N.N. [Originalbericht der Red.]: Die internationale Frau. Heimatgefühl und Chauvinismus. (1921)
Von Wien, vom Internationalen Frauenkongreß, dringt in diesen Tagen die Mahnung zum Frieden in die Well hinaus. Wie eine Festschrift zu diesem Ereignis wirkt da die kleine Broschüre, die Rosa Mayreder eben jetzt unter dem Titel Die Frau und der Internationalismus (Verlag Frisch& Ko) erscheinen läßt. Rosa Mayreder gehört zu Wiens ältesten, maßvollsten, aber auch klügsten und darum am meisten geschätzten Frauenführerinnen. Wenn sie mit ihrer blendenden Dialektik eine Sache vertritt, so versteht sie es meisterhaft, ihr Freunde zu gewinnen. Dafür bildet ihr neuestes Werkchen wieder einen unwiderleglichen Beweis. Auf kaum dreißig Druckseiten erörtert sie die Frage der veränderten Stellung der Frau in der Welt seit den Tagen, da rohe Kraft über die Vorherrschaft der Geschlechter und der Nationen entschied. Noch immer — schreibt sie — fühlen sich viele Frauen am wohlsten, wenn sie von starken Männerhänden geleitet werden. Das sind die konservativen, die „guten“ Frauen im althergebrachten Sinn. Aber halten die vielgepriesenen Qualitäten dieser Frauen der modernen Kritik stand? Dürfen Frauen einfach nachbeten, was ihnen seit Generationen, ja seit den Tagen, da die Macht des Stärkeren einzig Recht schuf, vorgesagt wird? Frauen haben die Pflicht, ihre Kinder zu modernen Menschen heranzuziehen, ihre Ausgabe ist es, den Heranwachsenden die Schlagworte einzuprägen, die ihnen als Eindrücke der ersten Kindheit unbewußt zu Richtlinien für das ganze Leben werden. Dürfen sie da heute im Zeitalter der durch den Krieg allerdings grausam gestörten, durch ihn aber noch stärker ins Bewußtsein getretenen Humanität an Schlagworten festhalten, die den Mord und die Zerstörung heiligen, ja letzten Endes ihren eigenen Kindern den Opfertod „auf dem Felde der Ehre“ zur Selbstverständlichkeit machen?
Die Liebe zur Heimat bildet den Ansporn, im Falle der Gefahr das Vaterland zu verteidigen, und zum Räuber und Mörder zu werden. Rosa Mayreder bringt nun den in der Zeit hochgehender nationaler Erregungen gewiß nicht zu unterschätzenden Mut auf, das Nationalgefühl von seinem natürlichen Ursprung bis zu seiner krankhaften Entartung zu beleuchten. Die Liebe zur Heimat wohnt nahezu in der Brust eines jeden normal empfindenden Menschen, sie ist auch tief begründet, denn der Mensch ist ein Produkt des Klimas, der Bodenverhältnisse, der Sitten und Gebräuche seines Landes, seine Sprache ist ihm heilig und sein Wunsch, diese Sprache, auch in seinen Kindern und Kindeskindern lebendig zu erhalten, erscheint nur zu begreiflich. Ein Heimatgefühl dieser Art wird jedermann achten, und er wird es vielleicht sogar verstehen, wenn die eine oder andere Nationaleigenschaft den Stolz der Volkszugehörigen eines gewissen Landes erweckt. Aber erwächst daraus das Recht, nur das gut, schön und edel zu finden, was der eigene Volkscharakter zeigt, und alles jenseits der Grenzpfähle mit überlegener Verachtung, ja mit latentem Haß zu betrachten, der bei jeder Gelegenheit aufloht? Entgegen der Ansicht aller glühenden Nationalisten, die dieses leicht mitreißende Schlagwort entweder selbst politisch ausbeuten oder ihm zur Beute fallen, betont die mutige Autorin, daß Nationalfanatismus nichts weiter als ein Produkt von Schlagworten ist, das in der modernen Kulturwelt längst keinen Raum mehr haben sollte. Die Kulturwerte der verschiedensten Nationen, ihre Dichtungen, ihre Musik, ihre Erfindungen und Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiet sind längst Gemeingut aller Gebildeten geworden. Die Schranken des Nationalismus wurden überall dort, wo es sich um geistige Werte handelt, aus dem Weg geräumt, bei aller Anerkennung der Tatsache, daß bodenständige Kunst die wertvollste ist, und nur in der Politik kennt man noch den Nationalfanatismus als Hetzmittel. Er aber bewegt sich ganz in der Sphäre kriegerischer Werte, deren Überwindung die Frauenbewegung zum Ausgangspunkt ihrer Propaganda nahm. Man hat dann ihren Anhängerinnen und darüber hinaus dem ganzen weiblichen Geschlecht den Vorwurf gemacht, daß ihm der nationale Sinn fehle, alleinabgesehen davon, daß es leider sehr viele Frauen gibt, die nationalistischen Anschauungen huldigen, haben sich nicht auch viele Männer für den internationalen Gedanken eingesetzt? Goethe war der Ansicht, daß der Nationalhaß am stärksten auf der untersten Stufe der Kultur zu finden sei und von Grillparzer stammt der Ausspruch: „Von Humanität durch Nationalität zur Bestialität“ Das Zurücksinken der Menschen auf eine überwunden geglaubte Entwicklungsstufe ist das trostlose Charakteristikum der Gegenwart. Betrachten wir den durch den Nationalismus herbeigeführten Zustand der Welt, dann kann man sich eines Gefühls der Scham darüber nicht erwehren.
Aber gerade diese Gegenwart mit all ihren Schrecknissen bildet auch wieder den Antrieb für geistig hochstehende Menschen, // zu den Vorkriegsidealen der Humanität zurückzufinden uns den Nationalismus auf seine wohltuenden Einflüsse einzuschränken. Immer mehr befreit sich der moderne Mensch von Fesseln, die ihn und seinen Gesichtskreis einengten. Der Familienbegriff hat eine neue Form angenommen, insbesondere die erwerbende Frau spielt heute in der Familie eine neue Rolle, und wenn Rosa Mayreder auch vielleicht mit ihrer Behauptung, das Zusammengehörigkeitsgefühl durch Familienbande habe viel von dem einstigen Ansehen verloren, ein wenig zu weit geht, so ist es doch richtig, daß zumindest die Stellung der einzelnen Familienmitglieder zu einander anders geworden ist. Überall sind die Grenzen weiter gezogen, die Gemeinschaften der Angehörigen eines Standes oder einer Konfession schließen sich nicht mehr gegeneinander ab, und wer weiß, wie bald nach der jetzigen Überspannung des Nationalitätsgefühles auch hier der versöhnlichere Umschwung eintritt. In allen Staaten gibt es bereits Frauen, die diese neue Überzeugung vorbereiten, die nicht mehr im passiven Dulden zusehen wollen, wie die Menschen durch ihre Erziehung auseinander gehetzt werden. Noch weiß niemand, ob die Bestrebungen, den Krieg aus der Welt zu schaffen, von Erfolg begleitet sein werden. Jedenfalls aber wäre für den Weltfrieden viel gewonnen, wenn alle Frauen über die Frage des Internationalismus wie Rosa Mayreder denken würden. Achtung vor dem Nachbarn, nicht Haß gegen ihn soll die Menschheit erfüllen, dann entfällt jede Veranlassung zum Krieg von selbst.