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Ernst Fischer: Theater und Technik

            Es wird im Allgemeinen zu viel von den geistigen, zu wenig von den technischen Bedingungen des Dramas gesprochen. Gewiß: das Drama fordert geistige Haltung, fordert ein Weltgefühl voll Spannung und Konzentration, fordert den Schicksalsglauben in irgendeiner Form; wer in allen Ereignissen nur den Zufall sieht, wer das Leben in ein Durcheinander winzigster Atome auflöst, wer im Einzelfall nicht die allgemein gültige Logik des Lebens entdeckt, ist nicht fähig, ein Drama zu schreiben, ein Drama zu genießen. Aber nicht davon, nicht vom geistigen Prinzip des Dramas, über das schon allzuviel Gutes und Schlechtes, Gescheites und Dummes geschrieben wurde, sondern von anderen, sehr entscheidenden Voraussetzungen soll hier die Rede sein.

            Die Form des Dramas ist nicht nur Ausdruck der Lebensform, sondern auch in hohem Maße Ausdruck der technischen Bühnenmöglichkeiten einer Epoche. Die berühmten ›aristotelischen Einheiten‹, Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, können zweifellos als Ausdruck einer strengen, aristokratischen Ordnung gewertet werden, aber sie sind auch  bedingt durch den unvollkommenen Theatermechanismus , der einen raschen Wechsel der Szenen nicht gestattet. Überall, in Griechenland wie in Frankreich, sprengte die Ausgestaltung des Bühnenapparates die alte Einheit des Dramas; umgekehrt erlaubte es die Primitivität etwa des elisabethinischen Theaters in England, in dem das szenische Bild nur flüchtig angedeutet wurde, dem Dramatiker, den Schauplatz der Handlung hundertmal zu wechseln. Die tiefen, oft sehr komplizierten, durchaus nicht in eine klare Formel zu fassenden Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Struktur und dem Interesse an technischen Dingen, zwischen der gebundenen Form eines Fürstenhofes, der Metrik und der Tragödie, der freieren eines erwachenden Bürgertumes, der Sprache und des Theaters sollen hier nur erwähnt, nicht ausgeführt werden; es handelt sich nur um die Konstatierung, daß die technischen Möglichkeiten des Theaters die Form des Dramas außerordentlich beeinflussen.

            Diese technischen Möglichkeiten sind heute ungeheuer; der Regisseur ist ein Zauberer, der mehr vermag als alle lebenden Dichter. Im Theater hat die Technik, wie überall, den Geist zurückgelassen, das Lebendige überholt. Der Mensch erlebt zwar von Zeit zu Zeit, was sein Gehirn ersonnen, was seine Hände geformt haben, aber nur selten, in schöpferischen Augenblicken; durchschnittlich haften wir alle gefühlsmäßig noch in Jahrzehnten, die nicht mehr sind, haben wir seelisch noch nicht das Wesen der Zeit erobert. Menschen, deren tägliche Arbeit brennende Gegenwart, Sturm in die Zukunft ist, empfinden in ihrem Privatleben kleinbürgerlich, als säßen sie in der Garten//laube, Organisatoren internationaler Wirtschaft sind in nationalistischen Torheiten stecken geblieben, revolutionäre Arbeiter bejahen den faden Geschmack einer Welt, die sie täglich verneinen. Ähnlich geht es den Dichtern; entweder begreifen sie nicht, daß ihre Phantasie, die Fülle der Geschichte sich so üppig entfalten darf wie nie zuvor, weil die moderne Bühne das alles vergegenständlichen kann, oder sie sind besoffen von den Potenzen des technischen Apparates und lassen sich von der Maschinerie bemeistern, anstatt sie zu meistern.

            Das neue Drama, das den Inhalt der Zeit in neuen Bühnenformen ausdrückt, existiert noch nicht, wohl aber gibt es interessante Experimente, zukunftsatmende Skizzen zu diesem neuen Drama. Charakteristisch ist die Tendenz, alle Einheiten des Dramas aufzulösen, die Handlung durch eine rasche Szenenfolge zu peitschen, Stockungen zu vermeiden, dem Tempo der Ereignisse breite und gründliche Motivierung aufzuopfern; die bis in alle Details durchgeführte naturalistische Dekoration verschwindet vollkommen, der Schauplatz der Handlung wird nur angedeutet, Scheinwerferlicht und technische Konstruktionen ermöglichen einen hastigen, pausenlosen Wechsel der Szenen. Die immer wieder vorgebrachte Behauptung, der Film habe das Drama vergewaltigt, die Konkurrenz mit dem Kino habe die alte Geschlossenheit des Bühnenbildes zerstört, halte ich nicht für richtig: Büchner und Strindberg, die nichts vom Kino wußten, haben die strengen Gebundenheiten nicht weniger kühn gesprengt als die modernsten Dramatiker und die Technik hat unabhängig vom Film das Theater revolutioniert.  Zweifellos bestehen tiefe Zusammenhänge zwischen der Form des Films und der Form des modernen Dramas; aber den Film einfach als Ursache und das Drama als Wirkung zu setzen, ist ganz verfehlt. Beide spiegeln das Wesen der Zeit, beide werden von den gleichen Kräften gespeist, und es wäre sonderbar, würden sie einander nicht ähnlich sein. Wir sind dem Tempo der Technik verfallen, nicht nur symbolisch, sondern auch höchst real; und so gehorcht der Dichter, wenn er bei keiner Szene, bei keiner Situation zu lange verweilt, nicht nur der Unruhe seines Geistes, unseres Geistes, sondern auch den Forderungen des Regisseurs, der den ihm zur Verfügung stehenden Apparat nützen will.

            Aber nicht nur das rasche Nacheinander der Szenen, auch das Nebeneinander verschiedener, sich durchwirrender und durchkreuzender Ereignisse und Schicksale ist typisch für das Theaterstück der Gegenwart. Das entspricht unserem Leben – Wand an Wand, Tür an Tür, Weltanschauung an Weltanschauung, was wissen wir voneinander, wie sonderbar verknüpft uns der Zufall! – das entspricht auch der Möglichkeit, auf der Bühne eine Szene unmittelbar der anderen gegenüberzustellen, die Zeit zum Raume zu wandeln. Der Dramatiker, der mit der Schwerfälligkeit des Bühnenapparates zu rechnen hatte, mußte im Interesse eines reibungslosen Ablaufes die Vielheit des Lebens// kunstvoll der Einheit der Handlung unterordnen: er brauchte daher irgendeinen Haupthelden mit einem Hauptschicksal, und Nebengestalten mit Nebenschicksalen, eine Handlung und eine Reihe von Episoden. Heute aber ist es möglich, die Episode, dieses leidige Beiwerk, zurückzudrängen und in einem Drama mehrere gleichwertige Schicksale, die einander ergänzen und erhellen, zu gestalten. So kann der Dramatiker heut eine ganze Zeit mit all ihren Widersprüchen und all ihren Gegensätzen auf die Bühne stellen, so kann er ein Kollektivschicksal gestalten, ohne daß solch ein Drama als »unaufführbar« von jedem Theaterdirektor abgelehnt werden muß.

            Dazu kommt, daß die moderne Beleuchtungstechnik einen Bühnenraum aufbaut, der von Sekunde zu Sekunde sich wandeln, jeder Szene sich anpassen kann, der nichts mehr mit schwerfälliger und pedantischer Naturalistik zu tun hat, sondern ein magisches Kunstwerk ist. Das ›Milieu‹, in dem nun ein Drama spielt, ist nicht mehr dieser oder jener Winkel der Welt, diese Stube und jener Garten, sondern die Atmosphäre der Zeit mit ihren Maschinen und ihrer Musik, mit ihren Städten und ihren Stürmen, nicht mehr eine bemalte Kulisse, vorgetäuschte Natürlichkeit, sondern der Seelenraum, in dem unser Leben geschieht. So kann man, ganz anders als einst, geschichtliches Ereignis, Krieg und Revolution auf die Bühne beschwören, so kann man, ganz anders als einst, historische Zusammenhänge bildhaft, im Aufblitzen und Verlöschen eines Scheinwerfers darstellen, so kann man etwa Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus aufführen. Und so kann man auch, ganz anders als einst, die Dramen Shakespeares in ihrer Fülle und Üppigkeit, in ihrer hemmungslosen Gewalt und Schönheit spielen.

            Nur einige Möglichkeiten moderner Bühnentechnik sollten hier angedeutet werden; es kann kaum bezweifelt werden, daß diese neuen Formen der Regie neue Formen des Dramas hervorrufen werden. Denn von der Bühne und nicht vom Schreibtisch her ist jedes große Drama gekommen.

In: Kunst und Volk H. 10 (Juni) 1929, S. 293-295

Paul Wertheimer: Zement. Roman von Feodor Gladkow.

Aus dem Russischen übertragen von Olga Halpern. 11. bis 18. Tausend. Verlag für Literatur und Politik, Berlin-Wien

Ein flammendes Buch, eine flammende Beichte. Eines der seltenen Bücher von heute, die, nicht in der Schreibstube, sondern aus glühender Wirklichkeit geboren, uns wie mit glühenden Armen umpressen. Gladkow – man wird diesen Namen als eines der stärksten, jüngeren wortbildnerischen Talente Rußlands merken müssen – hat die russische Revolution aus der Nähe gesehen. Was er sah, steigt hier in vorüberflackernden, oft in das Ekstatische gesteigerten, expressionistischen, aber doch unendlich einprägsamen Visionen vor dem erstaunt-erschütterten, oft abgestoßenen, aber immer wieder mit harter Faust zum Interesse gezwungenen Leser auf. Ein Zeitdokument von authentischer Echtheit und, weil Gladkow nicht ein Schreier, sondern ein Bildner im Streit ist, ein künstlerisches Werk von nicht gewöhnlicher Bedeutung. Eines der wenigen, die wir einstweilen aus diesen chaotischen Tagen, dieser chaotischen Welt besitzen. Weil es den repräsentativ modernen Roman des Rußland von heute oder von gestern bedeuten soll, ist es ein Roman der Masse und der Maschinen und des maschinell gewordenen Menschen. Aber dennoch ist es kein konstruktives, maschinelles Gebilde. Vielmehr sind in diesem großen, zeitreflektorischen Roman nach einem Wort Heines die Maschinen, die Daimler Motoren etwa, wie Menschen. Und die Menschen, kommunistische Arbeiter, zwischen denen ein westeuropäisch gesinnter Ingenieur sich mühsam behauptet, sind nicht Maschinen, sondern, trotz ihres programmatischen Lebens von Leidenschaften, nicht motorisch, sondern gewaltsam durch ihr Blut vorwärts getrieben. Ungezählte Figuren in schärfster Kontur, wie auf den Zeichnungen Krinskis, Kustodjews und Annenkows, der Graphiker dieses Bolschewismus. Die „Masse Mensch“, gebändigt von der Hand eines starken, nie im Parteiwortschaum verlorenen, durch sein sicheres Gefühl für das Bildnerische geleiteten Künstlers. Hat dieses seltsam aufwühlende Werk, was man früher Handlung nannte, die Geschlossenheit eines aufwärts steigenden Geschehens? Keineswegs. Es hat nur Figuren und Atmosphäre der Zeit, — eine Atmosphäre von Schweiß und Blut — tausend drohende, schwielige Arme, gestraffte Muskeln heben sich gegen den Betrachter wie auf manchen Plakaten. Diese Menschen, dumpf, trieb- und tierhaft, russische Menschen der Arbeit, nicht, wie bei Dostojewski und Gorki, des Sinnierens, Gott- und Sich-selbst Suchens. Sie gruppieren sich um den aus Kämpfen der Roten Armee siegreich in sein Städtchen und seinen Betrieb heimgekehrten Werkmeister Gleb. Er will das große, durch die Planlosigkeit der als Organisatoren versagenden Führer zum Stillstand gebrachte Werk wieder in Gang bringen, die Schlote blau wie Gaszylinder sehen, das Herz, nach dessen Pochen er sich – die russische Romantik des Maschinellen – sehnt, wieder vernehmen. Wie ihm dies zuletzt gelingt, trotz des Widerstandes der kommunistischen Bureaukratie, die Gladkow mit ingrimmiger Laune schildert: dies ist der ganze Roman. Er kling in einen Päan der Arbeit aus. Dieser Ton ist der russisch-zeitdokumentarische. Aber Gladkows Werk birgt einen gewichtig menschlich-künstlerischen. Es sind Episoden in diesem Buche, die man nicht vergißt: Das Sterben des Töchterchens Glebs Njurka, das, fremder Obhut überlassen, weil Dascha, die Mutter, sich der Parteipropaganda hingegeben, buchstäblich an mangelnder Liebe verhungert. Es sind Figuren, die sich wie aus dem ›Germinal‹ einprägen, wie der Vorsteher-Genosse Badjin mit dem metallenen, harten Gesicht. Es gibt hier Gesichte des Schreckens, Szenen aus den Kämpfen zwischen den ›Roten‹, ›Weißen‹ und ›Grünen‹, Schilderungen des entfesselten Trieblebens wieder von Zolascher Wucht, so abschreckend sie auch, vielleicht gegen die Intention des Dichters wirken mögen. Die Landschaftsbilder, Stimmungen der russischen Haide, der weißen Kalkfelsen, des Sommers, der Sonntagmorgen, aufblühend zwischen Blut und Grauen – ein Dichter hat sie mit solcher Zartheit gefühlt. Kein Zweifel: der Sturm, der über dieses, uns noch immer halb sagenhafte Land getobt, ist hier nicht zu einem Säuseln abgedämpft, doch es sind auch leisere Stimmen darin, die seinen Schrecken mildern.

In: NFP, 10.6.1928, S. 28.