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Joseph Roth: Das Jahr der Erneuerung (1918)

                Mit Geklirr und Geschepper verzieht sich dieses Jahr in die Annalen der Geschichte: mit seinem Zipfel schleppt es eine Menge metallener Straßentafeln nach. Als das Jahr einzog, gab man ihm eine Erkennungsmarke: das Jahr der Erneuerung. Aus den Tiefen heraus wollte sich der Mensch der Revolution erneuert haben. Er tat sein schwarzgelbes Portepee ab und wickelte um das Bajonett, das er behielt, ein rotweißes. Dann fiel er auf die Knie und sang beim Hochamt der Demobilisierung sein: De Befundis. Der Fortschritt setzte sich in die Automobile der Generalstäbler und in die Equipagen des Hofes. Autos und Equipagen entführten den Fortschritt. Das weibliche Geschlecht rückte aus der Kategorie der „Hilfskraft“ in die Region der Gleichberechtigung empor und durfte durch Versammlungsbesuch und Stimmabgabe bei den Wahlen in die Nationalversammlung seine politische Überzeugungslosigkeit ebenso geltend machen wie der Mann. Der „Umsturz“ hatte sich so vollzogen, als ob er durch einen Erlaß des Chefs für Ersatzwesens fürsorglich vorgeregelt worden wäre. Er stürzte eigentlich gar nichts: der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachlässigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser mehr da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolutionär.

Dennoch war die Revolution eine Notwendigkeit. Die Geschichte ging schon lange schwanger mit der Revolution. Hinter den Goldtressen des Byzantinismus stank die Verderbtheit. Kulissen aus Phrasen und Lakaien verbargen den Dreck, der sich durch Jahrhunderte im Augiasstall des „Hofes“ aufgehäuft hatte. Die Revolution mußte geboren werden. Aber da stolperte die Geschichte über die Drahthindernisse des Weltkrieges. Durch die Erschütterung geschah die Frühgeburt der Revolution.

Diese, ein frühgeborenes Kind, muß in Wärmestuben und Kliniken mühsam aufgepäppelt werden. Denn wir, wir, das erbärmlichste Geschlecht, haben sie gezeugt. Jedes Geschlecht hat die Revolution, die es verdient. Die unserige, schwach, engbrüstig, kam in die Kinderklinik der Koalition. Und selbst das wäre noch nicht einmal so schlecht. Aber wir haben in jener Klinik keine Ärzte. Und die Revolution stirbt zwar nicht, aber sie lebt auch nicht, sie ist ein gutes österreichisches Kind und „wurschtelt sich fort“.

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Erneuerung! Erneuerung! Wo, frage ich, seht ihr Erneuerung? Ist das Erneuerung, wenn die Burgmusik um die Mittagsstunde statt zur Burg, zum Staatsamt für Heerwesen zieht? Wenn ein Minister Staatssekretär heißt? Wenn der Briefträger nicht „Diener“ mehr, sondern „Unterbeamter“ ist? Reißt ihm doch die Knechtseligkeit aus seiner armen, gemarterten Brust und er mag heißen wie er will, er wird kein Diener sein! Gebt dem armseligen Hirn des Staatssekretärs Weitsichtigkeit und Vernunft und laßt ihn nur Minister heißen! Laßt ab vom öden Geschepper der militärischen Tschinellen, laßt Beethoven spielen und verwendet eure Janitscharenkapelle zu Türstehern in Kunsttempfeln! Aber die Kesselpauke ist mächtiger als der Fiedelbogen. Im Lärm und Gepolter der Gosse, der ihr dient, geht die Stimme der Kultur verloren, der ihr zu dienen vorgebet!

Erneuerung! Ist der Befundmensch in Euch schon verloren gegangen? Ihr habt keine Furcht mehr vor dem General? Ihr steht nicht mehr beim Rapport? Ihr seid die Befreier vom Militarismus? Ihr prediget Menschenrechte?

Oh, der Streit um die Auslieferung von Kun und Levien, Fremdenrazzien und Abreisendmachungen, sind das die Erfolge Eurer Predigten über Menschenrechte? Militarismus der Geister, ist er nicht schändlicher, als der der Leiber? Habt Ihr keine Angst vor dem Arbeiterrat? Steht Ihr nicht täglich beim Rapport vor der Partei?

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Es ist keine Erneuerung, so lange nicht Einkehr ist! Wir müssen uns befreien vom Schwert des Militarismus, das über uns hängt. Die Waffe hat Gewalt gewonnen über die Faust. Werfen wir sie weg, die Waffe. Der Polizist hat seinen Helm abgelegt, aber Polizei ist noch da. Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben. Der Zweck heiligt nicht die Mittel! Die Mittel profanieren den Zweck!

So ist es denn kein Jahr der Erneuerung gewesen. Höchstens ein Jahr der Neuerungen. Gerngroß hat seine weiße Woche. Der Kramladen der Geschichte hat zuweilen sein Jahr der Novitäten.

In: Der neue Tag, 12. 11.1919, S. 3.