initialen von den Kappen rissen, war es klar, daß die militärische Disziplin in den Wiener Kasernen vollends zusammengebrochen war.  Die furchtbare Allmacht, die die militärische Organisation im Kriege dem Offizierskorps gegeben hatte, schlug mit einem Schlage in völlige Ohnmacht um; vierjährige Unterdrückung der Menschenwürde des Soldaten rächte sich nun in wild aufloderndem Haß des Mannes gegen den Offizier. Wo bisher der stumme Gehorsam gewaltet hatte, setzte nun die elementare, instinktive, anarchische revolutionäre Bewegung ein. Soldatenhaufen, von Heimkehrern aus Rußland geführt, versammelten sich nächst der Roßauer Kaserne und berauschten sich an wilden Reden. Sie versuchten die Bildung einer „Roten Garde“, sie zogen bewaffnet durch die Stadt, sie „expropriierten“ Kraftwagen und „beschlagnahmten“ Lebensmittelvorräte. Die Offiziere selbst wurden von der Bewegung erfaßt, Reserveoffiziere aus den Reihen der Intelligenz beteiligten sich, von der Revolutionsromantik des Bolschewismus mitgerissen, an der Bildung der Roten Garde, während sich deutschnationale Offiziere im Parlamentsgebäude als „Soldatenräte“ auftaten. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten aber packte unwiderstehlicher Drang, nach Hause, zu Weib und Kind zurückzukehren. Die slawischen Soldaten eilten ungeordnet nach Hause, sobald sie von der Bildung der Nationalstaaten in ihrer Heimat erfuhren; ihr Beispiel verbreitete die Desertionsbewegung sofort auch auf die deutschen Soldaten. Niemand tat mehr Dienst, die Kader lichteten sich, die Wachen liefen davon, die wichtigsten Depots und Magazine waren unbewacht. Kriegsverwilderung, Hunger, Verbrechertum nützten diese Selbstauflösung der Garnisonen aus: Plünderungen begannen begannen […] Nur die Aufstellung einer neuen bewaffneten Macht konnte die volle Anarchie verhindern.

             Der Staatsrat versuchte zunächst die Reste der Garnisonen der alten Armee in seinen Dienst zu stellen. Sie wurden auf die provisorische Verfassung beeidigt. Und da die Wiederherstellung der Autorität der Offiziere zunächst aussichtslos erschien, forderte der Staatsrat selbst die Mannschaften auf, Soldatenräte aus ihrer Mitte zu wählen, die Ordnung und Disziplin in den Kasernen herstellen sollten. Aber diese ersten Bemühungen blieben erfolglos. Die Soldaten leisteten den Eid und liefen dennoch auseinander, zu Weib und Kind. Die Reservisten bei den Fahnen zurückzuhalten war unmöglich. Es gab nur einen Ausweg: gegen Sold Freiwillige anzuwerben und aus ihnen eine neue Wehrmacht zu formieren. So ordnete der Staatsrat am 3. November, dem Tage des Abschlusses des// Waffenstillstandes, die Werbung für die Volkswehr an.

In: Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Wien 1923, S. 95-97.