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P[aul].B[ellak]: Die literarische Sendung Radio-Wiens. Das Programm des Winterhalbjahres.

             Der ›Tag‹ hat bereits in großen Zügen die neue Richtung geschildert, die von der Programmleitung der Ravag eingeschlagen wird, um eine lebendige Ausgestaltung der Sendungen Platz greifen zu lassen. Auch die literarische Leitung unter Professor Dr. Hans Nüchtern wird diesen Gedanken in die Tat umsetzen. Vor allem werden einige Hörspiele zur Aufführung kommen, die für das Mikrophon geschrieben wurden und die akustischen Möglichkeiten des Radio auszuschöpfen suchen. Arno Schirokauers „Ozeanflug“ spielt sich zwischen Himmel und Erde, zwischen Fliegern und Redakteuren ab und bringt Momente ungeheurer Spannung. Die „Ballade der Stadt“ des österreichischen Dichters F. Th. Csokor, ein Hörspiel, das bei dem Preisausschreiben der Reichsrundfunkgesellschaft in Deutschland Aufsehen erregte, behandelt die entsetzlichen Wirkungen des Goldes und die Wandlungen der Gesellschaft im Kampf gegen seinen Fluch. Ein drittes Hörspiel, „Der Clown wider Willen“ von K. Maril, führt in die sonderbare Welt eines Menschen ein, der mit der grotesken Komik eines Chaplin durch das Leben geht.

             Da das Hörspiel heute noch nicht jene Bedeutung errungen hat, die ihm vielleicht in naher Zukunft beschieden sein wird, so muß die Radiobühne nach dem Schauspiel greifen, das dem Mikrophon angepaßt wird. Aeschylos, Calderon, Hebbel, Ludwig kommen mit Dramen zu Worte, denen eine Lustspielfolge gegenübersteht, die von Aristophanes, Shakespeare, Moliere bis Gustav Freytag und Anzengruber führt.

             Auch die Moderne kommt nicht zu kurz. Das „Schutzengelspiel“ von Max Mell, Schnitzler mit „Freiwild“ und „Der tapfere Cassian“, Schönherr mit seinem wirkungsvollen „Karnerleut“ Friedell und Polgar mit dem Einakter „Goethe“, in welchem Friedell selbst zu hören sein wird, werden zur Aufführung gelangen. Selbst das Weihnachtsprogramm mit Studens tiefempfundenem Mysterium „Gawan“ und das Osterspiel von Strindberg „Ostern“ mit dem unübertrefflichen Strindberg-Kenner und Darsteller Jarno sind schon festgesetzt.

             Von besonderer Bedeutung ist die Erweiterung, welche die Radiobühne durch die Gewinnung bedeutender Gastregisseure erfährt. Es war bisher eine Schwäche der Programmleitung, daß die Regieführung einem kleinen, stets wiederkehrenden Kreis von Künstlern anvertraut blieb. Das Hörspiel aber bietet noch viele schlummernde Möglichkeiten und so ist zu hoffen, daß Direktor  Beer, Gayer und andere erfahrene Theaterleute, die gewonnen wurden, dem Mikrophon neue Wirkungen abgewinnen werden.

             Das Märchenspiel, das zum Entzücken der Jugend wurde, wird gleichfalls gepflegt werden. Meist wird eine Bühnenaufführung durch eine Märchenerzählung eingeleitet, die in die Wunderwelt führen soll, die sich den kleinen Zuhörern eröffnet. Die Jugendbühne für die anspruchsvolleren, heranwachsenden jungen Leute, wird im heurigen Winter gewählte Aufführungen von Werken der Klassiker bringen.

             Ein reizender Gedanke wird sich in den literarischen Mittwoch-Abenden verkörpern. Ein Thema, das den Grundakkord anschlägt, wird durch eine Vorlesung künstlerisch variiert, an welche sich ein Einakter anschließt. Ein Abend, der unter dem Titel „Hinter Mauern“ segelt, wird beispielsweise Oskar Wildes erschütternde „Ballade vom Zuchthaus von Reading“ und einen Einakter „Vor dem Frauengefängnis“ nach einer Novelle von Maupassant bringen.

             Die erzählende Literatur und die Dichtkunst kommen gleichfalls nicht zu kurz und werden in einer Reihe von Vortragszyklen gebracht werden. Die Themen „Von der Edda bis Goethe“, von „Goethe bis Hauptmann“, „Junge und jüngste Dichter“ wollen von den Uranfängen germanischer Dichtung bis in unsere Tage geleiten. Eine Vortragsreihe wird „Lieder der Sehnsucht“, eine Zweite: „Lieder der Liebe“ umfassen.

             Von großem Interesse sind auch die Vortragsreihen, welche ins Gebiet des wissenschaftlichen Rundspruchs greifen und wichtige Kulturfragen in künstlerisch vollendeter Weise darbringen wollen. Die Schicksale berühmter österreichischer Forscher und Erfinder werden an uns vorüberziehen. Während ein Zyklus durch „Die Weltstädte und ihr Werden“ führt, folgen wir in einer anderen Vortragsreihe den Spuren „Versunkener Welten“, die uns die Kulturen des Orients, Trojas, Griechenlands und Roms bis zur Blütezeit der mittelalterlichen Weltstädte nahebringen. Noch zahlreiche andere Zyklen werden folgen, deren Namen allein ein ganzes Programm in sich bergen. „Von Siedlung zur Stadt“, „Von der Blockhütte zum Steinhaus“, dann „Stätten der Verheißung“, eine Vortragsreihe, die uns in die heiligen Orte der alten und neuen Welt führt. Dies alles ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der Fülle wohlvorbereiteter Vorträge, die der heurige Winter bringen soll. Da außerdem geplant ist, bedeutende Dichter so oft als möglich zu Wort kommen zu lassen und alle führenden Literaten, die Wien besuchen, ins Studio Radio-Wien zu bitten, dürfte das Winterprogramm der literarischen Leitung der Ravag noch manche Überraschung bieten, die das Interesse der Radiohörer wach zu halten vermag.

In: Der Tag, 28.8.1928, S. 5.

Renato Mordo: Die Radiobühne

             In der Pantomime und im Film vermag der Schauspieler dramatisches Geschehen durch Körper, Auge und Geste restlos zum Ausdruck zu bringen.

Das geschriebene oder gedruckte Drama vermag durch geistige Vision – die Lektüre – zu wirken.

Ist die Kraft, die Steigerung und der Konflikt eines Dramas in das Wort gelegt, dann ist die Reproduktion lediglich durch Ton, Sprache und Klang berechtigt. So kann ein Drama gleich einem Musikwerk unter Verzicht auf jede optische Darstellung zur künstlichen Gestaltung gebracht werden. Im Gegensatz zu Film und Pantomime.

Demnach ist die Radiobühne berechtigt.

Die Radiobühne hat ebensowenig mit dem Theater zu schaffen, wie etwa ein Sinfoniekonzert oder der Film mit dem Theater gemeinsam haben.

Zunächst bedarf man des Radiodramas. Das gibt es noch nicht. Die Künste vermochten mit der Rapidität technischer Entwicklung nicht Schritt zu halten.

So muß also das vorhandene Drama einer radiodramaturgischen Bearbeitung unterzogen werden.

Hierbei ist große Rigorosität am Platze. Alle Szenen, die lediglich durch einen optisch darzustellenden Vorgang verständlich sind, haben mitleidlos zu fallen. Ebenso Szenen, die durch eine verwirrende Anzahl handelnder Personen eine akustische Unterscheidung unmöglich machen. In solchen Fällen sei vielleicht auch die Eliminierung einzelner Figuren versucht. So muß der // phonetisch wirksame Extrakt des Dramas herausgeschält werden. Sollten durch die Bearbeitung Unklarheiten entstehen, so mag für die Entwicklungszeit der Radiobühne ein erläuternder Einführungstext gesprochen werden.

Die Darstellung eines Dramas auf der Radiobühne müßte durch ein Künstlerensemble erfolgen, wie es heute vielfach noch im Stadium der Entwicklung [ist]. Nicht Schauspieler – ,Hörsprecher‘.

Ein Erblindeter lernt nach Verlust seines Augenlichtes die ungeheure Vielfältigkeit von Ton und Ohr begreifen und so muß eine neue Sprechergeneration die Modulation von Sprache und Klang unterscheiden lernen.

Der Schauspieler ist verwöhnt. Körper, Geste, Maske, Auge, Dekoration, Licht und Farbe sind ihm Requisiten. Die Sprache nur ein Bestandteil seiner Wirksamkeit. Der Radiosprecher muß alle diese Hilfsmittel opfern, all ihre Wirkung seiner Sprache einverleiben. Dazu ist vorerst eine ganz grundlegende Schulung seines Ohres Erfordernis. Er muß neu beginnen: Hören lernen und sich hören lassen. Darauf erst kann die neue Technik von Sprache und Sprecher, von Tonführung und Tongebung aufgebaut werden. Und vor allem: Nur ein Künstler von feinster und präzisester Musikalität kann Radiosprecher sein. Ein Hilfsmittel von allem ist der Radiobühne erlaubt: die musikalische und akustische Untermalung (und nicht eine bloße Melodramatisierung). Ihr sei die Rolle zugeteilt, die im Theater die Beleuchtung inne hat.

Nebst Radiodrama und Radiosprecher ist von Hauptbedeutung der Zuhörer. Auch für diesen ist eine völlige Neueinstellung nötig, um ein lediglich phonetisch wiedergegebenes Drama erfassen und erleben zu können. Die bequeme Aufnahmearbeit des Auge im Theater muß hier durch die schöpferische Einstellung der Phantasie ersetzt werden. Dazu bedarf es einer geistigen Disziplin, die auch geschult sein muß. Aufgabe jeder Radiobühne muß es sein, diese Schule anregend und steigernd zu gestalten. Dann sind die Hauptaufgaben der Radiobühne lösbar: Die Anregung zu einer neuen Epoche des Wortdramas und die Wiedererschaffung einer Sprechkultur.

Die Wiener Radiobühne hat wohl in diesem Sinne schon einen weiten Weg zurückgelegt und darf ein reiches Maß an Fortschritt und Erfolg als ihr Besitztum buchen.

In: Radio Wien Nr. 41 (26.7.-1.8.) 1925, S. 6-7.