Jacques Hannak: „Mutterschaftszwang.“
In
die von Parteileidenschaften, Hunger und Bitternis geschwängerte Atmosphäre
unseres Gesellschaftslebens ist ein neues Schlagwort geschleudert worden, das
an sich allein schon den Ton der Gehässigkeit zu charakterisieren vermag, mit
dem ein jedenfalls sehr ernstes Problem von allgemeiner Kulturbedeutung
behandelt wird. Hieß es vordem „Gebärstreik“ und bezeichnete damit immerhin die
mehr subjektive, aktive Seite der Frage, so gibt uns das Wort
„Mutterschaftszwang“ von vornherein den Begriff passiver, objektiver Einreihung
in ein hoffnungsloses System mechanischer Notwendigkeiten.
So
tritt man an ein Problem nicht heran, welches wie nur irgendein ganz großes
Problem geeignet sein soll, uns den Sinn alles Lebens zu erschließen.
Leidenschaftslose Beharrlichkeit allein kann erwarten, die spröde Materie zu
meistern.
Die
Schwierigkeit, vor der wir stehen, ergibt sich daraus, daß sich die
Grundtatsachen des volkswirtschaftlichen Lebens mit Grundtatsachen des
Seelenlebens kreuzen; der ökonomische Mensch gerät in Widerspruch mit dem
psychischen Menschen, das Sein widerstreitet dem Bewußtsein, das Reich der
Notwendigkeit fesselt das Reich der Frauen. Es sind zwei Sphären, die sich
gegenseitig ausschließen, [der] Fehler der ganzen Betrachtungsweise bestand
bisher darin, [von] der einen Schnittfläche auf die andere Sprünge zu machen,
um je nach Bedarf, Idee und Erscheinung ineinander krempelnd, eines mit dem
anderen „widerlegen“ zu können.
Der
Tatbestand ist: dem Naturgesetz der Fortpflanzung und Vermehrung wird durch
nationalökonomische Gesetze Einhalt getan. Da die Natur uns nicht auf die Lust
zu verzichten gestattet, so richtet sich die Reagenz des nationalökonomischen
Gesetzes nur auf die Folgen der Lust und schränkt nicht die Geschlechtlichkeit,
sondern nur die Geburtenziffer ein. Der Klassenstaat aber, der nicht nur seine
unterdrückten Klassen wirtschaftlich ausbeutet, sondern sie auch dazu verhalten
will, ihm immer neue Generationen für neue Ausbeutung aus ihrer ausgemergelten
Kraft heraus zu schaffen, also obendrein noch selber für die Verewigung ihrer
Ausbeutung und Knechtschaft zu sorgen, der Klassenstaat, aus dessen Wesen das
nationalökonomische Gesetz der Geburtenabnahme erfließt, erzwingt zugleich dem
Widersinn eines papiernen Machtgesetzes von gegenteiliger Bedeutung Geltung,
wonach die Unvermeidlichkeit des ökonomischen Gesetzes durch Strafsanktionen
aufgehoben und beseitigt, das Gesetz mechanischer Kräfte also durch das bloße
Menschenwort: „Ich will“ und just nur dadurch und schon dadurch in das Gegenteil
gewendet werden soll. Wahrlich, der Kampf Don Quichottes mit den Windmühlen.
Aber noch mehr: hier erhält sich uns das absolut Unethische dieses Kampfes,
dieses vermessenen Endgegenstemmens individuellen Wollens einer einzelnen
herrschenden Menschenklasse gegen die Windmühlen des sozialen Naturgesetzes.
Der Klassenstaat ist notwendig als eine Erscheinungsform der Geschichte der
Gesellschaft, eine Erscheinungsform, ohne welche sich der Entwicklungsgedanke
der menschlichen Kultur historisch gar nicht denken ließe. Der Klassenstaat ist
auch nicht eine Erscheinungsform, die sich durch Utopien, Idealisten, Prediger
und Menschheitsapostel einfach sofort in die klassenlose Gesellschaft des
Sozialismus wegbekehren ließe, sondern er ist auch in dem Sinne eine notwendige
Erscheinungsform, als er erst aus sich selbst heraus jene Elemente voll
ausreifen lassen muß, die ihn schließlich überwinden und kraft der Entwicklung
wie von selber in die erlösende Gesellschaftsordnung der Zukunft hinüberleiten.
Nicht also die Existenz des Klassenstaates ist das Unethische, sondern erst
jeder Versuch der Verewigung dieser Existenz, jeder Versuch, dem ewigen Werden
das absolute Sein des gerade Bestehenden abtrotzen zu wollen. Das
Trägheitsgesetz ist das Substantielle des Klassenstaates, und das ist das
Unmoralische an ihm, weil es ihn notwendig in Widerspruch und Widersinn treibt
und also auch alsbald logisch ins Unrecht setzt.
Solchen
Widerspruch und Widersinn entdecken wir an der Struktur des kapitalistischen
Klassenstaates auch in seiner Stellung zum Mutterschaftsproblem. Und zwar noch
in einem viel tieferen Sinn als im eben angeführten. Das Problem der
Mutterschaft aufstellen, heißt ein anderes Problem, das dem der Mutterschaft
zugrunde liegt, vorwegnehmen, und dies andere Problem ist das Problem des
Weibes, das Problem der Geschlechter. Das ist so selbstverständlich wie nur
irgend etwas. Nicht so selbstverständlich aber ist es der kapitalistischen
Produktionsära. Denn diese denkt an die Produktion, nicht an den Produzenten,
an die Maschine, nicht an den Menschen, an die Geburt, nicht an die Gebärende,
an das Objekt, nicht an das Subjekt. So wird ihr denn auch das
Mutterschaftsproblem nur eine quantitative, mechanisch-ökonomische Sorge, nur
ein Rechenexempel, nur ein Mittel zum Zweck, und sie hat nur Zeit, sich um [?]
umzuschauen, aber nicht um die – Mutter. Daher erfließt ihr die [Qual/Radikal]ität
des Mutterschaftsproblems nicht aus dem Verhältnis der Geschlechter, sondern
aus dem Verhältnis von Lohn[arbeit] und Kapital. Freilich, die Frage: Mann-Weib
ruht mit [Ueber]ewicht nicht auf dem juristischen Boden etwa der Frage, ob [Gleich]stellung
oder Ueber- und Unterordnung von Mann und Weib, was schließlich auch noch die
kapitalistische Gesellschaftsordnung irgendwie lösen könnte, sondern auf dem
ethisch-sozialen Boden der Möglichkeit, Mann und Weib als Mann und Weib,
ungetrübt durch wirtschaftliche und soziale Nöten, voll ausleben zu lassen. Das
freilich kann uns nur der Sozialismus bringen. Weil aber diese Voraussetzung in
der heutigen Gesellschaftsform fehlt und die Frau in gleicher Weise als Weib
wie als Mutter nur im Dienste einer bloßen Warefunktion steht, kann die heutige
Gesellschaftsform gar nicht grundsätzlich ethisch-kritisch zur Frage der
Mutterschaft Stellung nehmen und begnügt sich denn auch mit der konstruktiven
Dogmatik einer konventionellen Moral, eines Systems von Pflichten, die dem
Beharrungsvermögen der herrschenden Klassen in der heutigen Gesellschaft
Rechnung tragen sollen, aber, wie wir ausführten, eben dadurch mit dem
Weltgesetz des Werdens in Konflikt geraten und an diesem Widerspruch
zerschellen müssen.
Eine
Moral, die für alle Menschen Geltung haben soll, muß einer solchen
Gesellschaftsordnung entspringen, die vom Werkzeug wieder auf den Menschen
zurückgeht, die nicht mehr den Menschen als Mittel betrachtet, sondern als
alleinigen Zweck, die nicht mehr Menschen in den Dienst von anderen Menschen
und alle zusammen in den Dienst ihrer eigenen Einrichtungen und Maschinen
stellt, sondern die ganze Menschheit zur Herrin ihrer selbst, zur Herrin ihres
freien Willens und zum höchsten Selbstzweck erhebt. Erst eine Zeit, in der alle
Menschen leben können, wird Zeit haben, sich um das Tiefste des Menschen zu
kümmern, um – ihn selbst! Das sind keine Neuigkeiten, sondern alte
Erkenntnisse, aber sie erhalten eine neue Beleuchtung unter dem Gesichtspunkt
des Geschlechtsproblems.
Wir
können heute nur durch die Empirie und die induktive Methode Kenntnisse über
das „Ursein“ des Verhältnisses Mann-Weib zu gewinnen trachten, ohne daß uns der
Gegenbeweis der Deduktion zustatten käme. Denn die Geschlechtsbeziehungen
werden heute nicht nur von innen heraus durch metaphysische Substanzen geregelt
und gelenkt, sondern von außen her durch die Dynamik der sozialen Ordnung
entscheidend umgebogen. Das Reich der Notwendigkeit springt ins Reich der
Freiheit, und so wird denn Sozialismus schließlich der religiöse Kampf des
Metaphysischen im Menschen, zu sich selbst zu gelangen durch die Ueberwindung
der sozialen Fesseln. Die Befriedigung der sozialen, ökonomischen
Lebensbedürfnisse muß aufhören, Problem zu sein und muß Selbstverständlichkeit
werden, damit endlich der Mensch an sich ausschließliches Problem werde.
Auch
die Idee des Erotischen kann erst zu voller Klarheit in einem Zeitalter gelangen,
das die materielle Lebenswohlfahrt des Individuums als naturgegeben voraussetzt
und nur die kulturelle Wohlfahrt der Menschheit als Aufgabe weist. Heute können
wir uns auch hier nur an die Trübungen der Empirie der Klassengesellschaft
halten.
Was
scheidet, unabhängig von jeder sozialen Ordnung, Mann und Weib? Wedekind hat
das einmal aphoristisch nicht übel ausgedrückt; der ungeheure Vorteil, den das
Weib vor dem Manne voraus habe, sei daß es seinen Körper als Tauschobjekt zu
Markte tragen könne, sein ungeheurer Nachteil gegenüber dem Manne, daß es
gebären müsse. Schärfer und [konziser] noch hat Otto Weininger den Gedanken
gefaßt und als das Essentielle und Funktionale des Weiblichen schlechthin
Mutterschaft und Dirnentum bezeichnet. Ob das Wesen des Weibes darin erschöpft
ist oder ihm noch andere Funktionen zugehören als die der reinen
Geschlechtlichkeit, gehört hier nicht zur Debatte. Soviel ist jedenfalls
sicher, daß die Mutter und die Dirne zwei ragende Pole weiblichen Seins
bedeuten.
Wenn
wir nun das Mütterliche als das Substantielle des Weiblichen erkannt haben, so
gelangen wir erst vollends zu der Würdigung des Sprachungeheuers:
„Mutterschaftszwang“. Das Weib wird also zu etwas gezwungen, was es, wenn und
weil es Weib ist, ohnedies schon sein soll. Das Weib wird „gezwungen“, es
selbst zu sein! Wenn es dazu gezwungen werden muß, so müsse offenbar
Hindernisse da sein, die ihm die funktionelle Erfüllung seines ureigentlichen
Wesens verwehren. Wir haben diese verwehrenden Hindernisse als das nationalökonomische
Gesetz der Ausbeutung kennen gelernt. Der Mechanismus eherner
Wirtschaftsgesetze, der zwangsläufige Gang der sozialen Entwicklung, die
historischen Kategorien der verschiedenen Formen von Klassenherrschaften
gebären aus sich heraus die Widerstände gegen die apriorischen Naturbedingungen
der menschlichen Existenz, und da auf diese Naturbedingungen doch nicht einfach
verzichtet werden kann, müssen sie auf irgendeinem Wege wieder künstlich
„eingeführt“ werden. Die organische Geltung der Natur wird durch den Tort einer
überlebten ökonomischen Epoche vergewaltigt und darnach durch einen trägen
Mechanismus menschlicher, allzu menschlicher Einrichtungen wieder notdürftig
zusammengeflickt. Das Funktionale des Weibes, seine Mutterschaft, wird durch
den Prozeß des ökonomischen Ausbeuterverhältnisses beeinträchtigt und durch
eben denselben Prozeß der Ausbeutung hernach mechanisch mit „Strafgesetzen“
einfach wieder „angeordnet“. Hier ist der Punkt, wo der Sprung aus der einen
Schnittfläche in die andere erfolgt, hier entspringt die Verwirrung, die ratlos
vor der „Unmoral“ des sich selbst nicht mehr getreuen Weibes und der ewigen
Naturgesetzlichkeit mit armseligen papierenen Normen zu Hilfe zu eilen sich
vermißt. Die gemarterte Natur aber läßt sich ihren Weg nicht durch Bürokratien
und Strafgesetze weisen, sie sammelt sich in den unterirdischen Kanälen der
bedrückten, ausgebeuteten, um ihr Naturrecht betrogenen Massen und vollzieht in
den sozialen Revolutionen den Prozeß ihrer Selbstbefreiung.
Daß
es ein Wort wie „Mutterschaftszwang“ gibt, spricht schon das Urteil über die
Wirtschaftsepoche, in der wir leben. Ein Weib zwingen, Weib zu sein, das hat
der Teufel dem Kapitalismus eingegeben. Was aber für die Arbeiterschaft das
Entscheidende ist, ist nicht so sehr die Geltung oder Aufhebung eines
Gesetzesparagraphen, als vielmehr die Erkenntnis der Unnatur des ganzen
geltenden Gesellschaftssystems, in dem jener Paragraph nur eine symptomatische
Erscheinung ist. Im einzelnen Paragraphen die Kulturwidrigkeit des Ganzen der bürgerlichen
Ordnung erkenne, im täglichen Kampf ums Einzelne sich nicht bloß als Reformer
und Verbesserer des Seienden fühlen, sondern darüber hinaus den revolutionären
Enthusiasmus empfangen, daß wir berufen sind, der Menschheit den Weg aus dem
Naturwidrigen zum Naturgemäßen zu weisen, dazu ist auch die Erörterung der
Frage des „Mutterschaftszwanges“ ein willkommener Anlaß. Das Schicksal dieser
einen Strafgesetznorm wird nicht viel an dem allgemeinen Schicksal der
Arbeiterklasse ändern, aber die Aufhellung des Klassencharakters dieser Norm
die Beleuchtung ihrer Kulturwidrigkeit ist von der belehrendsten Wirksamkeit
und verdient daher eine nach allen Seiten hin gründliche Betrachtung.
In: Der Kampf (1919), H. 39, S. 843-846.