Schlagwortarchiv für: Sozialisierung

N.N.: [O. Bauer]: Rätediktatur oder Demokratie.

(Teil 4) Der Weg der Demokratie.

            Die Revolution hat der deutschösterreichischen Arbeiterschaft die demokratische Republik, die Selbstregierung des Volkes im Staate, im Lande und in der Gemeinde gebracht und damit ihre Macht wesentlich erweitert. Aber der große politische Sieg konnte das wirtschaftliche Elend nicht bannen. Unsere Lebensmittelvorräte sind erschöpft; wir leben nur von den allzu kargen Zuschüben der Entente. Die Zufuhr der ausländischen Kohle, auf die wir angewiesen sind, stockt; daher ist unser Eisenbahnverkehr gedrosselt, unsere Fabriken können infolge des Mangels ausländischer Rohstoffe und Kohlen nicht arbeiten; Hunderttausende sind arbeitslos. Die Kriegskosten sind mit Milliarden Banknoten, die in den Umlauf gepreßt wurden, gezahlt worden; dadurch sind unsere Geldzeichen entwertet, die Preise steigen ins Unerhörte, die leeren Staatskassen und die Krise der Industrie machen es unmöglich, Löhne und Gehalte in gleichem Ausmaß zu erhöhen. Die Entente verweigert uns immer noch den Frieden, die Rückkehr unserer Gefangenen, die freie Einfuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln. An all dem kann keine Regierung etwas ändern, Aber die Massen, die hungern und leiden wie nie zuvor, sind verzweifelt und erbittert. Die Leidenschaft, durch die Not entfesselt, droht über besonnene Erwägung zu obsiegen. Das Vorbild Rußlands und Ungarns lockt Tausende. Die Bourgeoisie sieht, daß die Versuchung zu neuer Revolution, zur Proklamierung der Rätediktatur die Massen lockt, Die Bourgeoisie zittert davor, daß die Massen der Versuchung erliegt, So klammert sich die Bourgeoisie jetzt selbst an die Demokratie, gegen die sie sich vor wenigen Monaten noch mit Händen und Füßen gewehrt, die sie nur unter unwiderstehlichem Zwange hingenommen hat. Die Bourgeoisie sucht die Demokratie zu retten, indem sie den arbeitenden Volksmassen ihre Fruchtbarkeit beweist. So ist die Bourgeoisie unter dem Drucke der Furcht vor der Rätediktatur zu weit größeren Zugeständnissen bereit, als sie sonst bei gleichen Machtverhältnissen bereit wäre. Ist die Macht des Proletariats zunächst vergrößert worden durch den Sieg der Demokratie, so wird sie jetzt neuerlich vergrößert dadurch, daß die Bourgeoisie die Demokratie bedroht sieht durch die Werbekraft des Gedankens der Rätediktatur.

            So können wir heute im Rahmen der demokratischen Republik ohne neuen gewaltsamen Umsturz sehr viel durchsetzen. Wir können die alten monarchischen, feudalen und militaristischen Institutionen von der Wurzel aus ausrotten. Wir können durch eine Reihe mutiger Reformen das Unterrichtswesen neu gestalten, um für die Erziehung einer selbstbewußten, denkenden, mutigen Generation die Grundlagen zu schaffen. Wir können das Arbeiterrecht und die Arbeiterversicherung unvergleichlich schneller und unvergleichlich großzügiger, als es jemals zuvor möglich war, ausbauen. Wir können die ersten Schritte auf dem Wege zur Sozialisierung der Industrie und des Bergbaues, der Forstwirtschaft und des Handels zurücklegen. Wir können durch eine energische Vermögensbesteuerung das Volk von dem Tribut an die Staatsgläubiger befreien. All das ist heute möglich auf der Grundlage der Demokratie. Und all das ist im Zuge, im Werden. Die Demokratie wird diese Aufgaben erfüllen, wenn ihr nur Zeit zur Erfüllung dieser Aufgaben gelassen wird.

            Aber freilich, all das genügt den breiten Massen des Proletariats nicht mehr. Aufgewühlt durch das furchtbare Erlebnis des Krieges, aufgerüttelt durch die Stürme der Revolution in Rußland, in Deutschland, in Ungarn, fordert das Proletariat die volle Macht, die Alleinherrschaft. Sie kann es freilich in // der deutschösterreichischen Nationalversammlung nicht erlangen, denn in ihr halten die Kräfte der klerikalen Bauernschaft und der sozialistischen Arbeiterschaft einander das Gleichgewicht. Aber müssen wir darum die Demokratie aufgeben? Gibt es nicht auch auf demokratischer Grundlage einen Weg zur Macht?

            Im Staate ist die Macht der Arbeiter begrenzt durch die Macht der Bauern. Anders in lokalen Selbstverwaltungskörpern. In der Nationalversammlung haben wir nicht die Mehrheit; aber in der Gemeindevertretung von Wien, im Landtag von Niederösterreich, in den zu schaffenden Kreisvertretungen des Viertels unter dem Wienerwald oder des obersteirischen Kreises kann die Arbeiterschaft unschwer die Mehrheit erringen. Und wenn nun all diesen Selbstverwaltungskörpern eine breite Autonomie zugewiesen, wenn ihnen insbesondere auch das Recht zur Enteignung und Sozialisierung dazu geeigneter Betriebe zugestanden wird, dann kann die Herrschaft über die lokalen Selbstverwaltungskörper zur gewaltigsten Machtquelle des Proletariats werden. Im Staate sind die Bauern zu zahlreich, als daß die Arbeiterschaft allein herrschen könnte; in den Großstädten und Industriebezirken aber ist die Arbeiterschaft die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, da kann sie auf demokratische Weise, durch den Stimmzettel, die Herrschaft in den lokalen Vertretungskörpern erringen und die Autonomie der Gemeinden und Kreise kann so zu einem wichtigen Herrschaftsmittel des Proletariats werden. Darum brauchen wir vor allem eine demokratische Lokalverwaltung mit breiten Kompetenzen.

            Andererseits aber brauchen wir den Anschluß an das Deutsche Reich. Denn wie immer sich die Klassenkämpfe des reichsdeutschen Proletariats vorübergehend gestalten, schließlich sind in der großen deutschen Republik die Voraussetzungen für die Herrschaft des Proletariats doch unvergleichlich günstiger als in unserem kleinen, industriell viel weniger entwickelten Deutschösterreich. Dort bildet die Arbeiterklasse einen viel größeren, die Bauernschaft einen viel kleineren Teil der Bevölkerung als hier. In Deutschland wird das Proletariat die Herrschaft erobern; also wird auch Deutschösterreich unter proletarischer Herrschaft stehen, sobald es ein Teil des Deutschen Reiches wird.

            Unser deutschösterreichischer Staat ist ein Notgebilde, zu vorübergehender Leistung bestimmt. Wenn es erst in dem großen Deutschland aufgegangen sein wird, dann werden unserer Nationalversammlung keine wichtigen Aufgaben mehr bleiben. Das Schwergewicht der Gesetzgebung und der Verwaltung wird dann fallen einerseits an das Reich, andererseits an die lokalen Selbstverwaltungskörper, an Gemeinden, Kreise und Länder. Im Reiche aber kann die Arbeiterschaft auf demokratischem Wege die Herrschaft erlangen und in den Stadtgemeinden und industriellen Kreisen wird sie mit demokratischen Mitteln die Herrschaft erobern. So können wir ohne Rätediktatur, mit den Mitteln der Demokratie die Macht gewinnen.

            Die Rätediktatur würde in Deutschösterreich keineswegs die Diktatur des Proletariats bedeuten; denn die Arbeiterräte müßten mit den Bauernräten die Macht teilen. Die Rätediktatur würde aber bei den heutigen Verhältnissen neuen Krieg gegen die Entente, die Gefahr einer Besetzung unseres Landes durch fremde Heere, die vollständige Einstellung der Lebensmittel- und Kohlenzufuhr, die ungeheuerlichste Steigerung des Massenelends bedeuten und in einer Hungerkatastrophe enden, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gäbe als die Konterrevolution. Es gibt einen anderen, sichereren und schmerzloseren Weg zur Macht. Das ist der Weg der Demokratie. Wenn wir uns einerseits dem großen roten Deutschland eingliedern und andererseits in Gemeinden und Kreisen starke Burgen roter Herrschaft schaffen, führen wir das Proletariat auf sichererem Weg zur Macht.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.3.1919, S. 1-2.