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Karl Tschuppik: Das republikanische Wien (1918)

Wien, 13. November 1918.

Wien hat rasch wieder sein altes Gesicht bekommen. Von dem Sturm des gestrigen Tages ist heute morgens nichts mehr zu merken. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, der Verkehr wickelt sich ruhig ab, die Bürger spazieren in der Sonne. Man sieht es ihnen nicht an, daß sie über Nacht Republikaner geworden sind. Sie scheinen überrascht und froh zu sein, daß alles noch auf seinem alten Platze steht. Unpolitisch wie das Wiener Bürgertum ist, hat es gestern an die wildesten Gerüchte geglaubt und einen regelrechten Weltuntergang erwartet. Heute konnte es sich überzeugen, daß die Phantasien des gestrigen Abends zerstört sind. Eine helle Herbstsonne hat die grauen Nebel verjagt und scheint mild und freundlich auf das republikanische Wien. Die Wiener Revolution wäre die unblutigste, sanfteste Erhebung der Geschichte geworden, wenn nicht die Wichtigtuerei unklarer Köpfe und ein Mißverständnis die Schießerei beim Parlament veranlaßt hätten. Heute, bei Licht besehen, stellte es sich heraus, daß die Urheber der Panik ein paar aufgeregte Jünglinge sind, die sich Kommunisten nennen, aber eigentlich nichts anderes wollen, als sich von der großen Welle emportragen zu lassen. Die meisten von ihnen haben während der ganzen Kriegszeit die Kourage sorgfältig versteckt und an Alles eher gedacht als an Sozialismus und Kommunismus. So mancher dieser jungen Leute war Patriot, Kriegsberichterstatter, Feuilletonist für altösterreichische Angelegenheiten. Die Angst, den Anschluß zu versäumen, hat ihnen große Worte und revolutionäre Phrasen in den Mund gegeben. Der alberne Einfall, den Staatsrat gefangen zu nehmen und das Parlament zu besetzen, war typische Wichtigtuerei literarischer Gehirne. Die Stürmer und Dränger wußten ganz gut, daß es nichts niederzuringen gab, da das alte Österreich kampflos abgetreten war. Sie wußten auch, daß im Staatsrat die Sozialisten die Führung haben. Sie mußten auch wissen, daß die organisierten Arbeiter mit einem solchen Dilettantismus nichts zu tun haben wollten. Aber es kam ihnen nicht auf das Wesen der Revolution, sondern auf die Revolutionsspielerei, auf den äußeren Knalleffekt, an. Darum stürmten und schossen sie. Das eitle, frevle Spiel hat zwei Menschenleben und das Auge eines braven Menschen, des Pressechefs im Staatsrat Ludwig Brügel, gekostet. Den übrigen Schaden trägt Hansens Parlamentsgebäude.

Den ganzen Tag über standen heute hunderte Menschen auf dem Franzensring, um das beschädigte Parlamentshaus zu betrachten. Die Kugeln der Roten Garde, die kopflos hin- und herschoß, haben die Façade recht arg hergenommen. Viele Fenster sind zertrümmert, die hohen Säulen beschädigt, das große Tor zeigt hunderte Löcher. Schaden litt auch die schöne Giebelfüllung des Hauses, das große Halbrelief mit dem alten Kaiser in der Mitte. Franz Josef verlor gestern die rechte Hand. Die Schießerei hatte übrigens auch ein kleines komisches Nachspiel zur Folge. Als das Parlament gestern unter Feuer genommen wurde, lief das Küchenpersonal des Hauses, Köchinnen, Köche, Kellner, Waschfrauen und Buffettdamen angstvoll zusammen und suchte sich durch einen Seitenausgang zu retten. Sie stießen dabei auf Rote Gardisten, die im Scherz riefen, ein Entweichen sei unmöglich, Mitgefangen, mitgehangen, alle müßten sterben. Darauf verkrochen sich Köchinnen und Dienstmädchen in den Keller, wo sie spät nachts halb tot vor Angst aufgefunden wurden. Sie alle haben heute ihre Büchel verlangt und waren nicht zu halten. Das republikanische Parlament ist also ohne Küche.

Die wirklichen Träger der Revolution, die Wiener Arbeiter, haben den gestrigen Putsch sehr unsanft beurteilt. In den großen Massenversammlungen am Abend wurde die Spielerei der kommunistischen Knaben auf das schärfste verurteilt und die Auflösung der Roten Garde gefordert. Das Kriegsministerium wird diesem Wunsche wahrscheinlich entsprechen müssen und es täte sehr gut daran, da diese seltsame Truppe keine Existenzberechtigung hat. Nachdem der tüchtige Feldmarschall Boog, der Kommandant der Wiener Division, den Aufbau der nationalen Armee in die Hand genommen hat, ist es wirklich nicht notwendig, eine bewaffnete Schar zu dulden, die undisziplinierter, unkontrollierbar wie Schillers Libertiner, haust. Auch unter ihnen sind Idealisten und brave Burschen, und ihr Hauptmann, Egon Erwin Kisch aus Prag, hat es sicherlich gut gemeint. Aber die Mariahilferstraße gehört vorläufig noch nicht zu den böhmischen Wäldern. Es geht daher nicht gut an, Privatautos anzuhalten und andere Requisitionen zu unternehmen, auch dann nicht, wenn im Auto zufällig der Baron Rothschild sitzt.

Man muß sich übrigens wundern, daß nach dem beispiellosen Zusammenbruch der Armee die Unordnung sich auf diese kleine Episode beschränkt. Der neuen Regierung ist es gelungen, die Tausende zurückflutender Soldaten in ordnungsmäßige Bahnen zu lenken und man muß gestehen, daß die Mannschaft dabei mehr Disziplin bewahrt hat als so mancher Offizier. Er wird noch einmal darüber zu sprechen sein, wie namentlich viele höhere Offiziere die Front verlassen und dabei ganz an den Unterschied von Mein und Dein vergessen haben. Die Wachsoldaten am Hütteldorfer Bahnhof und auf den Straßen des Wiener Waldes haben wirklich ernstlich zu tun, um etwas von dem gestohlenen Staatsgut zu retten. Ein größerer Teil des Inhalts der Regiments- und Bataillonskassen belebt jetzt die Wiener Nachtlokale. Da fließt Champagner und Wein, Mädchen und Musiker werden beschenkt, und wenn nicht die Sperrstunde wäre, die der neue Staat genau so einhält wie der alte, gäbe es hier lustige Nächte bis zum Morgen. An diesem Wien ist die Weltgeschichte spurlos vorübergegangen; es scheint entschlossen, auch im republikanischen Kleid dasselbe zu bleiben.

In: Prager Tagblatt, 14.11.1918, S. 1.