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Fritz Feder [= Jura Soyfer]: Avantgardistisches Theater im Hagenbund.

GENERALPROBE. Der kleine Theatersaal ist kaum geheizt. Die Schauspieler sind übernächtigt und nervös. „das Technische“ klappt nicht. Ja, wenn ein regelrechter Inspizient vorhanden wäre und eine Schar von Bühnenarbeitern – wenn man Maschinerie und Personal eines großen Theaters zur Verfügung hätte – dann würde sich jetzt gerade in diesem „Technischen“ das ganze Genie des Regisseurs offenbaren. Hier aber muß er in mühseliger Selbstbeherrschung feststellen: es klappt nicht; muß sich von Minute zu Minute immer mehr überzeugen lassen, wie notdürftig sich in Wirklichkeit all die Gongschläge, Grammophon-Melodien, Beleuchtungseffekte ausnehmen, die er blitzenden Auges im Regiebuch vermerkt hat; muß jeden seiner Einfälle krampfhaft verteidigen gegen die ringsum aufsteigende Hysterie, die da fordert: Rette, was noch zu retten ist! Laß alles aus, bis auf den nackten Text! Seien wird froh, wenn wir das Stück überhaupt nur irgendwie abrollen lassen können, auf diesem armseligen Nudelbrett von einer Bühne!

Aber die Schauspieler, der Beleuchter, der Bühnenbildner gebärden sich mutloser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie werden bis spät in die Nacht durchhalten. Sie werden am nächsten Tag zu einer weiteren noch generaleren Generalprobe antreten. Sie werden trotz Grippe und Müdigkeit, elektrisiert vom Lampenfieber, sich mit Einsatz aller Kräfte in die Premiere stürzen. So wird die Aufführung auf dem „Nudelbrett“ zustande kommen, wird die Durchschnittsleistung der großen Theater geistig bei weitem übertreffen und dies ohne andere Mittel als die Energie eines Dutzend theaterbesessener junger Menschen.

Das ist ein altes Lied: das Lied vom avantgardistischen Studio.

In dieser Woche war die Theatergruppe des Dr. Ernst Rohner an der Reihe, all die Geburtswehen einer solchen Premiere durchzumachen. Aufgeführt wurde „Die Unbekannte von Arnas“, das Werk eines jungen Franzosen namens Salacrou. Vornehmlich aus zwei Gründen ist diese Aufführung beachtenswert. Erstens ist das Stück selbst künstlerisch sehr interessant und stellenweise von genialen Einfällen getragen. Zweitens ist es dieser seiner hohen Qualität wegen äußerst instruktiv über die ganze künstlerische Richtung, der es angehört, und – was besonders wichtig ist – charakteristisch für die Situation aller avantgardistischen Theatergruppen in Wien.

Ein Mann in gutbürgerlichen Verhältnissen namens Ulysse erschießt sich, weil seine Frau ihn betrogen hat. Ehe er sich aber dem Jenseits zuwendet, hat der Tote noch hienieden ein Stück Weg zurückzulegen. Alle Erinnerungen seines Daseins erscheinen nämlich in der Wohnung und in ihrem Kreise muß er alles noch einmal durchmachen, was ihm seit der Kindheit an menschlichen Erschütterungen begegnet ist, kurz gesagt, er muß sein Leben repetieren. Dieses Nochmals-Erleben erfolgt nicht chronologisch, sondern als sehr bewegtes Durcheinander. (Als ein „Jahrmarkt“, wie der Kammerdiener Nicola es ausdrückt, der eigentlich gar kein Kammerdiener ist, sondern die Fäden des ganzen mystischen Geschehens in der Hand hält.) Das Längst-Vergangene vermischt sich mit dem Eben-Geschehenen und sogar mit der Gegenwart, das heißt, mit dem, was nach dem Tode Ulysse geschieht. In dieser sehr kompliziert verschlungenen Vielheit der Zeiten und in der vollständigen Einheit des Ortes – alle drei Akten spielen im selben Wohnraum – tritt also Ulysse seine Odysse[e] zum zweiten Male an.

Er begegnet den Frauen, die er geliebt hat, angefangen von seiner Mutter. Er stürzt in die Arme seines Jugendfreundes, des sechzehnjährigen Jugendfreundes, der keine Ahnung hat, daß er als Vierzigjähriger dem Ulysse die Frau stehlen wird. Er läßt sich gerührt von einem zwanzigjährigen Offizier in Kavallerie-Uniform segnen: dieser aus einem Bildrahmen Herabgestiegene ist Ulyssens Großvater, blutjung gefallen in der Schlacht von Gravelotte, der Held der Familie. Aber knapp vor seiner Abreise ins Feld hatte dieser prächtige Offizier des Geldes wegen eine alte Frau genommen, und wie alles andere, muß Ulysse jetzt auch den schmerzlichen Moment wiedererleben, da er von dieser Ehe erfährt und damit das Ideal seiner ersten Jugend zusammenbrechen sieht.

Daß er dieses ganze Leben schon einmal gelebt hat, nützt ihm nichts. Jede Illusion und jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jede Beseligung ziehen ihn, der doch den Ausgang im voraus weiß, unvermeidlich wieder in ihren Bann. Es ist so, als lebte er all dies zum ersten Male. Nur am Schluß, als er vom Betrug seiner Frau erfährt, scheint es einen Augenblick lang, als dürfte er die Lehre aus dem repetierten Leben ziehen. Er komm nämlich zur Erkenntnis, daß die Frau des Selbstmordes nicht wert ist, daß er dieses Los ertragen muß wie die übrige Durchschnittlichkeit seines Lebens, daß er außerdem hienieden noch viel zu lernen und zu genießen hat. Kurz: er will sich nicht umbringen.

Aber da reicht ihm der Kammerdiener (grotesk und mysteriös wie eine Gestalt von E.T.A. Hoffmann) den Revolver und erklärt: Nichts zu machen! Der Schuß ist schon gefallen. Worauf Ulysse die Waffe nimmt und der Schuß fällt.

Hat er sich zufällig umgebracht? „Nein,“ meint der Autor Salacrou, „es gibt keinen Zufall!“ Und um dieses wichtigste Fazit seines Stückes zu unterstreichen, hat er es eben nach jenem unbekannten Mädchen von Arnas benannt, das dem Ulysse einst im Weltkrieg begegnete. Er hat sie zufällig in einer evakuierten Stadt an der West-Front kennengelernt und sogleich wieder verloren. Es ist ihm nicht gelungen, irgend etwas über sie zu erfahren – nicht einmal ihren Namen. Vielleicht, wenn der Zufall sich anders gewendet hätte, hätte er sie geliebt und geheiratet.

Vielleicht wäre sein Schicksal anders abgerollt, wenn er diese Unbekannte erkannt hätte. Aber sein vorgezeichnetes Erdenschicksal war es eben, sie nicht kennenzulernen. Erst im Jenseits wird sie ihm sagen, wer sie ist.

Das ist die möglichst einfache Wiedergabe des sehr schwierigen Stückes. Lange und ausführlich ließe sich noch an ihm herumdeuten. Lange und ausführlich ließe sich noch vom dramaturgischen und philosophischen Standpunkt pro und contra sprechen.

Aber es gibt anderes dazu zu sagen, das für uns alles wichtiger ist.

Armand Salacrou gehört, seinem Stück nach zu schließen, zu den französischen Surrealisten. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg haben breite Schichten des französischen Publikums und an ihrer Spitze eine Reihe prachtvoll begabter junger Schriftsteller gegen die bestehenden Kunstformen revoltiert. Eine Welt neuer Probleme war stürmisch zutage getreten. Die hergebrachten Formen schienen keine geeignete Ausdrucksmöglichkeit mehr zu bieten. In dieser Zeit haben die Surrealisten, kühn experimentierend, Neues zu schaffen versucht. Was ihnen gelang, war viel zu wenig. Nämlich – was Theater betrifft – nur die Befreiung von starren, formalen Gesetzen der Dramaturgie. In dieser Beziehung haben sie den Expressionismus fortgesetzt und vollendet. Aber weiter kamen sie nicht. Nach einer Etappe wirklichen Fortschrittes trat Stillstand ein: es wurde nur mehr um des Experimentes willen experimentiert, es wurde mit Formen gespielt, was man sagte, wurde sekundär gegenüber der Manier, wie man es sagte.

Um diese Zeit wendete sich einer der führenden Surrealisten, Aragon, von seiner eigenen Schule ab. Und er blieb nicht der einzige. Heute gibt es in Frankreich eine breite Bewegung von Schriftstellern, die sich in Lyrik, Epik und Drama der ewigen Quelle aller Kunst zugewandt haben: dem Volk, mit seinen tausendfältigen lebendigen Lebensproblemen.

Und eines, worüber Lyriker sowie Epiker untereinander noch diskutieren mögen, kann für Theatermenschen doch kaum mehr fraglich sein: nämlich daß in allen Zeiten der Geschichte das Theater nur dort, nur dann groß und fruchtbar war, wo seine Leidenschaften die von Hunderttausenden waren.

Und von dieser Feststellung wollen wir nun zu den Wiener Theatern zurückgehen. (Zurückgehen – in jeder Beziehung.)

Die herrschende Wiener Theaterproduktion, welche sich derzeit merkwürdigerweise einer relativen wirtschaftlichen Konjunktur erfreut, steht geistig auf einem äußerst tiefen Niveau. Was die großen Unternehmungen anstreben, bewegt sich zwischen dem Amüsement und dessen etwas würdiger klingenden deutschen Übersetzung: Unterhaltung. Nur ein erschreckend geringer Prozentsatz der aufgeführten Stücke läßt sich in diese primitive Wertordnung nicht einreihen. Ein künftiger österreichischer Theaterhistoriker wird diese Epoche mit ein paar bedauernden Worten abfertigen müssen. Das weiß so ziemlich jeder, der mit dem Theater zutun hat. Die einen kümmern sich nicht darum – die anderen leiden darunter und wollen es seit Jahren besser machen. Sie waren vor Jahren eine einflußlose Minderzahl. Und das sind sie bis heute geblieben.

Warum? Hat es in diesem Lager an Talenten gefehlt? Gewiß nicht. Die großen Theater haben aus den kleinen Gruppen der Jungen die lohnendste Akquisition gemacht. Hat es am ehrlichen Willen gemangelt? Ohne die Lockungen zu unterschätzen, die von einer großen Gage ausgehen, läßt sich nüchtern sagen: nicht bei allen hat es am ehrlichen Willen gemangelt.

Liegt es also am Publikum? Will das Publikum um keinen Preis etwas anderes sehen als geschickt geschriebene, nichtssagende Stücke? Wenn es wahr ist – warum suchen sich die Studios kein anderes Publikum als das eine, an das sie sich seit soundsoviel Jahren vergeblich wenden? Und wenn es nicht wahr ist, warum ist und bleibt all die bewundenswerte Arbeit eine Sisyphusarbeit?

Über all diese Fragen müßten wir alle, denen es ums Theater zu tun ist, einmal nachdenken.

Gibt es zwischen dem Happyend eines Singspieltenors und dem doppelten Selbstmord eines avantgardistischen Ulysses wirklich keine Möglichkeit, die ein Experiment lohnen könnte?

In: Der Tag, 21.2.1937, S. 22.

A.F.S [Adalbert F. Seligmann]: Die Frau als Künstlerin.  

(Zur Ausstellung im Hagenbund.).

Der Weltkongreß der Frauen, der in diesen Tagen wohl an tausend seiner Mitglieder und Gäste in unserer Stadt versammelt, hat wie ein warmer Frühlingsregen auch auf dem bei uns sonst nicht allzu ergiebigen Boden der bildenden Kunst – ergiebig im materiellen Sinn! – ganze Pflanzungen aufsprießen lassen. Da ist zunächst eine Ausstellung in den Terrassensälen der Neuen Hofburg, von der Gruppe „Wiener Frauenkunst“ veranstaltet – der Bericht darüber ist eben erschienen -, die das Ewig-Weibliche in seinen radikal modernen Spielarten vorführt; dann die von der Vereinigung bildender Künstlerinnen Oesterreichs in den Räumen des Hagenbund (1. Zedlitzgasse 6) unter dem Titel „Zwei Jahrhunderte Kunst der Frau in Oesterreich“ kürzlich eröffnete, die auch höchst interessante Blicke in die Vergangenheit tun läßt. Bald soll auch im Theseustempel (Volksgarten) eine Nachlaßausstellung der Bildhauerin Anna Margarethe Schindler eröffnet werden, auf die man gespannt sein darf, denn die kürzlich in jungen Jahren Verstorbene war ohne Zweifel eine der stärksten Begabungen, die in letzter Zeit hervorgetreten sind. Auch auf eine bescheidene, rasch improvisierte Schulausstellung der „Wiener Frauenakademie“ (1. Bäckerstraße 1) darf hingewiesen werden, weil aus dieser vor einem Menschenalter gegründeten Anstalt zahlreiche namhafte Künstlerinnen hervorgegangen sind, die wir in den beiden eben genannten Ausstellungen vertreten finden. Schließlich mag man auch die prächtige Maria-Theresia-Ausstellung in Schönbrunn damit in einen gewissen Zusammenhang bringen, da in ihr das Wirken einer der genialsten Frauen, die jemals gelebt haben, auf imposante Weise vor Augen geführt wird.

            Naturgemäß drängt sich hier die Frage auf: Haben die in den erwähnten Kunstausstellungen gezeigten Werke etwas Gemeinsames, das man als das spezifisch Weibliche in der Kunst bezeichnen könnte? In dieser Hinsicht sind die Antworten lehrreich, die auf eine, von den Veranstalterinnen der „Wiener Frauenkunst – Ausstellung“ an zahlreiche Persönlichkeiten gerichtete Rundfrage: „Wie sieht die Frau?“ eingelaufen, im Katalog dieser Ausstellung abgedruckt erscheinen. Während hier sonderbarerweise die Aueßerungen einiger Kunstgelehrten nur ganz vage und allgemeine, zum Teil ins Abstrakt – Nebelhafte sich verlierende Ansichten wiedergeben, sind es zwei Frauen, Marianne Hainisch und Rosa Mayreder, die sich am präzisesten fassen und meines Erachtens in der Hauptsache den Nagel auf den Kopf treffen. Beide sagen kurz und bündig, daß die künstlerisch veranlagte Frau nicht als Geschlechtswesen, sondern als Individuum ficht. „Je höher die Begabung, desto weniger machen sich die spezifischen Geschlechtseigenschaften geltend. Ich könnte nicht sagen,“ fährt Rosa Mayreder fort, „inwiefern die Werke der Rosa Bonheur, der Tina Blau, der Käthe Kollwitz, der Feodorowna Ries“ – wir zitieren nur einige der von ihr angeführten Namen – „spezifisch weiblich gesehen sind. Früher einmal hat man das spezifisch Weibliche in der Neigung zur minutiösen Durchbildung, zum Miniaturhaften, in der Vorliebe für das Detail erkennen wollen – aber da müßte man die meisten Zeitgenossen Waldmüllers“ – und diesem selbst, fügen wir hinzu! – „die Männlichkeit aberkennen … Die größte Verherrlichung der Mutterschaft in der Malerei, die Darstellung der Madonna, stammt nicht von Frauen“, usw. Auch Maler A.D. Goltz und der Schreiber dieser Zeilen haben in ihren Antworten Aehnliches, wenn auch nicht so scharf formuliert, gesagt. Es ist ja auch einleuchtend genug! Begegnen wir doch im Leben nur zu oft Männern, die eigentlich alte Weiber sind und Frauen, die die Hosen anhaben; in der Kunst sogar solchen, von denen das letztere auch im wörtlichen Sinne gegolten hat, wie etwa von Rosa Bonheur, von George Sand und auch von einer gelegentlich dieser Ausstellung für die weitere Oeffentlichkeit neuentdeckten Wiener Künstlerin, Hermine Gartner, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelebt hat. Da in den sechziger Jahren den Frauen das Kopieren in der Akademie nicht gestattet war, zog sie Männerkleidung an und behielt diese auch später bei. Im Katalog der „Zwei-Jahrhundert-Ausstellung“ wird ihr abenteuerlicher Lebenslauf und ihr tragisches Ende kurz geschildert. Ihr ausgestelltes Selbstporträt ist eine vortreffliche Arbeit, die aber keineswegs besonders „männlich“ anmutet.

            So viel scheint sicher – von einem gewissen Qualitätsniveau an spielt das „Weibliche“ oder „Männliche“ keine Rolle mehr. Wenn man sich im Mittelsaal der Ausstellung im Hagenbund umsieht, wird man vielleicht an den Werken aus dem achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, also an den Porträts der Carriera, der Angelika Kauffmann (5, 6), der Vigee-Lebrun (9), an den Blumenstücken der Pauline Koudelka-Schmerling (11), den Miniaturen der Henriette v. Brevillier (29)  – wir haben gleich die besten Stücke mit ihren Nummern bezeichnet – das Glatte, Gefällige, dem Auge Schmeichelnde als „weiblich“ bezeichnen wollen; doch darf man nicht vergessen, daß zu jener Zeit die Bilder der Grassi und Lampi, der F. X. Petter und anderer Blumenmaler, die Aquarellporträts von Johann Ender usw. auf das heute keineswegs „männlicher“ wirken. Das lag eben in der Zeit. Vor einem Gemälde, wie es die wundervolle Praterlandschaft der Tina Blau (36) ist, denkt man überhaupt nicht daran, ob es ein Mann oder eine Frau geschaffen hat. Das Bild ist nahezu fünfzig Jahre alt, zur selben Zeit entstanden, wie die große Praterlandschaft, die im Belvedere hängt, und wirkt in seiner unglaublichen, mit den einfachsten und ehrlichsten Mitteln erzielten Lichtfülle als sei es eben von der Staffelei gekommen. Seinerzeit wurde diese Malerei nur von wenigen ganz nach Verdienst gewürdigt, und ich glaube, die bescheidene Künstlerin selbst war sich nicht klar darüber, was sie da eigentlich geleistet hatte. Als das erwähnte große Praterbild – es dürfte im Jahre 1881 gewesen sein – zur Ausstellung im Künstlerhaus eingereicht wurde, wäre es bei einem Haar zurückgewiesen worden. Es war so rücksichtslos hell und farbig, daß es zu den anderen Bildern absolut nicht passen wollte und überall ein „Loch in die Wand“ riß. Damals legte sich Makart ins Mittel und erklärte der Jury, dies sei das beste Bild der ganzen Ausstellung; so erhielt es schließlich sogar einen besonders guten Platz und schon im folgenden Jahr im Pariser Salon die mention honorable.

            Denkt man, wie gesagt, vor den Bildern der Blau gar nicht daran, ob ihr Schöpfer ein Mann oder eine Frau gewesen, so möchte vor denen ihrer bedeutendsten Rivalin, Olga Wisinger-Florian (es sind drei Werke von ihr im ersten Seitenraum linkt ausgestellt), jeder, der ihre Signatur nicht kennt, darauf wetten, daß ein Mann sie gemalt habe. Sie sind mit einer so draufgängerischen Verwegenheit hingespachtelt, daß niemand eine zarte Frauenhand darin erkennen würde. Schade, daß nichts aus ihrer früheren Zeit hier zu sehen ist, keines von den reizenden, ganz dünn und delikat gemalten Feldblumenstücken mit Schmetterlingen und dunklem Grund! Der Katalog tut ihr ein wenig unrecht, wenn er sie nur „als Blumenmalerin geschätzt“ sein läßt, und wenn die Selige wüßte, daß besagter Katalog von ihren Auszeichnungen nur zwei anführt und verschweigt, daß sie Officier de l’Academie gewesen, so würde sie sich im Grab umdrehen, denn sie hielt etwas auf solche Dinge! Die unheimlich groß gewachsene, fabelhaft häßliche, aber höchst geistreiche, amüsante und redegewandte Frau war als Künstlerin vielseitiger, beweglicher, virtuoser als Tina Blau (wenn mir die letztere gleichwohl als die bedeutendere Individualität erscheint), auch stand sie beständig im Mittelpunkt eines regen geselligen Großstadtlebens, während Tina Blau – zum Teil auch ihrer Schwerhörigkeit halber – nur ungern unter Menschen ging, besonders seitdem sie nach einer siebenjährigen, aber überaus glücklichen Ehe Witwe geworden war. Im Menschlichen wie im Künstlerischen zwei Gegensätze, wie man sie ausgeprägter wohl selten antreffen wird.

            Die enorme technische Bravour der späteren Wisingerschen Malerei erregte vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren das größte Aufsehen, gelegentlich sogar Widerspruch! Heute haben sich die Maßstäbe verändert. Man sieht in dieser Ausstellung eine große Zahl von Arbeiten, die gerade in dieser Hinsicht sehr weit gehen und dabei – was ja die Hauptsache ist – auch qualitativ vortrefflich sind. So etwa – wir gehen in der vom Katalog angezeigten Richtung durch die Säle – das breit hingestrichene Männerporträt von Friederike v. Koch (98), die „lettische Bäuerin“ (107) von Therese Mór, ein Bild das in eine öffentliche Galerie gehört, den alle Zufälligkeiten virtuoser Aquarelltechnik ausnützenden „Spaniel“ von Vilma Friedrich (109), die koloristisch brillanten Blumenstücke von Marie Magyar (151, 153), die meisterhaften Hundebilder von Norbertine Breßlern-Roth (164, 166, 167), einer der stärksten Individualitäten unter den lebenden österreichischen Malerinnen (die sich nur davor hüten muß, in Manier zu verfallen!), das wuchtige Vernis-Mou-Blatt von Pepi Weixlgärtner (200), die geradezu ungestüm hingeworfenen Schneebilder der hochbegabten Katharina Wallner (220, 222), die freilich in ihrer exzessiven Art schon an die äußerste Grenze gehen und denen ich darum manche frühere Arbeiten der Künstlerin vorziehen möchte; die monumental gesehenen Figurenstudien und das großzügig einfache Pastellporträt von Johanna Kampmann-Freund; unter den Plastiken die imposante Halbfigur des Grafen Wilczek von Feodorowna Ries (Saal II), ein Werk, das hier durch die zerstreute Beleuchtung und das Material (getönter Gips) nicht so zur Geltung kommt wie in Bronze an seinem Standort vor dem Haus der Rettungsgesellschaft; die wundervolle „Schreitende“ von Anna M. Schindler (Saal V), und die leider etwas zu tief placierte Marmorfigur der verstorbenen Nora Exner, an herbe italienische Renaissanceplastiken gemahnend. Alle die genannten und noch manche andere in dieser Ausstellung gezeigten Werke, die zu erwähnen uns hier der Raum fehlt, enthalten auch nicht die Spur irgendwelcher Süßlichkeit, Glätte oder gefälligen Oberflächlichkeit. Auch dies ist ein Zeichen der Zeit. Für die künstlerisch schaffende Frau von heute fallen zahllose psychische – und sogar physische! – Hemmungen weg, die noch vor dreißig Jahren wirksam waren. Ja, in extrem modernen Ausstellungen von Frauenkunst finden wir den Ausdruck dieses Freiheitsgefühles oft zur forcierten und innerlich hohlen Kraftmeierei ausgeartet.

            Es wäre darum ganz falsch, anzunehmen, daß eine losgeherische oder brutale Skizzenhaftigkeit an sich schon etwas „männliches“ an sich habe. Wir brauchen da nur an Jan van Eyck, Memling, Dürer, Holbein, Terboch, Ingres zu denken, um uns klar darüber zu werden, daß auch die subtilste Durchbildung, die feinste Detailmalerei nicht den Eindruck des Weiblichen oder sagen wir noch bezeichnender, des Frauenzimmerhaften zu machen braucht. Es kommt eben auch hier wieder nur auf die Qualität an! Erreicht diese eine besonders hohe Stufe, so denkt niemand mehr an solche Unterscheidungen. Auch dafür bringt die hier besprochene Ausstellung einige charakteristische Beispiele: im Mittelsaale das Obststilleben der Rosalie Amon (13), so gut wie ein Waldmüller, im Seitenraum I, links das winzige Stilleben von Camilla Friedländer (67), das in Komposition und Haltung freier, daher sozusagen „männlicher“ wirkt als die ähnlichen noch heute gut bezahlten Bildchen von Max Schödl; ferner die geradezu mikroskopisch durch-geführten Tierstudien von Hilde Gräfin Vitzthum gebornen Goldschmidt (IV, 112 bis 114), die nicht nur als technische Leistungen stupend sind, sondern ein Einfühlen in die Natur verraten, wie es in dieser Intensität nur ganz selten zu finden ist. Auch der mit der Feder gezeichnete Männerkopf von Martha E. Fössel (123) oder die Pflanzenstudien von Mila v. Luttich (121) wären etwa noch auszuführen und nochmals auf das schon erwähnte Blumenbild der Baronin Koudelka (Mittelsaal, Nr. 11) aufmerksam zu machen, eine Arbeit, die kurzweg als Meisterstück bezeichnet werden muß. Hier sei auch noch auf das Mädchenbildnis (VII, 206) von Luise Fränkel-Hahn hingewiesen, ein Kniestück, das, obwohl lebensgroß, mit einer an die Quattrocentisten erinnernden Subtilität aller Details durchgeführt, doch nichts an Lebendigkeit und Bewegung verloren hat.

            Werke dieser Art müssen besonders hervorgehoben werden, weil sie gerade bei vielen sogenannten „Fachleuten“ heute auf vollkommenes Unverständnis stoßen, ein Unverständnis, das erstaunlich wäre, wüßte man nicht, daß diese Sorte von Kennern Bilder nicht mit dem Sehorgan, sondern mit dem Literaturorgan betrachtet und dort wo sie ihr reichlicher Fremdwörtervorrat im Stiche läßt, nichts mit dem Kunstwerk – und mit sich – anzufangen weiß.

(Ein Schlußartikel folgt.)

In: Neue Freie Presse (Morgenblatt.), 30.5.1930, S. 1-3.