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Felix Salten: „Der Zauberberg.“

Roman von Thomas Mann. – S. Fischer Verlag, Berlin.

Das ist nun allerdings ein ganz ungewöhnliches Werk.

Einmal, weil es Thomas Mann zum Verfasser hat, der heute als der Erste unter den deutschen Erzählern gilt. Ferner, weil dieser Roman zwölfhundert Buchseiten füllt, was eine starke Leistung für den Autor ebenso wie für den Leser bedeutet. Besonders aber, weil alle Geschehnisse sich da zwischen Lungenkranken zutragen, abseits von der Welt der Gesunden, in einem Sanatorium zu Davos.

Dieser Schweizer Höhenort ist der „Zauberberg“. Ein junger Mann erklimmt ihn eines Sommertages, nur für drei Wochen, nur um seinen Vetter zu besuchen, der schon monatelang hier oben weilt und sich kuriert. Aber der junge Mann bleibt nun gleichfalls auf dem Zauberberg, nicht bloß drei Wochen, sondern an die sieben Jahre. Erst als der Krieg ausbricht, im August 1914, eilt er zu Tal, kehrt heim in die Welt der Gesunden, die nun so schwer erkrankt ist und in Fieberparoxysmen erbebt.

Wahrscheinlich ist er heute tot, der brave Hans Castorp, entweder gefallen oder den Strapazen erlegen. Thomas Mann gibt über Leben oder Sterben dieses jungen Mannes keinen Bescheid, aber er läßt nur wenig Hoffnung. Hans Castorp stammt aus einer Hamburger Senatorenfamilie, ebenso wie sein Vetter Joachim Ziemßen. Er ist ein netter, inwendig reiner, sympathischer Durchschnittsmensch, lernbegierig, duldsam, angenehm gesellig, wenn auch gehalten und maßvoll. Joachim Ziemßen, der Offizier werden will, wenn er geheilt ist, stellt die Ergänzung von Hans Castorps Wesen vor. Er hat noch viel mehr „innere Zucht“, noch viel mehr Schweigsamkeit und birgt unter straffer Haltung zartes, schamvolles Empfinden. Es ist wahrscheinlich die Absicht Thomas Manns, an diesen beiden jungen Leuten den Typus des deutschen Bürgers zu schildern, geteilt in zwei Spalten, in eine zivilistische und eine militärische, im ganzen jedoch von einheitlicher Art: anständig, unpolitisch, naiv und, wenngleich nicht hervorragend, so doch hinlänglich geistig. Merkwürdig bleibt, daß Joachim Ziemßen, der sich’s so aus ganzer Seele gewünscht hat, Offizier zu werden, noch im Frieden auf dem Zauberberg stirbt, indessen Hans Castorp, der immer friedlich gedacht hat, diesem Zwölfhundert-Seiten-Roman als bewaffneter Krieger entschreitet, um in den Kampf zu ziehen.

Man wird nun fragen, was in den sieben Jahren Sanatorium an Ereignissen eigentlich vorgehe, daß zwei exemplarisch umfangreiche Bände damit gefüllt werden. Die Matrosen in den Romanen des Kapitän Marryat, in diesen schnurrigen Romanen, die vor drei, vier Generationen das Entzücken aller Knaben waren, der jungen wie der erwachsenen, die Matrosen also forderten darum einen Kameraden zum Erzählen seiner Abenteuer regelmäßig mit den Worten auf: „Nun, so spinne dein Garn.“ Und der also Herausgeforderte fing seine Geschichte regelmäßig mit den Worten an: „Ach was … es ist eine lange Gasse, die keine Wendung hat.“ Diese Erinnerung aus fernen Jugendtagen kommt mir jetzt wieder in den Sinn. Thomas Mann hier sein Garn gesponnen, gelassen, ausführlicher noch und reifer, selbstverständlich, als in seinem Erstlingsroman „Die Buddenbrooks“. Und es ist richtig eine lange Gasse geworden, die keine Wendung hat. Was in den sieben Jahren, die Hans Castorp auf dem Zauberberg verbringt, vorgeht, ist Menschentum. Auch in all der Zeit, die vor diesen sieben Jahren liegt, wie in der Zeit, die nachher abrollen wird, geht immer Menschentum vor. Nicht mehr und nicht weniger, nicht gewöhnlicher und nicht außerordentlicher als es in diesen beiden Bänden verzeichnet steht. Damit rückt jedoch die Kunst des Erzählers ganz dicht an die Wirklichkeit, fügt sich ihr vollkommen ein und überragt sie trotzdem. Es ist ein Stück poetisch durchleuchteten Menschtums, das ein helles Glänzen sanft um sich her verbreitet.

Die Ereignisse zu wiederholen, bleibt eigentlich überflüssig und wird beinahe unmöglich. Hans Castorp sieht viele junge Menschen sterben, qualvoll die einen, in Euphorie und schmerzlos die anderen. Auch Joachim Ziemßen, sein Vetter, stirbt sanft, nach einem kurzen Aufenthalt in der Heimat, während dessen es ihm gelingt, Leutnant zu werden und sich total zu ruinieren. Viele Menschen lernt Hans Castorp kennen und sie sind alle durch ihre Krankheit, durch die beständige Todesnähe gelöster, freier, menschlicher als die Normalen. Da ist Settembrini, der eine Art letzten Ritter der bürgerlichen Revolution vorstellt. Dann Elia Naphta, ein Vorkämpfer der Protestantischen Revolution, der sich in einem seltsamen Duell, das er mit Settembrini hat, selber tötet. Da ist Clawdia Chauchat, die reizvolle Russin, die Hans Castorp lange schwärmerisch liebt und die ein einziges Mal sein eigen wird. Da ist Peeperkorn, der königliche Holländer, der so viel Macht über den Willen der anderen besitzt, der die schöne Clawdia als Geliebte besitzt und der Selbstmord verübt, da er seine Manneskraft schwinden fühlt. Die Aerzte sind da, Hofrat Behrens mit seiner massiven Sachlichkeit; sein Assistent, Dr. Korowski [recte: Krokowski], der Vorträge über die Liebe hält und offenbar von Freuds Lehre beeindruckt ist, bis er endlich mit Medien und Séancen ganz auf die Seite von Schrenk-Notzing fällt. Ein Schwarm von Schicksalen und Gestalten zieht langsam vorüber. Alle von einer unerhörten Plastik, alle von einer fabelhaften Lebendigkeit, einprägsam und vorstellbar. Denn wie bei Homer jede Figur immer mit ihren malenden, merkzeichnenden Attributen genannt wird, so daß sie sich der Phantasie einstempelt, wie da Odysseus immer der Listenreiche heißt, Hektor beständig der Helmbuschumflatterte, Juno die Anhängige usw., so gibt Thomas Mann die gleichen bezeichnenden Merkmale, mit denen er sie bei ihrem ersten Erscheinen geschildert hat, jedesmal wieder, so oft sie erscheint.

Es ist nicht zu leugnen, daß er seine Geschöpfe alle, ohne Ausnahme, ein wenig von oben herab behandelt; ungemein sorgfältig, meisterhaft im formenden Zugreifen, aber doch von oben herab, wie ein Souverän, oder wie ein Großmeister der Arzneikunde, was ja die Dichtkunst auf ihre Art auch ist. Er hat, wie ja ein großer Arzt auch, so viele Menschen dem Dunkeln entrissen, hat so viele Menschen ins Dunkle stürzen gesehen, daß er kein Aufhebens mehr davon macht. Sein Ton ist ruhig, harmonisch kühl, ohne jede Sentimentalität, und von einer pikanten ironischen Untermalung fast immer durchschimmert. Spricht er, was oft geschieht, persönlich, oder redet er, ganz im Stil der großen alten Erzähler, den Leser geradezu an, dann wird seine reine Objektivität fast schmerzhaft deutlich und ein Distanzhalten wird erkennbar, das ebenfalls beinahe schmerzhaft wirkt. Manchmal, sehr selten, dringt Wärme in seinen Ton. Der Reiz, den er dadurch gewinnt, ist unbeschreiblich stark, und an der Intensität solcher Stellen fühlt man, was es mit seiner Objektivität und mit seinem Distanzhalten für eine Bewandtnis hat.

Gespräche breiten sich in diesem Roman so ausführlich, so gelassen hinströmend, daß man die nur mit den ruhig fließenden Dialogen im „Stechlin“ vergleichen kann, wie ja Thomas Mann so manche Wesensähnlichkeit mit Theodor Fontane besitzt, als dessen Fortsetzer und Vollstrecker man ihn ansprechen darf. Was diese Zeit bewegt und beschäftigt, wird in den Gesprächen erörtert, die man auf dem Zauberberg führt. Demokratie und Monarchismus, Probleme des Liebeslebens, Sternkunde, Sozialwissenschaft und sehr viel Tuberkulose. Es ist zu sagen, daß diese gründliche Beschäftigung mit den Zuständen tuberkulöser Erkrankungen, mit Fieberkurven, Sputum, Bazillentabletten, Injektionen, chirurgischen Eingriffen, Todeskämpfen und Sterbestunden, daß alle diese fabelhaft eindringlichen und wunderbar plastischen Schilderungen im Anfang Grauen, ja Entsetzen erregen. Das Empfinden, das man von der hinfälligen Gebrechlichkeit den menschlichen Körpers erhält, das Bewußtsein der vielen Gefahren, das in einem wachgerüttelt wird, ist so alarmierend, daß ich mich während der Lektüre des ersten Bandes hypochondrischer Anfälle nur mühsam erwehren konnte. Und es bleibt bis zum Schluß des Romanes im Leser ein fortdauerndes, leises Erstaunen, daß es überhaupt noch gesunde Menschen auf der Welt gibt.

In den Jahren, in denen er sich dem Fünfziger nähert, den er binnen wenigen Monaten erreichen wird, in diesen entscheidenden Jahren hat Thomas Mann das Werk gearbeitet, das für sein ganzes Schaffen entscheidend und charakteristisch bleibt. Er hat im Brennspiegel des abgesonderten und engen Krankendaseins die Fülle der Menschlichkeit eingefangen, hat am Rand des Todes den großen Reichtum des Lebens entstehen lassen. Man kann diesen Roman, der gar kein Tempo der Handlung, dafür aber einen starken Pulsschlag der Gedanken und ein großes Tempo an Lebensweisheit hat, nicht so rasch durchfliegen wie irgendein Unterhaltungsbuch. Aber man wird den „Zauberberg“ in vielen stillen Stunde mit Ergriffenheit, mit Zustimmung und Widerständen lesen und wird ihn, aufgewühlt und erregt, wie man ihn schließlich aus der Hand legt, mit allen Einwänden und mit aller Bewunderung, die man ihm entgegenbringt, niemals wieder vergessen können.

In: Neue Freie Presse, 7.12.1924, S. 1-3.