Alfons Wallis: Kunst und Sozialismus. Offener Brief an den Herausgeber
Sehr geehrter Herr!
In Ihrer Ansprache an die Fachgruppe der Künstler und Schriftsteller der Sozialistischen Vereinigung geistiger Arbeiter, in der ganzen Diskussion jener Versammlung, schien mir dieses verwirrend vermischt: die neue Einstellung zu einer veränderten Wirtschaftsform, eine Neueinstellung, die der Künstler natürlich wie jeder aus jedem anderen Beruf vornehmen muß: das zweite aber wäre jener Umstand, der mir allein das Recht auf den Titel „sozialistischer Künstler“ zu verleihen scheint; eine sozialistische Geistigkeit, Nerven und Gestaltungskraft, die ihren Motor in einer sozialistischen Kultur haben. Da ich unter den Berühmtesten unserer Zeit so wenige weiß, deren Mentalität sozialistisch ist, fürchte ich, daß Sie auch unter den weniger Berühmten allzu wenige dieser Art finden werden. Diejenigen aber, die eben auch in einem sozialistischen Staat leben wollen, womöglich besser leben wollen, deren Geistigkeit, deren Werk aber etwa aus einer aristokratischen, einer bürgerlichen und namentlich aus gar keiner Kultur stammt, werden offenbar recht zahlreich zu Ihnen gehen. Zum Nutzen des Sozialismus? Keinesfalls zum Nutzen der Kunst.
So werden wahrscheinlich der Vereinigung sozialistischer Künstler die einzig Wichtigen fehlen: die Künstler, denen Sozialismus innerstes Erlebnis ist, nicht günstige und günstigere wirtschaftliche Tatsache. Erlebnis ist aber ein Metaphysikum, das man wohl schwerlich beschwören kann. So erschien es einigermaßen merkwürdig, als ein Kunsthistoriker in einer Versammlung ernstlichst vorschlug, durch theoretische Vorträge in Vereinigungen von Malern und Musikern Künstler für den sozialistischen Geist zu gewinnen. Wäre es mehr als ein verzweifeltes Wahlmanöver, hätte es etwas mit diesen Menschen in ihrer Eigenschaft als Künstler zu tun? Wer dürfte es wagen, „den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen“? Übrigens wird der Geist der sozialistischen Kultur wie der jeder anderen, seine eigene Kunst schaffen, seinen Künstlern wird er neue Lebensmöglichkeit, neue Vitalität sein, er ist in Gerhart Hauptmann, in Käthe Kollwitz, in manchem anderen Künstler von heute; aber vom Standpunkt der Kunst selbst ist natürlich eine sozialistische keineswegs wertvoller als eine adelige oder bürgerliche. Jede neue Zeit ist der Tod der Kunst des vergehenden Zeitalters: eine Fülle Herrlichkeit versinkt, weil andere Menschen sind, denen sie unnotwendig geworden ist. Die neue Kunst wird aber immer kommen, sobald sie ein Naturbedürfnis ist.
Während mir dieses Ziel Ihrer Vereinigung, dem Sozialismus fremde Künstler in sozialistische zu verwandeln, weniger gefährlich denn unmöglich erscheint, so sehe ich in der wirtschaftlichen Organisation keine ganz harmlose, übrigens nicht neue Angelegenheit. Unverhältnismäßig viel Gleichgiltiges und Unfähiges wird geschützt, anstatt bekämpft zu werden. Es gilt eben das in diesem Fall Nichtssagendste, rein manuelle: Feder und Pinsel. Was wiegt der Fall auf, daß auf dem Theater zu X ein unerkanntes Genie um 100 Kronen monatlich spielen muß, verglichen mit der Tatsache, daß sich jährlich Hunderte Unfähiger zur Bühne drängen, weil es leichter ist als Postamt und Büro. Und sollte selbst um der wenigen Auserwählten willen der ganzen Masse ein Privileg erteilt werden, so wäre dem Mann, auf den es ankommt, erst recht wenig geholfen: er schriebe noch immer für die Schreibtischlade und wäre unerkannt wie zuvor. Da ist kein Unterschied zwischen einem kapitalistischem und einem sozialistischen Staat, übrigens ist die Not der Künstler wohl durch eine Überproduktion zu erklären. Es ist nicht wahr, daß das Volk nach Mozart schreit und „Torquato Tasso“, nach Schönberg und Spitteler. (Gern nimmt man das als Vorwand bei all den Versammlungen). Wie sollte auch für die Krönung einer Kultur Interesse vorhanden sein, wenn deren Fundamente wanken, wenn nicht ihre primitivsten Voraussetzungen vorhanden sind? Kunst ist das Endprodukt einer Kultur, sie muß aus dem Glück, der Fülle, dem Überfluß einer Klasse, eines Volkes wachsen. So brachte ein reiches Bürgertum kein kleines an Kunst hervor. Was kann der Künstler schon heute fordern vom sozialistischen Staat? (Welch kühnes Vokabel im Feber 1919!) Sein Tag wird kommen, wenn aller Tag kommt. Und bis dahin?
Es war von einem Kunstministerium die Rede. Einer unserer berühmtesten Musiker sagte in dem Gespräch: „Was könnte ein Staatssekretär für Musik anderes tun, als sich um die bessere Ausnützung der Wasserkräfte für industrielle Zwecke zu kümmern?“
Wer von den Künstlern dazu Mut und Kraft verspürt, der arbeite mit, nüchtern, sachlich, in der Partei, im täglichen Leben! Die übrigen mögen wie bisher weiterarbeiten: malen, komponieren, dichten. Und schweigen!
In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 7, 14.2.1919, S. 160-161.