Schlagwortarchiv für: Goethe

Joseph Gregor: Republik und Theater (1919)

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Ernst Lothar: Der Künstler und der Staat

Wenn man einen mit geistigen oder gar mit schöngeistigen Dingen befaßten Menschen bei uns fragte, ob ihm der Staat etwas bedeute, was er von ihm erwarte, wie er sich ein künftiges Österreich denke; wenn man mit ihm über „Politik“ spräche, dann lächelt der befragte Dichter, Komponist, Maler, Regisseur, Aesthet wohl malitiös, zögerte und erwiderte dann: „Wissen Sie…, davon verstehe ich nichts. Der Staat? Nein. Darum kümmere ich mich gar nicht…“ Das Zögern zwischen dem Lächeln und der Antwort aber hieße: „Gott sei Dank verstehe ich von diesem Quark nichts. Das wäre nach schöner, wenn unsereiner sich mit so etwas abgäbe!“ Mit einem Wort: was ihn lächeln, was ihn zögern machte, wäre: Mißachtung. Entrüstung, daß man ihm dergleichen zuzumuten wage. Abweisung so schnöder, kompromittierend ungeistiger Interessen, wie die Dinge des Staates es für einen Schöngeist sind.

Das ist nicht neu in Österreich. Es war lange vor dem Kriege so, wo Dichter wie Anastasius Grün sich damit abfinden mußten, von Schreibern wie Hofenthal als „k. k. Rhythmiker“ bewitzelt und „ungeistig“ gemacht zu werden; es war knapp vor dem Kriege so, wo ein beharrlicher Aesthet einem Drama Arthur Schnitzlers bedauernd nachrief: „Immer wieder Österreich!“ – das gehört bei uns zur geistigen Uniform und ist leider heute nich immer ein Distinktionsabzeichen geblieben. Aber vor dem Kriege hatten die Funktionäre des Geistes immerhin die Ausrede der Zensur, das heißt, sie brauchten, woran sie unbeteiligt waren, nicht zu äußern, weil die Zensur die Aeußerung jener Meinungen unterband, die sie nicht hatten. Mit einer so probaten Draperie ließ selbst die absolute Interesseleere sich verhüllen, und man konnte jedes Schweigen statthaft finden, wo die Voraussetzung des Redens, wahr zu sein, nirgendwo bestand. Grillparzer, der ein lebenslanges Denken, Dichten  und Reden über Österreich mit seinem Rang vereinbar hielt, Bauernfeld, der vom Staate schrieb, da er in ihm lebte, Saar und Stifter, die für die Landschaft zeugten, der sie sich verschrieben hatten, äußerten Zorn über die Handfesseln, worin die Zensur die freie Gebärde zwang, ohne daß sie sich den Mund dadurch verbieten ließen. Doch diese Fessel ist ja jetzt zerschnitten und es stünde nichts im Weg, daß die Menschen des Geistes zu den Dingen des Staates ihre Meinung äußerten oder, bescheidener gesprochen, diese Meinung hätten.

             Nichts davon zeigt sich, Geist und Staat gelten bei uns als Begriffe, die einander ausschließen. Dieser Erscheinung auf den Grund zu gehen, dürfte nützlich sein, weil sie täglich krasser einen staatlichen Zustand schädigt, der, der Teilnahme der Welt wie nie bedürftig, zuerst der Teilnahme seiner eigenen Bürger bedürfte; unter ihnen besonders jener, die als Menschen des Geistes berufen wären, die Dinge des Geistes zu beeinflussen. Allein hier erhebt sich ja das doppelte Hindernis, welches diese Menschen vom Staate und seinen Bedingungen fernhält: Sie wünschen, Weltbürger zu sein; sie leugnen, daß die Dinge der Politik Dinge des Geistes sind. Sie haben völlig recht und völlig unrecht. Wenn sie, deren Beruf es ist, dem Geiste zu erstatten, was sie von ihm empfangen, in der politischen Fabrik das Schwungrad des Genies vermissen, dann haben sie recht. Wenn sie allzu viele Figuranten auf der politischen Tribüne unbedeutend, das von ihnen veranstaltete Schauspiel peinlich finden, dann haben sie recht. Wenn sie, die das Große und das Unvergängliche, das Zarte und Erhabene vor Augen tragen aber es zu tun behaupten, die Menschenstimme im Gebrüll, die Sache in ihrer Verdrehung, das Politische im Parteipolitischen nicht wiedererkennen und angewidert sagen: „Alles das widerstrebt uns!“, dann haben sie abermals recht. Doch indem sie diese richtigen Prämissen aufstellen, ziehen sie daraus die falschesten Schlüsse. Statt nämlich zu sagen: „Diese Art, mit den Dingen des Staates umzugehen, stößt uns ab, folglich sollten wir eine anziehendere herbeiführen helfen“, urteilen sie: „Weil die Staatsmaschine widrig knarrt, darf der geistige Mensch sie überhören.“ Der Irrtum, der hier stattfindet, springt in die Augen, ohne daß man ihn sehen wollte: man verurteilt die Sachwalter und entzieht sich der Sache.

             Wie ausnahmslos dies geschieht, wie verantwortungs- und teilnahmslos die geistigen Menschen in Österreich dem Staate gegenüberstehen, konnte jeder erfahren, der in den letzten Jahren einer österreichischen Parlamentssitzung angewohnt hat. Kein Zweifel, daß in diesem Rundsaal unheimlicher Akustik, wo jede Rede überlaut Zeugnis dafür ablegt, was nicht gesagt wurde, auch Vertreter der Gehirne sitzen und daß, hüben und drüben, sich ehrliche Überzeugung, Talent, Kenntnis, Routine, brave Tüchtigkeit versammeln. Wer aber könnte daran vorbeigehen, daß in diesem pompösen, mit allen Emblemen stolz geschmückten Kuppelraum das Emblem des Genies fehlt und daß, so hoch die gläserne Kuppel über den Redenden sich ständig wölbt, so tief das Niveau ihrer gelegentlichen Zänkereien sinkt, von keinem Einfall befeuert, vom Ingenium kaum jemals faszinierend aber versöhnend angestrahlt. Gewiß: ein Parlament ist weder eine Akademie der Künste noch ein Theatersaal, und Volksvertreter müssen, da sie namens des Volkes sprechen, auch zum Volke sprechen. Dies hat jedoch mit einer bezeichnenden Feststellung nichts zu tun: In diesem Parlament sitzt kein Dichter, kein Künstler, kein einziger, den man außer aus dem Wahlkreis, aus dem Weltkreis seiner Werke kennt.  

Ein beschämenderes Zeugnis für die Gleichgültigkeit, die unsere geistig Beteiligten dem Staate entgegenbringen, gibt es nicht.

             Aber sie wollen ja Weltbürger sein und vernachlässigen darum das Lokale. Was ist ein Weltbürger? Jemand, der anteilhaft das Zimmer flieht, um den Horizont zu gewinnen. Jemand also der, da er in einem unbeschränkten Sinn zu urteilen strebt, zu einem solchen auch beitragen müßte. Wer war ein Weltbürger, dessen Beispiel unangreifbar bleibt und den gerade die heutigen Erbpächter des Geistes, die sich am liebsten „Europäer“ nennen, als Schutzpatron reklamieren? Es war der Staatsminister Goethe. Sonderbares Zusammentreffen. Jener verehrungswürdige deutsche Weltbürger – großherzoglicher Aktuar, Block Zehn pünktlich im Konseil, wo es darum ging, Wegmauten nach Straßfurth zu tarieren, die Ilmenauer Chaussee mit Ahornschößlingen zu dotieren, den Reisediäten des Kameraladjunkten Iffetzheimer etwas abzuknapfen… zwei Taler einundzwanzig Groschen. Wie versäumt der Weltbürger die kleinstädtischen Amtstunden, widmet halbe Tage, zur Zeit des Theaterbrandes sogar die Nächte, den Regierungsgeschäften, will sagen, den Duodezagenden eines Ländchens. Ein Wesenswiderspruch? Eitle Schwäche des auf Manifestation bedachten Mannes, der gewünscht hat, mit einem Brillantstern am Bratenrock zu glänzen? Der billige Einwand zeigt seine Dürftigkeit, wenn ihn an des Menschen Erscheinung mißt, gegen den man ihn erhebt. Worin lag Goethes Singularität? In seiner Universalität. In dieser ungeheuren, seit Aristoteles nicht dagewesenen und später nie wieder erreichten Umspannung des geistigen Gehalts der Erde; in dieser unvergleichlichen, fast gierigen Bereitschaft, das Vorhandene sich zuzueignen, zu durchforschen, zu erkennen; in dieser unfaßbaren Fähigkeit, die dauernde Begierde dauernd zu machen stillen und das Wissen der Welt hinter eine Stirn zu speichern! Der Spezialist, der zu Goethe eintrat, fand einen Mann, mit dem über die speziellen Dinge zu reden leicht war. Denn er redete die Sprache des Botanikers wie die des Malers, die des Musikers nicht ungeläufiger als die des Geologen, die des Physikers so vollkommen wie die des Juristen… wer zu ihm in das fremde Haus kam, fand die eigene Arbeitsstätte wunderbar dahin versetzt und ein brennendes, unersättliches Interesse an allem Interessanten. Und interessant war – alles! Denn Goethe verfiel nie in die unerträgliche Manier so vieler jetzigen Schaffenden, die (was nur ein Zeichen menschlicher Unterlegenheit ist) in jedem Gespräch nichts als den Umweg zu sich selber, in jedem Augenblick nur das Postament suchen, sich und ihre Ueberlegenheit darauf zu stellen, sondern sammelte wie ein tiefer gewölbter Spiegel die Lichter, Reflexe und Schatten der Erscheinungen. Alle waren ihm wichtig. So hätte er kein Wort entschiedener verleugnet und für einen geistigen Menschen armseliger gefunden, als die von Ueberhebung triefende Bescheidenheit: „Davon verstehe ich nichts.“ Gerade der sublime Wille, alles zu verstehen, macht ja aus irgendeinem Bürgerssohn den Botentaten Goethe, aus einem Provinzhaus am Weimarer Frauenplan das Gebäude einer geistigen Welt. Stand es anders um Voltaire? Und (unserer Zeit näher) um Tolstoi, Anatole France, Zola, Romain Rolland, Shaw? Haben diese großen Europäer je den Staat bagatellisiert?

             Von ihrem geistigen Mut findet sich bei den Künstlermenschen von heute blutwenig. Dafür um so mehr von einem Hochmut, der die dahintreibt, allem außer ihrem Wirkungsbezirk Gelegenen den Stempel „unwichtig“ und „unkünstlerisch“ aufzubrennen. Da jüngst in einem Kreise von Künstlern ein Richtkünstler die Rede auf die geplante österreichische Künstlerkammer brachte und ein politisches Gespräch begann, schnitt ein Musiker die Diskussion mit der Bemerkung ab: „Ich bitte Sie… ein Takt der Neunten ist mir wichtiger als das alles!“ Ich gebe diese Äußerung wörtlich wieder, weil sie als typisch gelten darf und den Zwangsvorstellungskreis illustriert, worin die geistige Feudalwelt sich gern ergeht. Den Menschen, neben denen die Erde sich spalten könnte, ohne es ihnen minder wichtig zu machen, daß um halb Elf eine Generalprobe und daher ein Erdbeben (das sie verschonte) von geringer Importanz ist, gibt es nicht wenige. Man pflegt sie hochachtungsvoll mit jener Besessenheit von ihren eigenen, den Dingen der Kunst, zu rechtfertigen, die so verwandt mit Bedeutung und so benachbart der Genialität erscheint. Ist ein Ausspruch wie der des Musikers, der von einem Takte der Neunten demütig den Hut zieht, um ihn vor der Not der Zeit auf dem Kopfe zu behalten, nicht des Beifalls sicher, weil er so ins Magische zielt und zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit die Bolte schlägt? Es liegt mir, weiß Gott, fern, die Ueberzeugung eines Menschen zu verdächtigen, der es mit der Neunten hält. Was dagegen mißlich ist und worin (mehr als in der Besessenheit) der Grund für solch lapidare, als Weltanschauungen kostümierte Dikta liegt, das ist, mit Verlaub, die Unbildung derer, die sie aussprechen. Ihre vehemente Unbildung. Denn während ein geistig-ästhetisches Spezialistentum überhandnimmt; während es gang und gäbe geworden ist, daß etwa jemand, der ein Orchester meisterhaft dirigiert, nie etwas Gedrucktes liest als Partituren oder Rezensionen  über Partituren; während es so weit kam, daß ein Schriftsteller von Rang am Tage der Nürnberger Eisenbahnkatastrophe die Frage, was es Neues in der Zeitung gebe, mit der Erklärung beantwortete: „Hofer scheint in Berlin gefallen zu haben!“ ; während allenthalben eine ungeheure begriffliche Wertverschiebung sich ereignet: kann es geschehen, daß jemand die Neunte Symphonie mit einer Fürsorgemaßregel vergleicht, jene wichtig, diese außer seiner Sphäre findet und dafür als Europäer geachtet, statt als Schwätzer überhört wird. Der Neunten zu bestätigen, daß sie eiwg ist, dürfte entbehrlich sein. Sicher ist, daß sie mit dem Staate so viel zu schaffen hat wie der Bestätiger mit universellen Interessen.

             Man interessiert sich zu wenig für das Allgemeine in den Elfenbeintürmen der Kunst; man weiß dort zu wenig. Die Kenntnisse, die man dort von den primitivsten staatlichen Bedingungen hat, werden von Bürgerschülern übertroffen, und blättert man etwa einen heutigen Roman auf, dann man sich darüber wundern, was alles der Verfasser nicht wußte, Der Künstler ignoriert den Staat. Gar die Zumutung, jenes „politische Geschöpf“ zu sein, als das ein großer geistiger Ahnherr die Menschen betrachtet hat, hielte er für komisch. Traurig, daß er das tut, wirksame Kräfte einem bedeutenden Gebiet und diesem Gebiete damit die Bedeutung raubt. Als ob Geist und Staat, jener diesen bestimmend, nicht Gemeinschaft, ja ein Aufeinandergewiesensein verbände! Erst kürzlich hat ein berühmter deutscher Gelehrter den Beweis zu führen versucht, daß Kunst und geistige Kultur zur Voraussetzung – den Staat hätten, daß „Kultur nur im Staate, hochentwickelte Kultur nur im höchstentwickelten Staate gedeihe“, was eine Hypothese, dich eine solche ist, die ihre historischen Schwächen mit eminenter Gegenwartskraft stützt: durch die Dokumentierung des organischen Zusammenhanges, der den Rechtsstaat an den Geist als seinen Schöpfer und Gestalter bindet, jene unendliche Beziehung, die Leffing als die „Affinität der Politik, Ideal und Idee“, Carlhle mit dem Worte von den „Gehirnstunden in der politischen Uhr“, Montaigne als eine „freie Ehe zwischen dem Trieb und seiner Veredlung“ bezeichnet: jeder in einer anderen Sprache, alle in derselben Ueberzeugung. Eine Beschäftigung mit Dingen, die (nach einem Worte Shaws) „fabelhafte, von den landläufigen Dummköpfen unter den Literaten gar nicht begriffene Möglichkeiten habe“, kann, meine ich, niemandes Geistigkeit herabsetzen. Sich für ihre Heimat zu interessieren, das heißt sie mitzuverantworten, ist also auch schöngeistigen Professionisten ohne Bestaubung ihres europäischen Mantels erlaubt.  Nein. Es ist ganz einfach ihre Pflicht. Die Zeit der „splendid isolation“ ist vorbei. Heraus aus den Elfenbeintürmen! Das würde, durch die nähere Berührung mit dem Leben, der Kunst zustatten kommen, deren Weltbürgerlichkeit an Weltfremdheit leidet. Und es würde, durch die nähere Berührung mit dem Geist, dem Staate zustatten kommen, der des Weltbügrertums bedarf. Denn dem Gemeinwesen, worin man lebt, den Anteil zu verweigern, heißt keineswegs ein Europäer, sondern bis zur Unverträglichkeit egoistisch sein, oder aber …: ein Snob.

In: Neue Freie Presse, 12.8.1928, S. 1-3.

Josef Gregor: Republik und Theater

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Julian Sternberg: Der neue Schnitzler

             Artur Schnitzler1 , „Fräulein Else“. Verlag Paul Zsolnay, Wien. In seiner neuen Meistererzählung, die der Goethe’schen Definition von der Novelle als der Darstellung des unerhörten Geschehnisses auf den Leib geschrieben ist, hat unser repräsentativer deutschösterreichischer Dichter stolze und ragende Höhen erreicht. Kristallklare, reine Lüfte wehen dort oben und langsam nur gewöhnt sich die Lunge, sie mühelos zu atmen und sich an ihrer ganzen Köstlichkeit zu erquicken. Das uralte Gyges- und Rhodopeproblem in der Gestaltung der modernsten Psychologie und gleichzeitig in Verbindung gebracht mit sozialen Zeitproblemen, die deshalb nicht weniger mit eisenhartem Knöchel an die Pforten unseres Gesellschaftslebens pochen, weil wir uns mit Vorliebe schwerhörig oder taub stellen und uns den Anschein des frommen Glaubens geben, alle seelischen und physischen Nöte des jungen Mädchens aus dem heutigen Mittelstand seien aus dem einen Punkt des manchmal recht phrasenhaften Hinweises auf Beruf und Berufsarbeit zu kurieren. Schnitzlers „Fräulein Else“, der zugemutet wird, sich in blendender Nacktheit vor einem Geldmann zu zeigen, der davon und ausschließlich davon die Rettung ihres Vaters abhängig macht, des Advokaten, der Mündelgelder unterschlagen hat, ist nicht das unberührte, dumpf der Hochzeitsnacht entgegenbangenden Jüngferchen des Familienromans vergangener Tage. Sie ist eine Wissende in jedem Sinne des Wortes. Sie hat die ganze Skala der Eventualitäten ihrer Zukunft emsig durchstudiert. Sie ist illusionslos und sehnt sich nach Illusionen. Sie ist sich ihrer Aufgeklärtheit, ihrer traurigen Kenntnis um Menschen und Dinge wohl bewußt, und gerade das bereitet ihr tiefstes Weh, so daß sie sich selbst Frivolität und Zynismus vorspielt, dies aber wahrlich nicht mit genießerischer Selbstgefälligkeit. Eine Blume, die den Kelch hängen läßt, weil sie der rauhe Lebenswind zu entblättern droht. Mit meisterlichem Gelingen ist das Hin und Her ihrer Stimmungen, ihrer Hoffnungen und Befürchtungen dargestellt. Keiner der großen Seelenschilderer der internationalen Literatur, kein Balzac  und kein Dostojewski hat restloser, mit sichereren und erbarmungsloseren Strichen ein Seelengemälde skizziert. In dieser Novelle ist nicht ein Wort zu wenig und keines zu viel. Sie bedeutet den stärksten Triumph einer ebenso eigenartigen wie fabelhaften Technik, die alles innerliche und äußerliche Geschehen mit zugleich geschmeidigen und muskelharten Händen in den Rahmen eines Selbstgespräches zwängt, innerhalb dessen Else‘s Untergang sich atemberaubend, zwingend, mit der ganzen Unabwendbarkeit des antiken Pathos vor den Augen des Lesers abspielt. Zu dieser Technik, die zum ersten Mal im „Leutnant Gustl“ die literarische Welt in ehrfürchtige Bewunderung versetzte, ist der Dichter nach zwei Jahrzehnten zurückgekehrt. Er hat seither nichts eingebüßt von jener kraftvollen, federnden Gladiatorenart, die sich der Sprache als unbesiegbarer Überwinder entgegenstellt und mit ihr, die sich willenlos beugt, in einer glühenden Umarmung verschmilzt. Diese intensivste Ichform unterscheidet sich wesenhaft von jeder anderen Erzählerart. Nirgends sieht man den Dichter sich soufflierend über sein Geschöpf beugen. An den griechischen Athene-Mythos von der Tochter des Zeus, die gewappnet dem Haupte des Olympiers entspringt, ist man zu denken geneigt. Und welch tief innerliche Keuschheit atmet Schnitzlers Monna Vanna, die nur mit dem Mantel bekleidet in den Saal tritt, wo sie die Hülle fallen läßt, nicht allein vor dem, der es geheischt, nein, vor Allen, die ja irgendwie unbewußt Mitschuldige jenes Frevlers sind. In dieser Gebärde liegt die große, die flammende Anklage gegen die heutige Gesellschaft. Dann bricht sie ohnmächtig zusammen und auf ihr Zimmer getragen, gewinnt sie für einen Augenblick wieder ihre Besinnung, trinkt das Veronal, das sie vorhersorgsam in das Glas geschüttet hat und bis zu ihrem letzten Atemzug macht sie sich und ihr Hingleiten durch die schwarze Pforte des Todes dem Leser verständlich. Die Parallele mit Leutnant Gustl zeigt die Entwicklung des Dichters vom Standesproblem zu Menschheitsfragen. Immer wieder habe ich dieses Buch gelesen, und immer neue verborgene Schönheiten wiesen sich dem erstaunten und ergriffenen Blick. In „Fräulein Else“ ist Artur Schnitzler nicht nur der große Künstler, sondern auch der liebenswerte Mensch, der gütige Versteher und Verzeiher.  Er wäre nicht der Dichter, der er ist, wenn er uns nicht in „Fräulein Else“ seine Maria Magdalena geschenkt hätte.

In: Moderne Welt, Zwei Bücher von denen man spricht, Heft 15, 1925, S. 21.

  1. Die Schreibweise des Vornamens wurde in dieser Form von Sternberg verwendet und daher hier beibehalten

Karl Leuthner: Halbasien

Die emsige Forschung des wissenschaftlichen Spezialisten, die peinlich genaue Tätigkeit des an Hochschulen gebildeten Fachmannes, die sorgfältige und verständnisvolle Mühe des Arbeiters und des Bauern sind die Grundpfeiler der modernen Kultur. Man hat vor dem Kriege gern über die zeitausladende Rastlosigkeit neuzeitlicher Arbeit gemault; und lange bevor die Entente daraus ein politisches Schlagwort machte, die angebliche epische Ruhe großer Kulturzeitalter, des Zeitalters Goethes, zu dem betriebsamen, aber an Genieleistungen armen Tageslauf der Enkel ins Widerspiel gesetzt. Doch das war das Geschwätz der Kulturschmöcke, Weltanschauung aus dem Kaffeehauswinkel lungernder Bohème. Alle großen Künstler waren Schwerarbeiter in ihrer Kunst, und Goethe war es sogar außerhalb seiner Kunst, als Staatsbeamter, oft selbst zum Schaden seiner schöpferischen Muse, als Naturforscher, der das ganze Wissen seiner Zeit zu umspannen suchte. Den Dichter des Faust, den Propheten des Suezkanals, den freudigen Empfänger jeder naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaft zu dem planmäßigen Fortschritt wissenschaftlicher und technischer Naturbewältigung unserer Tage in Gegensatz zu bringen, heißt, weder von Goethes noch von unserer Kultur Wesensart mehr als leeren Wortschall vernommen haben. Die moderne Kultur, die sachlich auf genau arbeitenden Maschinen, auf wohlersonnenen Ersatz von Menschenkraft durch gebändigte Naturkraft und auf rationellster Ausnützung aller in der Erde und unter der Erde ruhenden Kräfte faßt, konnte nicht anders erbaut werden als durch Arbeit und wiederum durch Arbeit und noch einmal durch Arbeit. Die Kraft und Zeit auspressende Gewinngier des Kapitalismus hat bloß zu Sondervorteil mißbraucht und ins Gemeinhändlerische entstellt, was doch der Lebensatem unserer Zeit war: äußerste Kraft und Zeitökonomie und die ihr entsprechende Besinnung der Menschen, sorgfältigster, stets von Wissen, Ueberlegung und Pflichtgefühl geleisteter Fleiß.

Nachdem aber einmal diese gegenständlichen Voraussetzungen und sittlich-geistlichen Kräfte die neue Kulturwelt emporgehoben, die ihr entsprechende Lebensform gestaltet hatten, war in unserem Europa, der menschenwimmelnden Städte, des überbesiedelten Landes bis mehrere Arbeitsgesinnung aus einer Bedingung höherer Gesittung zu einer bloßen und baren Notdurft geworden. Der deutsche Adler des achtzehnten Jahrhunderts, nach Urväterart bestellt, vermochte kaum von den 30 Millionen, die Deutschland damals bewohnten, den Mangel fernzuhalten; die rationelle Landwirtschaft des neuen Deutschlands ernährte fünf Sechstel der 67 Millionen Einwohner, die knapp vor dem Kriege das Reich bevölkerten. Mit dem Kohlenertrag aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wären die Städte des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts dem elendsten Erfrieren ausgeliefert gewesen. Es führt zu der schleudernd bedächtigen Lebensweise der Väter kein Weg zurück, außer dem, der in den Friedhof mündet. Das Nebeneinander altväterlicher Schlamperei und Bummelei und der Vorteile moderner Kultur ist nur denkbar in jenen halbeuropäischen Ländern, in denen die moderne Kultur eben nicht Ergebnis und Ertrag eigener Geistesanstrengung und eigener Mühe, sondern Einfuhr aus Freude ist.

Hier in Rußland und in den Balkanländern, mit grellstem Widerspruch in der Türkei, hatten oder haben noch gleichzeitig ihren Platz die Riesenfabrik mit den neuesten aus England oder Deutschland hergeholten Rohstoffen, das Prunkhotel mit allen Wundern neuzeitlicher Bequemlichkeit und neuzeitlicher Hygiene, und das Dorf mit seinen verlausten Insassen, die mit dem Holzpflug der Vorzeit den Ackerboden mehr ritzten als aufwühlten. Doch in den Städten selbst bilden die meist aus der Fremde eingewanderten oder in der Fremde geschulten Ingenieure und die Schar von Arbeitern, die sie sich abgerichtet, nur Inseln des neuen Arbeiterbodens mitten im Schlammmeer mittelalterlicher Trägheit, mittelalterlichen Schmutzes. Den Grundstock der Bevölkerung der halbasiatischen Bevölkerung stellt eine wirre Menge von Lumpenproletariern und Händlern dar, von denen niemand genau sagen kann, wovon sie eigentlich ihr Leben fristen. Sie erzeugen allzumal nichts, sie schaffen keine Werte, sie bilden nur eine unendliche Kette von Krämern, Schleichhändlern und Wucherern, die sich zwischen den Verbraucher und Erzeuger drängt. Und diese lange Kette des Handels ist eine ebensolange Kette des Betruges, denn wie der Weltverkehr zu seiner technischen Kreditvoraussetzung die Zuverlässigkeit hat, so sind hier, wo hunderte Händler, gleich dem Ungeziefer, auf derselben Ware sitzen und sie benagen, Uebervorteilung und List Daseinsbedingungen. Doch mag sich einer aus dieser Reihe zu Millionenreichtum emporschwingen, mag er sich in Schmutz und Not weiterschleppen, alle erfüllt die gleiche Gesinnung: sie wollen feilschen und mogeln, hökern und wuchern, um nur den Schweiß ehrlicher Arbeit fliehen zu können. Und dieser Geist der Korruption durchzieht die ganze Gesellschaft. Das Händlervolk kauft sich von Gesetzen los, das der schlechtentlohnte, aber zahllos die Kanzleien bevölkernde und faulenzende Beamte verkauft, um besser leben, um vielleicht überhaupt leben zu können. Das gibt der oberflächlichen Beobachtung den angenehmen Eindruck völliger Freiheit von Pedanterie, von der Pflicht- und Paragraphenstrenge; und dient keinem besser als dem Reichtum, der hier am vollsten prassen darf, weil das Aufeinanderstoßen moderner Fabriken und alter Wirtschaftsformen und die erste, märchenhafte Ergiebigkeit unausgeschöpfter Bodenschätze unendliche Gewinne abwirft.

Nur scheinbar steht die Intelligenz zu diesem Sein und Treiben in einem Widerspruch, den man gern bei ungenügender Prüfung der ursächlichen Zusammenhänge sogar zu einem idealen Gegensatz aufgehöht hat. Im Grunde sind diese Intellektuellen des Ostens nicht anders wie die Fabriken des Ostens vollgepfropft mit den fertigen Erzeugnissen des Auslands. Sie handhaben die abgeschlossenen Ergebnisse eines fremden Denkens, das in ihrem Lande keine Entwicklung hatte oder nur in einer Aufeinanderfolge von Gedankenreflexen aus dem Ausland sich entfaltete. Sie handhaben aber dieses überkommene Geistesgut desto kühner, schreiten um so leichter zu den radikalsten Schlußfolgerungen fort, als ihnen eben die Mühe des Erwerbens nie recht anschaulich geworden ist. Sie bilden die unabhängige Jugend, denn sie hemmt nicht der ehrfurchtgebietende Anblick fruchtbarer Arbeit der Väter. Und sie erscheinen ideal allein auf das Gedankliche gerichtete, von der Enge des Brotstudiums weniger begrenzt weil ringsum nirgends das Beispiel strenger Berufsarbeit den Beruf, die gesellschaftlich notwenige Teiltätigkeit als Lebensaufgabe erscheinen läßt. Und wovon leben sie am Ende? Nicht anders als die Fürsten-, Beamten- und Lakaienstädte des achtzehnten Jahrhunderts von dem Ueberschuß des Ackerertrages im dünn besiedelten Lande, einem Ueberschuß, den der Staat für die handeltreibende und in Kanzleien faulenzende Stadtbevölkerung mit allen seinen Steuerschrauben herauspreßt.

So durften wir einst über den Osten reden. Dürfen wir es noch? Ist der Osten nicht unter uns selbst leibhaftig aufgestanden, seitdem der Krieg die Werke unserer westlichen Gesittung verwüstet und den Menschen dieser Gesittung das Herz versehrt hat? „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Um uns herum ist es russische Steppe geworden, Steppe eingeebneter Kultur, in unseren ehrwürdigen Kultur- und Arbeitsstädten wimmelt und wuselt die untätige Geschäftigkeit von Warschau und Berdiczew. Und es sind nicht nur Städte aus dem Osten, die ihr altehrwürdiges Handwerk in modernen Schleichhandel umgemodelt haben. Zu ihnen gesellen sich gelehrige Schüler, alles, was im Hungerleben des Krieges die Arbeit hat meiden lernen. Ein neues Lebensideal steigt auf, nicht öffentlich anerkannt, desto eifriger befolgt: zu leben ohne produktiv tätig zu sein, zu leben, indem man eine Ware, wo immer erzeugt, zinsnehmend von Hand zu Hand schiebt. Und diesem Grund- und Haupttypus des östlichen Lebens schließen sich notwendig die abgeleisteten Typen und Gestalten an. Wo der Gewinn aus dem Nichts das Ziel bildet, dort muß wildes Spiel und roh wüstes Genießen unmittelbar daneben erwachsen. Doch wenn nun Habenichtse, denen der Schleichhandel Haufen von Banknoten zugeschoben, an eine Karte, an ein Weib, an eine Flasche Sekt Summen wagen, die einst selbst die goldene Jugend auszugeben sich scheute, so gebührt es sich, daß wir zugleich in Eisenbahnzügen fahren, die von Ungeziefer fast so dicht wie von Fahrgästen überfüllt sind, und der Schmutz überall frech am hellen Tage wächst. Die gute alte Zeit kehrt wieder, wo jeder eine Nase voll nahm und sich weiter an den Stank nicht sonderlich kehrte, die gute alte Zeit zu der unsere täglich sinkende Arbeitsleistung herabzugleiten beginnt, die gute alte Zeit der Dreifelderwirtschaft, zu deren Ertraglosigkeit unsere Äcker fast schon herabgestürzt sind, Wir haben Beamte und Studierende, mit denen wir einen Großstaat ausrüsten könnten, aber bloß für vier Monate Brot und kaum für anderthalb Monate Kohle.

Wir haben alles in Ueberfluß, bloß das nicht, was wir brauchen, was zum Leben unabweislich notwendig ist. Wir stehen auf kargem Boden, in der Steinwüste einer Riesenstadt und haben keine Schätze als welche die Hand und der Geist hervorzaubern. Mit unserem Arbeitsrhythmus schwingt gleichmäßig der Rhythmus unseres Lebens. Wir können nicht feilschen, nicht hazardieren, auch nicht beim Samowar endlose kluge Gespräche führen, wir müssen erfinden und schaffen. Erfinden und Schaffen, das ist die Religion der neuen Zeit. Forschen und erfinden, schaffen und wirken, daraus erfließt auch ihr dreifacher Segen: Freiheit, Demokratie und Sozialismus.

In: Arbeiter-Zeitung, 13.8.1919, S. 1-2.

Felix Salten: Nervenprobe

Wie gern würde nun jedermann seine Gedanken zu anderen Dingen senden und sie dort festhalten.  Oder sie sorglos durch den Raum schweifen lassen. Von einer entzückenden Gegend in der Sommersonne zu einem geliebten oder verehrten Menschen; von einem bahnbrechenden Buch zu einem beglückenden Kunstwerk, oder zu einem Musikstück, daraus Seligkeit und Aufschwung strömt. Wie eifrig müht man sich, das Gespräch in andere, weit weg führende Gebiete zu lenken, wo sich weite Ausblicke öffnen, irgendwohin, gleichviel wo. Es wäre wohltätige Beruhigung, wäre notwendiges Labsal. Aber noch geht das nicht. Noch nicht. Die eben erst durchlebten Tage lasten zu schwer auf den Nerven. Was immer man auch versucht, es bleibt unmöglich, etwas anderes zu denken, von etwas anderem zu reden, als von dem Ereignis dieser Tage. Deshalb soll man die vergebliche Mühe auch gar nicht aufwenden. Sich ruhig aussprechen, so ruhig wie eben zulässig, ist doch die einzig wirksame Entspannung. Entspannung aber brauchen wir, weiß Gott, alle miteinander.

            Ein starker Eindruck war es, ein stärkender Eindruck zugleich, wie jede Arbeit trotz des heftigen Kampfes ihren ungestörten Fortgang nahm. Alle waren an ihren Stellen. Die Arbeiter in ihren Fabriken und Werkstätten, die Beamten in den Bureaux. Die Lieferung der Lebensmittel wurde nicht gestört. Und – ein Beweis großen Vertrauens – zahlreiche Kaufladen hatten offen, als sei nichts passiert und als könne nichts passieren. Während Anno achtzehn der Novemberumsturz über unser zermürbtes, zerstörtes Vaterland hinfegte, wurde hier an dieser Stelle gesagt: „Partei, das ist die Unfähigkeit, eine rein menschliche Angelegenheit rein und menschlich zu betrachten.“ Die musterhafte Art, in der sich das Volk von Wien jetzt verhalten hat, ist eine rein menschliche Angelegenheit. Angesichts einer hoffentlich bald überwundenen Gegenwart, die sogar die Schulkinder politisieren wollte, so daß sie eine Besinnung und ein Urteil sich zumuteten, bevor sie das Leben überhaupt kannten, angesichts dieser, wie gesagt, hoffentlich bald überwundenen Gegenwart darf man das rein menschliche Verhalten der Wiener wohl einmal rein menschlich würdigen.

            Mag auch behauptet werden, die Leute seien alle nur deshalb bei ihrer Arbeit und Pflicht geblieben, weil jeder sich sagte, daß der kleinste Platz, der frei wird, Hunderte von stellungslosen Bewerbern findet, die Anerkennung, die solch einem Ausharren gebührt, kann dadurch nicht gemindert sein. Nerven gehören zu solchem Ausharren. Geduld, sehr viele, sehr gutmütige Geduld muß man haben. Und neben der angenehmen, neben der sympathischen Dosis Leichtsinn doch kluge Einsicht und im Grund verantwortungsbewußten Daseinsernst.

            Man erwäge, was die Wiener seit zwanzig Jahren durchgemacht haben. Erwäge ferner, daß Tausende von ihnen vor zwanzig Jahren Kinder waren, Tausende Halbwuchs, daß weitere Tausende vor zwei Dezennien erst zur Welt kamen. Man rechne die Zahl derjenigen dazu, die vor zwanzig Jahren als reife Menschen behaglich ihre Tage genossen haben und seither vom härtesten Existenzkampf ausgehöhlt sind. Dann wird man begreifen, wie unendlich viel diese glänzend überstandene Nervenprobe bedeutet. Das Wiener Volk ist während des ganzen, ungeheuer langen Krieges vom Donner des Krieges verschont geblieben. Die paar Gewehrsalven in der Umsturzzeit erregten heftigste Bestürzung und das Schießen nach dem Brand des Justizpalastes weckte starres Entsetzen.

Was ist das heute, gegen die Vorgänge der letzten Tage? Beinahe gar nichts. Die Ansätze zu Feuergefechten in der sogenannten Revolution sind Ansätze geblieben, mußten Ansätze bleiben, weil die Wiener, zu sanft, zu liebenswürdig, zu mildherzig, keine Neigung für das Tragische zeigen und weil sie damals zu müde, zu verzweifelt waren, um in wildem Jähzorn aufzuschäumen. Der staatsrechtliche Umsturz vollzog sich in Wahrheit, ohne daß es notwendig gewesen wäre, daß die Gewehre knallten. Dieser Umsturz geschah durch Zwang von außen her, durch die Konjunktur, die ihnen gegeben und die von der tiefen Entmutigung der bis dahin Regierenden gefördert wurde. Der Brand des Justizpalastes mit seinen Todesopfern stellt sich schon längst als das ebenso dilettantische wie nichtswürdige Unternehmen von ortsfremden Hetzern dar.

            Jetzt aber das dumpfe Dröhnen der Geschütze. Mitten in volkreichen Bezirken. Das tödliche Schwätzen der Maschinengewehre. Oesterreicher gegen Oesterreicher. Keiner von den heute Lebenden vermag sich zu erinnern, er habe Kanonenfeuer in Wien gehört. Diesmal brüllte die furchtbare Stimme der Artillerie durch Tage und Nächte. Die Fenster klirrten, die Häuser bebten von dem Luftdruck. Und im drückenden Bangen um das nächste Geschehen, um das gestern und heute Geschehene bebten die Nerven, bebten die Gemüter der Menschen. Eine ungeheure Fassung, ein frommes Sichfügen braucht es, da die Tagesarbeit zu verrichten und des Nachts nicht völlig zu verzagen. Dann der Gedanke an alle die Toten, an die blutigen Opfer, Oesterreicher alle zusammen; der Gedanke an die zahllosen vernichteten Existenzen, an junge Leute, die verwirrt und mit der Inbrunst der Jugend ihr Leben einsetzten, an unschuldige Kinder, die nicht ahnen, wieso und warum plötzlich die Hölle über sie hereinbricht. Der Gedanke an die Männer der exekutiven Gewalt, die hingebend und heroisch ihre Pflicht erfüllen, die das Aeußerste in ihrer Unerschrockenheit, in ihrer mutigen Bravour wagen. Begreiflich, daß zu solcher Zeit das Verbreiten von Gerüchten unter Strafe gestellt wird.

Aber ebenso begreiflich, daß dennoch Gerüchte von Mund zu Mund fliegen. Jeder will etwas wissen und jeder will etwas gehört haben oder etwas hören. Aber selbst da zeigten sich die Wiener geradezu musterhaft. Als hätten sie mit feinem Taktgefühl verstanden, daß diese Tage zu ernst, zu schwer, zu entscheidend waren, um Sensationsmache und Wichtigtuerei zu gestatten, ließ sich kaum ein Gerücht in die Runde tragen. Und das Telephon war doch frei. Wenn die Leute trotz des Gewittersturmes, der sie umtobte, treu bei ihrer Arbeit blieben, wenn sie trotz allem, was sie wußten, und mehr noch, trotz allem, was sie erfahren konnten, ihre Nerven behielten, so trat damit ihre Abkehr von der Politik auf das deutlichste in Erscheinung, die Abkehr von der kannegießenden, phrasendreschenden, professionellen Politik. Die Menschen wollen in Wirklichkeit Ruhe haben. Sie wollen Frieden und eine gesicherte Existenz. Der weitaus überwältigenden Mehrheit sind das die wichtigsten, die höchsten und heiligsten Güter. „Sicherheit und Ruhe, Ordnung und Freiheit“, läßt Goethe den Chorus des Volkes im Egmont-Drama sprechen. Goethe ist es, der in seiner „Italienischen Reife“ einmal sagt, der Mensch sei doch „eine gutmütige und geduldige Bestie“. Geduldiger als sich diesmal das arbeitende Wien benommen hat und gutmütiger wird man so leicht in der Welt keine zweite Stadt finden. Das arbeitende, das ums tägliche Brot sorgende, das unpolitische Wien.

            Die Fremden, die in Wien sind, brauchen nicht abreisen. Die Aengstlichen, die abgereist sind, können getrost zurückkommen. Und wer im Ausland den Plan hegte, nach Wien zu fahren, soll ihn nicht aufgeben. Eine Großstadt, die derartige Erschütterung so unerschüttert überdauert hat, ist schon deshalb einen Besucht wert. Von anderen Köstlichkeiten für heute ganz zu schweigen. Man hat seit zwanzig Jahren sehr viel in Wien erduldet. Sehen wir zu, was ja keiner leugnet, dieses jüngste Ereignis ist das ärgste gewesen. Allein, was gleichfalls nicht geleugnet werden kann, überall in allen Teilen dieser schönen Erde hat der Mensch seit zwanzig Jahren Ungeheures erdulden müssen. Und da war es hier, an der Donau immer noch am besten, am wohnlichsten, am geschütztesten. Eine wahnsinnig gewordene Zeit. Vielleicht. Schwer, in dieser Zeit zu leben und aufrecht zu bleiben. Aber eine unerhört interessante, eine fabelhaft spannende, eine hochdramatische Zeit.

            Wir können heute noch an nichts anderes denken, können von nichts anderem reden, als von dem Ereignis des blutigen Wiener, des österreichischen Faschings, der am Aschermittwoch sein trübseliges, sein gutes Ende nahm. Noch beschäftigt alle die Sorge, wie die Wunden, die geschlagen wurden, die geschlagen werden mußten, zu heilen sind. Noch spähen wir bang in die dunklen Wetterwolken, ob nicht ein erster Schimmer der Gnadensonne hervordringt. Er wird kommen. Gewiß. Wir wären nicht in Wien, nicht in Oesterreich, wenn dieser Schimmer ausbliebe. Wenn wieder Milde und Versöhnlichkeit waltet, woran kein Zweifel besteht, wenn jetzt gescheiterte Existenzen wieder aufgerichtet und der Gemeinschaft wieder neu gewonnen werden, wenn wir die Witwen und Waisen vor Not beschützt wissen – dann beginnt ein schüchternes, ein befreites Aufatmen. Immer tiefer wird dieses Atemholen werden, immer leichter und befreiter. Dann wird es wieder möglich sein, an andere, angenehme Dinge zu denken, wieder möglich, von anderen, wichtigen und schönen Dingen zu reden.

            Eines Tages, der hoffentlich nahe ist, mag sich dann das so heiß ersehnte Gefühl der Sicherheit wieder einstellen, das so lang entbehrte Empfinden der Beruhigung. Der Preis den wir alle dafür schon bezahlt haben, ist hoch genug. Nicht bloß die Politiker und die parteimäßig Gerichteten. Wir alle ohne Ausnahme. Denn das harmloseste, abseitigste Einzelschicksal ist mit hineingerissen in den Wirbelsturm der Gegenwart. Gefühl der Sicherheit jedoch bildet die Grundlage für jegliches Blühen der Wirtschaft. Empfinden der Beruhigung bildet den Boden, auf dem das Gedeihen erst möglich wird. Und nichts anderes, bei Gott!, wirklich nichts anderes hat Oesterreich so dringend nötig, wie das Gedeihen seiner Wirtschaft.

In: Neue Freie Presse, 18.2.1934, S. 2-3.