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Leo Lania: Maschine und Dichtung

            Siebzig Jahre der europäischen Dichtung, erfüllt wie wenige Epochen vorher von Unruhe, rastlosem Streben nach Neuem, nach Sprengung der Form, Umsturz des Inhalts, Beute jäh auftauchender, scheinbar nur vom Zufall abhängiger Moden – diese letzten siebzig Jahre des Naturalismus, des Im- und Expressionismus, des Symbolismus, Futurismus, Konstruktivismus, der neuen Romantik und der neuen Sachlichkeit, sie stehen in Wahrheit von Anbeginn an nur unter dem einen Zwang: ein klares, richtiges Verhältnis zu finden zur Maschine. Die ist in das soziale und das individuelle Leben eingebrochen wie ein unerbittlicher Eroberer, hat sich den einzelnen, das Volk, die Kontinente unterjocht, gleichsam in das Bett unseres Lebensstromes Basaltblöcke gestürzt, an denen sich dieser immer wieder bricht, Und immer wieder den Anlauf nehmen muß, die Hindernisse zu überwinden: sei es, indem er sich in weitem Bogen umfließt oder unterspült, sein eigenes Bett verbreitert oder in wildem Jauchzen über sie triumphiert.

Als die Maschine geboren wurde, da gab es wohl niemanden, der bereit gewesen wäre, sie mit Jubelhymnen zu begrüßen. Untergang und Verderben schworen ihr die Weber ebenso wie die Fuhrleute, die Teppichknüpfer ebenso wie die Dichter. Die Maschine wurde zum Leben erweckt, aber der Tod schritt auf ihren Spuren: Hunger, Arbeitslosigkeit, verschärftes Elend und unbarmherzige Fröste, in den die ‚blaue Blume’ verdorrte und die Märchennachtigallen starben. Wenn schon die Maschine in ihren Flegeljahren solche furchtbares Medusenhaupt zeigte, welch schreckliche Geißel würde sie, erst groß und mächtig geworden, für die Menschheit sein! Und während sich also verzweifelte Arbeiter zusammenrotteten und mit Hämmern und Aexten auszogen, das Teufelswerk zu vernichten, saßen die armen Dichter in den Dachkammern und flüchteten in die Idylle des Handwerks und des Kleinbürgertums, und die weniger armen Dichter beschworen in eleganten Salons eine ferne Zukunft grauenhafter Sklaverei. […]

Es waren nicht viele, die fähige und gewillt waren, dieser durchdringenden Stimme zu lauschen.  Scharfe Augen mußte man haben, gute Ohren, einen klaren Kopf und ein weites Herz, vor allem aber die Entschlusskraft, sich einzuordnen in das gewaltige Heer der Armen und Kleinen, auf jede Sonderstellung zu verzichten und sich als Dienender zu fühlen, als ein bloßer Soldat der großen Arbeiterarmee.

Sehen was ist, aussagen, was ist, keine Herrin anerkennen neben der Wahrheit – das war das Ziel. Den Dingen ringsum ihre letzten Geheimnisse abzulauschen, die Maschine immer wieder abzutasten und zu durchleuchten, der Weg dorthin. Emile Z o l a  fuhr in die Gruben en und wanderte zu den Hochöfen hinaus, V e r h a e r e n  strich durch die Gassen der werdenden Großstadt und die Hallen der Fabriken und die beiden entdeckten auf diesen Streifzügen zum ersten Mal die Maschine für die Dichtung, indes Hauptmann, Ibsen und die anderen Bannerträger des europäischen Naturalismus ihre Entdeckungsreisen durch die S e e l e des Menschen noch nicht den Blick freigaben auf jene Stätten, wo der einzelne  seine Sonderstellung verliert und nur Leben und Bedeutung, Licht und Schatten empfängt als Diener am gemeinsamen Werke, als Arbeiter an der Maschine.

Daß die Maschine zuerst und am stärksten die französische Dichtung eroberte, daß die deutsche verhältnismäßig spät diesen Stoff aufgriff, ist natürlich kein Zufall. Die Arbeitsteilung im Zeichen des Fachmannes, in Deutschland zum leitenden Prinzip der Lebensorganisation des ganzen Volkes erhoben,  sperrte das große Gebiet der Technik und Industrie gleichsam hermetisch ab vor den profanen Blicken der Dichter, die sich selbst nur für die seelischen Gebilde zuständig erklärten. […]  Und so blieb es in Deutschland den Männern der Technik vorbehalten, den Ingenieuren wie Max E y t h und Arthur F ü r s t, der Maschine den Weg in die Dichtung zu bahnen […] Auf der anderen Seite waren es die Arbeiter selbst, die eine Industriedichtung schufen. Alfons Pe t z o l d, Max B a r t e l, Karl B r ö g e r, Heinrich L e r s c h, Paul Z e c h sind hier zu erwähnen.1 – aber es ist wieder kein Zufall, daß diese Dichter das Erlebnis der Maschine fast ausschließlich lyrisch zu bewältigen suchten,  also extrem persönlich, daß aus der Arbeiterdichtung das Epos der Maschine, das Drama der Industrie nicht erblühte. Um dieses zu gestalten, fehlte den Arbeiterdichtern die große Verbundenheit mit den allgemeineren Problemen der Zeit.

Diese innere Unverbundenheit der deutschen Dichtung mit der Maschine bereitete erst jene Bewegung vor, die, aus einem Extrem in das andere umschlagend, aus der billigen A e c h t u n g  der Maschine zu ihrer schrankenlosen A n b e t u n g führte. Der Siegeszug der Technik wurde nicht mehr in seinen inneren Voraussetzungen geprüft, die Maschine zum Selbstzweck erhoben […] Die Ekstase der expressionistischen Industriedichtung – mag sie nun auf der einen Seite in den Hymnen auf die Erlöserin Maschine, auf der anderen in der Tragödie Gas Georg K a i s e r s gipfeln – sie ist nur ein neuer Zweig am alten Baum der Romantik. Johann R. Bechers  Maschinenrhythmen nehmen eine Sonderstellung ein.

Der ‚Amerikanismus’ Deutschlands, heute schon so sehr Schlagwort, daß man sich meist der Mühe enthoben fühlt, damit einen klareren Begriff zu verbinden, ist kaum mehr als die Summe gewisser Aeußerlichkeiten, die ebenso wenig den Wesensinhalt Amerikas wie Deutschlands bestimmen. Amerikanismus, auf eine einfache Grundformel gebracht, ist gewiß nicht nur Anwachsen des Verkehrs, Verschärfung des Arbeitsrhythmus und Tempos, Sportbegeisterung, Rekordfieber und Jazz, sondern vor allem das sichtbare Wirken eines Kollektivbewußtseins, das aus den Quellen eines starken überschäumenden Lebensgefühls gespeist wird. So betrachtet, ist heute nur ein Land ‚amerikanisch’ – R u ß l a n d. Gewiß, ein Amerikanismus mit umgekehrten Vorzeichen, aber in seinem Verhältnis zur Technik, zur Maschine, zu den Dingen des täglichen Lebens, die nicht aus zweiter Hand durch die romantische Brille überkommener  Anschauungen nach dem Schema von einmal erprobten Erfahrungsgrundsätzen reguliert, sondern immer von neuem und immer neu erlebt werden – in seiner Weite und Traditionslosigkeit ist Sowjetrussland amerikanisch. In einem seiner geistreichen Essays schildert Ilja E h r e n b u r g den Taumel der Begeisterung für die Maschine, der Russland in den Monaten des Hungers und des Bürgerkriegs erschütterte: „Der Krieg war nötig, die Revolution, Hunger, Blockade und Typhusläuse, das Agonieröcheln von Transportzügen und auf den Rückseiten alter Rechnungen ausgefertigte Mandate, damit in dem finsteren heroischen Moskau die Poesie der Sache geboren wurde […] Majakowsky, der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, der seine Begeisterung schüchtern hinter Ironie verbarg, verherrlichte die elektrodynamomagische Stadt, und bei Meyerhold, dem großen russischen Regisseur, vergaßen die Moskauer beim Anblick richtiggehender Lifts auf der Bühne die erschütternde Bedeutung der Heldenmonologe.“ Der russische Konstruktivismus war die Flucht in die Romantik einer Welt, die es nicht gab.

Mittlerweile hat die Realität des Lebens dieser Romantik das Lebenslicht ausgeblasen. Der Roman ‚Zement’ des jungen Gladkow ist jenseits alles Dichterischen vor allem bedeutsam als Dokument des russischen Alltags, des russischen Menschen von heute.2 Hier wird das Zementwerk einer Fabrik, zum Helden des Romans gemacht, die Maschine ist nicht mehr Hintergrund, sondern der eigentliche Träger der Handlung. Aber gleichzeitig wird dieses Werk mit allen seinen Bindungen und sozialen Voraussetzungen gestaltet; wie die Fabrik aus den Ruinen des Bürgerkriegs durch das kollektive Schaffen der Arbeiter zu neuem Leben erweckt, gegen alle Widerstände der Bureaukratie, gegen alle Sabotage der Zweifler und den offenen Kampf der Gegner ertrotzt wird. Hier sind die Schleier der Romantik gefallen, aber der Dichter bemüht sich auch nicht mehr mit der bloßen wahrheitsgetreuen Schilderung der Fassade, die S e e l e  d e r  M a s c h i n e  wird enträtselt und es zeigt sich, daß in dieser Seele der elektrische Strom der Technik mit den geheimnisvollen Strömen des sozialen Organismus zu einer Einheit zusammenfließt.

Man könnte Sinclair L e w i s’ Benzinstation ein Gegenstück zu Zement nennen, obwohl hier scheinbar nicht die geringsten Beziehungen bestehen. Aber wie Sinclair Lewis das Auto zum Helden seines Romans macht, es gleichsam als lebendes Wesen gestaltet, sachlich, überlegen, das illustriert besser als Hunderte von gelehrten Abhandlungen das innere Verhältnis, das jenseits des Ozeans das Volk in seiner Gesamtheit zur Technik und zur Maschine gewonnen hat. Zwischen dem zolaistischen Naturalismus Upton S i n- c l a i r s und der neuen Sachlichkeit Sinclair L e w i s’, zwischen König Kohle, dem Sumpf und der Benzinstation liegt die Epoche des Ford-Autos und der Siegeszug der amerikanischen Industrie.

Deutschland hat in seiner Epik der neuen Sachlichkeit eines Sinclair Lewis und eines Gladkow vorläufig nichts Aehnliches entgegenzusetzen. Womit gewiß kein Werturteil gefällt werden soll, sondern bloß eine soziale Erscheinung registriert sei. Ist doch dieses Verhältnis der Dichtung zur Maschine nichts anderes als ein Barometer, von dem die Z e i t g e m ä ß h e i t der Dichtung und ihr Einfluß auf die Formung der sozialen Probleme abzulesen sind. 

In: Arbeiter-Zeitung, 22.10.1927, S. 17f.


  1. Alfons Petzold (1882-1923): stammte selbst aus einer Arbeiterfamilie, seit 1910 literarisch tätig, gefördert u.a. durch Josef Luitpold Stern; verfasste v.a. Lyrik, aber auch zwei Romane: Erde (1913) und Das raue Leben (1920), litt und starb an Tuberkulose. Max Barthels ( 1893-1975), aus Arbeiterfamilie, früh in sozialistischen, ab 1919 in kommunistischen Organisationen tätig; Hg. der Internationalen Arbeiterhilfe; 1923 gemeinsam mit Willi Münzenberg in der Sowjetunion, mehrere Russland-Bücher in den 1920er Jahren, auch Romane, veröffentlicht, große Resonanz mit dem Bd. Arbeiterseele (1920); 1933 auf den Nationalsozialismus eingeschwenkt, sichtbar im Roman Das unsterbliche Volk und in Veröffentlichungen im Völkischen Beobachter; Propagandaarbeit für verschiedene NS-Einrichtungen, nach dem Krieg Flucht aus der SBZ (späterer DDR); Karl Bröger (1886-1944): ebf. bekannter Arbeiterdichter im Umfeld der SPD, Druchbruch mit Die singende Stadt (1914), pazifistische Lyrik während des Ersten Weltkriegs; in der Weltkriegserz. Die Flamme (1920) Akzent auf neue Technologien; stets auf Distanz zum NS, aber von ihm wiederholt vereinnahmt worden.
  2. Zur Wirkung dieses Romans auf die zeitgenöss. österreichische Diskussion vgl. auch: Maria Lazar: Tendenz und Propaganda. In: AZ, 6.11.1927, S. 21 oder Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes. In: Der Kampf 1927, 499-507, bes. S. 503.