e.f. [Ernst Fischer]: Stadt im Licht
Lichtreklame.
Licht überschäumt die großen
Boulevards mit roten, grünen, gelben und violetten Trunkenheiten, die Fassaden
der Warenhäuser blühn durch die magische Nacht der Stadt wie ungeheure
Orchideen, phantastische Lilien, abenteuerliche Magnolien, springen wie
silberne Brunnen in den Himmel empor, leuchten wie Freudenfeuer über die Plätze
hin. Tausende stehn und staunen, warten entzückt auf jede neue Verwandlung des
riesigen Flammenspiels, genießen die ewige, alle Kreatur erfüllende Lust am
Licht. Wie gern sie sich selber beschwindeln, die klugen, vernünftigen
Menschen, wie gern sie sich selber beweisen wollen, das Zweckhafte, Nützliche,
Rationelle sei es, was ihr Tun und ihr Schicksal bestimme: diese brennenden
Blumen, diese funkelnden Fontänen, diese gigantischen Glanzgirlanden – alles
nur Lichtreklame, alles nur maskiertes Geschäft, alles nur entfesselter
Kommerz. Wirklich nicht mehr, wirklich nur ein wohlüberlegtes Manöver, um
Käufer anzulocken, wirklich nicht das wunderliche Verlangen der Menschheit nach
dem Pathetischen, Lodernden, Ueberflüssigen?
Gewiß:
die Reklamechefs der Warenhäuser werden lang und breit den Beweis erbringen,
daß diese großzügige und kostspielige Propaganda rentabel sei und die Kauflust
steigere, und man wird sich das einreden lassen, man wird argumentieren, daß
jeder Kaufmann sich hüten werde, so viel Geld zu investieren, ohne daß es sich
lohnt. Ich bin kein Kaufmann, ich kann das nicht beurteilen, aber ich bin
überzeugt, daß das eine Selbsttäuschung ist. Romantik, als Geschäftsinteresse
kostümiert. Ich halte die Besitzer der großen Warenhäuser nicht für Romantiker,
aber der Wille zur Prachtentfaltung, zur großen Gebärde, zur majestätischen
Geste wirkt auch in ihnen und treibt sie in Experimente hinein, die
kaufmännisch kaum zu rechtfertigen sind, verwandelt sie, ohne daß sie es
wollen, in Mäzene, die verschwenderische Schauspiele geben, in Zauberer, die
einen nächtlichen Platz mit orientalischen Märchen überschwemmen.
Die
Technik wird zur Legende: man träumt in dieser Stadt, die von Lichtorkanen
durchbraus ist, unter diesem Himmel, durchblutet von rote Reflexen, verwirrende
Träume. Man verleiht sich in solchen Träumen die Macht eines Götersohnes [sic!]
(der Reichtum eines amerikanischen Oelmagnaten genügt), um für eine geliebte
Frau alle Boulevards, Avenuen und Plätze zu illuminieren, alle Türme in
Flammenkonturen aufzulösen, die Stadt in ein Chaos von Sternen und und Rosen zu
verwandeln. Lichtreklame für die Liebe, für die Seele, für jeden Herzschlag und
für jeden Atemzug! Lichtreklame, Lichtreklame…! Wenn der Kapitalismus, die
Konkurrenz der Warenhäuser zu solchem übermenschlichen Schauspiel sich
steigert, in solchen Scheiterhaufen von allem Schmutz sich befreit, wie muß die
Menschenseele lodern und leuchten in diesem wilden und ungestümen Jahrhundert,
um die Menschen in einen heiligen Lichtrausch zu stürzen, emporzureißen!
Lichtreklame
für die Seele…! Mitten unter den grellen Orchideen und riesigen Silberbrunnen
hängt eine zarte und blasse Scheibe wie eine geisterhafte Frucht. Für welche
Ware wirbt sie, für welche Firma schimmert sie so rührend// und schüchtern
unter dem purpurnen Himmel? Die blasse Scheibe, die geisterhafte Frucht ist der
Mond, der wirkliche Mond, der sich zwischen den strahlenden Bogenlampen verirrt
hat.
Stimme der Seele.
Aber die Seele selber, die Seele von
Paris, man sieht, man hört sie täglich in einem kleinen Theater. Sie ist eine
Russin und heißt Madame Pitoëff: die
Seele von Paris war immer eine Fremde, die an der Seine ihre Heimat gefunden
und sich naturalisiert hat. Sie spielt in einem Stück, das, wie man sich am
Theaterzettel überzeugt, nicht von Hans Müller,
sondern von Lenormand ist: eine Mutter, die
für ihr Kind sich prostituiert, einen Mord begeht, an großen Diebstählen
mitwirkt und allerhand Probleme in ihrem Busen birgt. Homosexuelle, Zuhälter,
Verbrecherinnen geben ihre Philosophie zum besten, und die Erkenntnis, daß das
Leben eine Mischung von Gut und Bös, von Seele und Leidenschaft, von Gott und
Teufel ist, pocht auf ihre Originalität: sie gab dem Drama den Namen Mixture. Madame Pitoëff spielt in diesem
effektvollen Stück die Tochter, das junge Mädel, für das die Mutter sich opfert,
und man zittert, wenn sie die Hand bewegt, wenn sie den Mund öffnet, ist von
Schauern, tiefster, körperloser Zärtlichkeit, intensivsten, melodischen Glücks
bedrängt, hat im Hinterkopf ein merkwürdiges Kältegefühl – nur der Dämon der
Musik wühlt so mit saugenden Lippen im Hirn, nur im Konzertsaal erlebt man
manchmal diese beklemmende und beseligende Empfindung des Ausgetrunkenwerdens.
Zart und zerbrechlich wirkt diese Schauspielerin, die ihrem Manne jährlich ein
Kind gebiert, um einst eine Truppe der Familie Pitoëff zusammenstellen zu
können, wie ein unerhört edles und dünnes Gefäß, das von Licht überfüllt ist,
von dem sanften, grauen und starken Licht der Place de la Concorde, der Champs
Elysees, der Boulevards, Licht, das in ihre Stimme quillt, das ihren Körper
durchpulst, das von allen ihren Gebärden verschüttet wird.
Tiefste
Erschütterung, wenn dieses schmale Geschöpf in unerwarteter Leidenschaft
ausbricht, wenn sie mit eckiger und bezwingender Geste den Revolver gegen den
Strolch erhebt, mit dem sie allein im kahlen Zimmer zurück blieb, wenn ihre
Reinheit drohend und unbarmherzig wird und die Kraft eines Erzengels sie
umpanzert, wenn sie, in der großen Szene des Dramas, der Mutter hell und
unantastbar entgegentritt und die Freiheit ihres Lebens verteidigt. Kein
Pathos, kein greller outrierter Ton, nur eine leise und liebenswerte Gewalt,
eine Größe des Gefühls mit weich entbreiteten Schwingen, wenn sie der Mutter
sagt: „Du willst dich an mir für die
Opfer rächen, die du gebracht hast, du willst, daß es mir nicht besser gehe als
es dir gegangen ist – aber ich will nicht, ich gebe mein Leben, mein Schicksal
nicht preis.“ Und dann die Mutter, eine ausgezeichnete Schauspielerin, wie ein
Granitblock der Schmerzen, der Qualen, und an ihren mächtigen mütterlichen
Hüften hinabgleitend, unwirklich zart, unwirklich schmächtig wie ein
versickernder Lichtstrahl, die Pitoëff – niemals vergißt man dieses Bild. Und
niemals die melancholische Anmut der großen Künstlerin, niemals ihre wie aus
wehenden Morgenwolken sickernde Lichtstimme.
Schauspiel im Freien.
Stundenlang schlenderst du über die
abendlichen Boulevards, immer aufs neue verwundert, daß diese tausend und
tausend Autos, diese tausend und tausend Menschen so glatt und geschmeidig aneinander
vorübergleiten, daß dieser ungeheure Verkehr so wenig brutal, so höflich und
liebenswürdig ist. Es hat geschneit, die Temperatur ist unter Null gesunken,
aber auch die Kälte ist höflich und liebenswürdig und meidet barbarische
Übertreibungen. Vor den Kaffeehäusern sitzen die Menschen im Freien, denn
überall hat man große Füllöfen aufgestellt, die in dieser unwinterlichen Stadt
für künstliche Frühlingswärme sorgen. Längs der Boulevards sind unzählige Buden
aufgeschlagen, Buden, in denen man alles zu kaufen bekommt, was man sich
wünschen kann: Strümpfe, Schuhe, Schals, Seidentücher, Manschettenknöpfe,
Uhren, Puppen, Bücher, Majoliken, Zigarettenspitze, Kinderspielzeug, Lampen,
Zuckerwaren, Taschenmesser, Parfümflakons, Teekessel, Landkarten und tausend
närrische und übermütige Dinge. Das ist der große Weihnachts- und
Neujahrsmarkt, der sich bunt und phantastisch entfaltet. Die Verkäufer und
Verkäuferinnen sind Künstler, von denen viele Redner und Schauspieler lernen
können: unermüdlich halten sie an die Vorbeieilenden formvollendete, witzige
und pathetische Ansprachen, dichten sie ganze Romane, ganze Theaterstücke um
die Waren, die sie feilbieten, erfinden sie Anekdoten, Legenden und
Zaubergeschichten, um die fabelhaften und überirdischen Qualitäten des
Gegenstandes, den sie in der Hand hochhalten, ins rechte Licht, in das jubelnde
Licht des Boulevards zu rücken. Jede Bude ist ein kleines Theater, vor dem sich
die Menschen ansammeln und auf die Zehenspitzen stellen, um alles zu sehen,
alles zu hören; für die meisten ist das ein kostenloses Schauspiel, denn
gekauft wird sehr wenig und die Verkäufer nehmen es keinem übel, wenn er sich
hundert Dinge zeigen läßt, um endlich weiterzugehen, ohne einen Sou ausgegeben
zu haben.
Andere fahren in Automobilen, in
denen die Waren verstaut sind, durch die Straßen, lassen den Wagen irgendwo
halten und beginnen in großer und farbiger Rhetorik über die Köpfe der Menge
hin zu sprechen, und die Lust am gerundeten Wort, an der
leidenschaftlichen Gebärde, an der
geformten Sprache reißt sie hin. Wenn man einige Meter entfernt ist, meint man,
ein Volkstribun fordere die Massen auf, Barrikaden zu bauen und für die Freiheit
zu sterben – erst in der Nähe merkt man, daß nur ein armer Händler seine Puppen
oder Krawatten oder Schuhputzmittel anbringen will. Einige Minuten lang hört
man zu, dann wird man wieder fortgeschwemmt von dem weichen und elastischen
Druck der lebendigen Welle; man fügt sich willig in den Rhythmus, fügt sich
willig der Suggestion des Lichtes, steht auf einmal vor einem farbigen
Glücksrad, das sich immerfort dreht, immerfort dreht (zwei Kilogramm
Würfelzucker sind der Gewinn), wird auf einmal zu einem Schießstand hingespült,
starrt auf einmal, eingekeilt in hundert Neugierige, in die glänzende
Spiegelscheibe eines Warenhauses – und schlendert weiter, immer weiter, bis man
fast betäubt ist vor Müdigkeit. Und plötzlich steigt wieder ein Springbrunnen
silbern in den Himmel empor, blüht wieder maßlose Lichtreklame durch die Nacht.
Rote, grüne, gelbe, violette Sterne
schmelzen über die Seine, tausend und tausend Glühwürmchen wirbeln über die
Champs Elysees, über die Plâce de la Concorde, die Lichter der Automobile,
summender, glitzernder Strom gewaltiger Lebensfülle, elektrische Flammen bäumen
sich über die Dächer, der Himmel ist übersättigt von roten Reflexen. Stadt im
Licht! Stadt im Licht!
Aber
dort bei den Hallen, die wie eine gespenstische Drohung sind, liegt ein alter
Mann, liegt eine Frau mit Kindern, liegen Menschen in Lampen auf Bänken und
Pflastersteinen, um unter dem Winterhimmel zu schlafen.
In: Arbeiter-Zeitung, 8.1.1928, S. 7.