Raoul Auernheimer: Die Signatur der Epoche
Ein Sommerbrief aus
Wien
Sie sind
sehr klug, verehrte Freundin. Was, wenn es erst bewiesen werden müßte und nicht
hinlänglich bewiesen wäre durch die Geschicklichkeit, mit der Sie sich allen
Schwierigkeiten zu Trotz in zwölfter Stunde eine Einreiseerlaubnis in das
heilige Land Tirol zu verschaffen mußten, zur Evidenz hervorginge aus einem
kleinen Satz des leider nur so kurzen Briefes, mit dem Sie mich dieser Tage
beglückt haben. Denn was ist Klugheit? Man könnte definieren: Selbst einen
möglichst kurzen Brief zu schreiben, der den Empfänger veranlaßt, uns in einem
sehr langen zu antworten. Darauf aber verstehen Sie in der Mitte Ihrer zwölf
Zeilen mit einer so vollendeten Unschuld an mich richten. Ich soll Ihnen, die
Sie bereits seit Wochen – Sie Glückliche! – von der Weltgeschichte völlig
abgeschnitten leben, in zwei Worten sagen, worin augenblicklich die Signatur
der Epoche besteht. Die Signatur der Epoche und in zwei Worten ! Daran erkenne
ich die Meisterin, auf deren Schreibtisch sich nicht umsonst so viele
literarische Episteln häufen. Ja, Sie wissen, wie man die spröde Feder eines
Schriftstellers in Bewegung setzt. Hätten sie einen langen Brief von mir
beansprucht, so wäre ich Ihnen, bei aller Verehrung, die Antwort wahrscheinlich
ziemlich lange schuldig geblieben. Aber zwei Worte ! Wer wäre so hartherzig,
Sie einer guten Freundin abzuschlagen? Unwillkürlich beginnt man, darüber nachzudenken,
sic mit der aufgeworfenen Trage zu beschäftigen, die Signatur der Epoche zu
studieren, die Ergebnisse seiner Studien zu Papier zu bringen. Und so fängt man
sich, zu Ihrem Vergnügen, in Ihrer Schlinge.
Mir wenigstens ist es so ergangen. Denn, wie ich Ihnen offen
eingestehen will, im Anfang nahm ich Ihren Auftrag ernst und versuchte ihn
buchstäblich zu erfüllen. Ich ging in unserem sommerlichen Wien umher und
suchte die Signatur der Epoche, wie die mittelalterlichen Weisen die Quadratur
des Zirkels gesucht haben. Ich blieb vor unseren Anschlagsäulen und =tafeln
stehen, auf denen die längste Zeit die kommunistischen Aufrufe neben den
Anpreisungen unserer neusten Heurigenetablissements zu lesen waren, und ich
glaube, sie gefunden zu haben. Ich ging über den Ring, auf dem man jetzt fast
nur Ungarisch reden hört und keinem einigen seiner Wiener Bekannten begegnet,
obwohl sie nachweisbar alle, bis auf ganz wenige bedauerliche Ausnahmen, noch
in Wien sind, und ich hatte dieselbe Empfindung. Ich sah über die von Wagen
entvölkerte Ringstraße, über die nur hin und wieder ein zwitscherndes
italienisches Automobil rast – die unseren dürfen nicht zwitschern und können
nicht rasen – ein seltsam närrisches Fuhrwerk schwanken und ich meinte,
wiederum die Signatur der Epoche, unserer Wiener Epoche zumindest, vor Augen zu
haben. Denken Sie sich eine auf Räder gestellte turmartige, viereckige Plakatsäule,
die auf allen vier Seiten von den Ankündigungen eines neuen
Vergnügungsetablissements bunt überzogen ist und die ein ausgemergeltes
Pferdchen – so ausgemergelt, daß man ihm alle Rippen zählen kann – mühsam
vorbeischleppt, wiederholt kraftlos innehaltend und den blutjungen Kutscher zum
Absteigen nötigend. Ist das nicht die Signatur der Epoche, wie wir sie jetzt in
unserem halbverhungerten und zur anderen Hälfte so krampfhaft vergnügten Wien
durchmachen? Schließlich glaubte ich ihr etwas später, im Weiterwandern, noch
einmal zu begegnen, und zwar vor unserem Grillparzer-Monument im Volksgarten.
Sie haben Grillparzer – ich meine natürlich sein Denkmal – noch ein seiner
guten Zeit gekannt und Sie haben ihn sicherlich noch deutlich vor Augen, wie er
inmitten der schön bewegten Reliefdarstellungen aus seinen Werken, bescheiden
thronend dasitzt, mit seitlich geneigtem Haupt, in dieser Haltung, die für eine
gewisse Art verstorbener Oesterreicher so charakteristisch ist ; denn sie
bedeutet zugleich ein Ausweichen, aber auch, indem man ausweicht, ein
Sichbehaupten, und beides war Grillparzers Art, die der Bildhauer aufs
glücklichste in den Marmor bannte….Nun, Sie würden diesen Ihren Grillparzer,
den Inbegriff des Altösterreichertums, aber in unanfechtbar reiner Form, zur
Stunde nicht wiedererkennen. Man hat ihn, wie Sie wissen, bübisch bemalt und
seither verhüllt. Nun sitzt er da wie eine Niobe, die ihr Peplum trauernd über
den Kopf gezogen hätte, oder wie ein unförmiges Marktweib, das in einen Rotzen
eingehüllt schläft. Soll man auch darin die Signatur der Epoche erblicken? Ich
glaube, es hieße das, unserer Epoche unrecht tun, und einen Bubenstreich, der
eben nur ein Bubenstreich ist, unstatthaft verallgemeinern.
Ueberhaupt die Epoche ! Man sagt ihr allerhand nach und nicht
nur Gutes; es ist ja auch wirklich nicht alles schön und gut. Aber war das in
früheren Epochen anders? Ich las kürzlich in den Briefen des Camille Desmoulins,
dieses vielleicht liebenswürdigsten französischen Revolutionshelden, der die
Revolution tadeln durfte, weil er für sie gelebt hat und an ihr gestorben ist.
Nun, auch bei diesem Revolutionsritter ohne Furcht und – fast – ohne Tadel
stößt man auf Sätze, in denen sich eine gewisse Verzagtheit, eine gewisse
Hoffnungslosigkeit, jene mélancolie de quarante ans, die die Revolutionäre
befällt, wenn die Revolution zu ihren Jahren kommt, ganz deutlich bemerkbar
macht. Man kommt nämlich allgemach dahinter, daß Revolutionen – erschrecken Sie
nicht, Bürgerin! – an den Tatsachen des Staates nur sehr wenig ändern. „Ehrgeiz
an Stelle des Ehrgeizes und Habgier an Stelle der Habgier“, so charakterisiert Desmoulins,
gewiß ein klassischer Blutzeuge, nach den ersten vier Jahren das Ereignis der
französischen Revolution. Aber er läßt die und sich darum nicht fallen, sondern
ermannt sich wieder mit den Worten : „Trotzdem ist der Zustand der Dinge, wie
er jetzt ist, unvergleichlich besser als vor vier Jahren, weil es eine Hoffnung
gibt, ihn verbessern zu können, eine Hoffnung, die unter dem Despotismus nicht
da ist …“. So sprach auch Mirabeau,
die ritterlichste Erscheinung der französischen Revolution, wie Desmoulins die
sympathischste, mitten im Sturm der Aufstände das wahrhaft königliche Wort:
„Ich bin für die Wiederherstellung der Ordnung aber nicht der alten Ordnung.“
Uebrigens, „weil wir grad vom Schießen reden“, wie ein Onkel
von mir zu sagen pflegte, der in seinem Leben nicht geschossen hat: so möchte
ich Ihnen noch einiges anvertrauen dürfen, war auf die französischen Zustände
Bezug hat, aber nicht die von 1793, sondern auf die weit ungefährlicheren von
1840, über die Heine in seinen französischen Briefen schreibt. Ich bin unlängst
beim Durchstöbern meiner Bibliothek auf diese Lektüre gestoßen und ich kann
Ihnen versichern, es gibt augenblicklich keine aktuellere. Allein die Titelaufschriften
im Inhaltsverzeichnis, unter denen Sie folgende finden: „Der Kommunismus“, „Die
soziale Weltrevolution“, „Angst der Bourgeoisie vor dem Kommunismus“, mögen
dies beweisen, und um wie viel mehr beweist es der Inhalt. Zumal das Kapitel
über die soziale Weltrevolution klingt wahrhaft prophetisch. Heine, der so
lange aus der Mode war, weil er sich als Dichter unterstand, auch eine
politische Meinung zu haben, und der gerade darum jetzt augenscheinlich wieder
in die Mode kommt, sieht die soziale Weltrevolution heraufdämmern nach einem
Kriege zwischen Frankreich und Deutschland, „diesen beiden edelsten Nationen“,
der damals wie so oft seither als ein schwarzes Gewitter finster drohend am
Horizonte stand. Der Krieg selbst, meint Heine, werde nur der erste Akt „des
großen Spektakelstücks sein, gleichsam das Wortspiel“. Den Inhalt des zweiten
aber werde ausmachen „die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen
mit der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität noch von
Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und
nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden …“. Und da sind wir auch schon
mitten drinnen im theoretischen Kommunismus, von dem Heine in seiner die Ideen
geistreich personifizierenden Art fragt, daß er „inkognito, ein dürftiger
Prätendent, im Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft residiere“. Der
Kommunismus, meint er weiter, sei der düstere Held, dem „eine große, wenn auch
vorübergehende Rolle beschieden ist in der modernen Tragödie“, von der Heine
vorausahnt, daß sie, im dritten Akt, meint einer kirchlichen Restauration und
mit der Wiederaufrichtung der „alten absoluten Tradition“ enden könnte, wenn
auch nicht enden muß. Einstweilen aber hält dieses Schreckgespenst die
reaktionären wie die revolutionären Gemüter in Bann und hilft – im Paris von
1840 – dem braven Bürgerkönig Ludwig Philipp, die etwas wacklig gewordene
Königskrone über seinem feisten Haupte zu befestigen. Und um diesen
psychologischen Prozeß, der einigermaßen an den Umschwung der Geister bei
unseren östlichen Nachbarn erinnert, anschaulich zu machen, erzählt Heine
seinen Lesern die Geschichte vom gipsernen Elefanten. Erlauben Sie mir, daß ich
sie ihm hier nacherzähle. Ohnehin dürfen Sie in Ihrer Vendée nicht so leicht
mit einem kompletten Heine zusammenkommen. Und in einem anderen als in einem
kompletten find Sie diese überaus lehrreiche Geschichte nicht.
Im Juli 1842, also in einer gleichfalls sehr hitzigen Zeit,
beschäftigte den Gemeinderat von Paris eine sehr wichtige Frage, eine jener
Fragen von scheinbar engster lokaler Bedeutung, die aber unter Umständen die
Größe eines Symbols annehmen können. Es handelt sich um die Forträumig eines
kolossalen Gipsmodells, das, einen Elefanten darstellend, als ein Ueberbleibsel
aus der Kaiserzeit auf dem Pariser Bastillenplatz stand. Eine Zeitlang hatte
man daran gedacht, es für ein Denkmal zu verwenden, das der Julirevolution geweiht
sein sollte. Später kam man davon ab und errichtete die Juliussäule; und nun
war jener alte Elefant aus Gips vollkommen überflüssig geworden, ein
Verkehrshindernis, nichts weiter. Man hätte das nicht sehr kostbare,
altersschwache Werk einfach zerschlagen und die Trümmer vom Kärrner
fortschaffen lassen können, wenn nicht ein im Volk umgehender Aberglaube das
Gipsmodell schließlich doch vor diesem pietätlosen Verfahren behütet hätte. Das
Gerücht behauptet nämlich, daß sich im Bauch des gipsernen Freiheitsriesen im
Laufe der Jahre eine ungeheure Zahl von Ratten angesiedelt hätte, die, durch
den Zusammenbruch befreit, die angrenzenden Bezirke überschwemmen würden. „Alle
Unterröcke zitterten bei dem Gedanken an solche Gefahr, und sogar die Männer
ergriff eine unheimliche Furcht vor der Invasion jener langgeschwänzten Gäste.“
Kurz, der Gemeinderat beschloß, aus Furcht vor den Ratten, die „Gipsbestie“
nicht niederzureißen, sondern in Bronze ausgießen zu lassen und das daraus
hervorgehende Monument am Eingang der „Barrière du Trône“ aufzustellen. Die
Anwendung auf den Kommunismus und die daraus hervorgehende Stärkung der
reaktionären Gewalt ist klar…
Mit dieser klugen Geschichte drückte Heine dem Sommer 1842
die Signatur der Epoche auf. Und dieser Sommer, der unsrige ? Ich glaube, es
verhält sich bei uns nicht viel anders, obwohl wir in Wien keinen
Bastillenplatz, keinen gipsernen Elefanten und vor allem auch kein Geld haben,
ihn in Bronze auszugießen. Besonders das Geld fehlt uns und wird uns nach
Besiegelung des unglücklichen Friedensvertrages in noch höherem Maße fehlen.
Freilich unter Umständen hat jeder Geld, auch wenn er nicht, wie dies unter dem
Diktaturschwert Bela Kuns üblich war, völlig ausgeraubt und von allen entblößt
aus Ungarn nach Wien geflohen ist. Diese Ungarn, deren Einfluß es zum Teil
zuzuschreiben ist, daß Wien zurzeit war nicht der schönste, wie Humoristen in
früherer Zeit gern unter Beweis stellten, wohl aber der teuerste Sommeraufenthalt
ist, zahlen, wie ich höre alle Preise und verderben dadurch unsere
Geschäftsleute, an denen in dieser Beziehung ohnehin nicht mehr viel zu
verderben ist. Sie machen es, aus der Schule des Kommunismus kommend, wie
Madame Olympe de Gouges zur Zeit der großen Revolution, die, als sie ein
Pariser Sansculotte auf der Straße abfing und, ihren Kopf wie ein gefangenes
Huhn unter den Arm pressend, lachend ausrief : „Wer gibt mir fünfzehn Sous für
den Kopf dieser Frau ?“, unter dem Arm schlagfertig-kläglich hervorwimmerte :
„Lieber, lieber Freund, ich gebe dreißig.“ Uebrigens sind wir in diesem Falle,
wie unsere Preisbildung in den letzten Monaten beweist, alle zu Ueberzahlungen
bereit, und was die Ungarn betrifft, die sich bei uns restaurieren, so bezahlen
sie die in Wien genossene Gastfreundschaft nicht nur mit einem im Verhältnis zu
ihrem weißen „guten“ blauen Gelde, sondern unter Umständen auch mit harschen Worten,
die hinter dem französischen um nichts zurückstehen. So soll unlängst einer
beim Ueberschreiten unserer Grenze aus tiefstem Herzen humoristisch ausgeseufzt
haben: „Mein Bedarf an Weltgeschichte ist jetzt für längere Zeit gedeckt.“ Das
Wort, in dem einer ausspricht, was wir unausgesprochen jetzt alle empfinden,
verdiente Flügel zu bekommen uns Sie sollten ihm welche machen, denn ich wüßte
nichts, worin sie lesbarer und lapidarer enthalten wäre, wonach Sie mich
fragen: Die Signatur der Epoche.
In: Neue Freie Presse, 15.8.1919, S. 1-3.