Otto Bauer: Die deutschösterreichische Republik.
In den vier Tagen vom 28. bis zum 31. Oktober hatte sich die Auflösung der Habsburgermonarchie vollendet. In diesen vier Tagen war die Armee an der Front zusammengebrochen, hatten sich die neuen nationalen Regierungen im Hinterlande der Regierungsgewalt bemächtigt. Es war eine nationale und eine demokratische Revolution, was sich da vollzog: statt der Dynastie, ihrer ‚übernationalen‘ Bürokratie, Generalität und Diplomatie übernahmen in Deutschösterreich wie in Tschechien, in Galizien wie im südslawischen Gebiet nationale Volksregierungen, aus den Wortführern der Parteien des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zusammengesetzt, die Regierungsgewalt. Aber der Zusammenbruch der alten Mächte entfesselte zugleich auch die bisher von der Gewalt niedergehaltenen Arbeitermassen. In den täglichen stürmischen Soldatendemonstrationen, die in Wien mit der großen Massenkundgebung am 30. Oktober begonnen hatten, kündigte sich an, daß die national-demokratische Revolution zugleich auch die soziale Revolution weckte, der Übergang der Regierungsgewalt von der Dynastie auf die Völker zugleich auch den Klassenkampf innerhalb des Volkes, die Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Klassen innerhalb der Nation einleitete. Die Entfaltung dieses dreifachen revolutionären Prozesses der demokratischen, der nationalen und der sozialen Revolution ist die Geschichte des entstehenden deutschösterreichischen Staates vom 30. Oktober bis zum 12. November.
Am 30. Oktober hatte die Provisorische
Nationalversammlung den Staatsrat beauftragt, die Regierungsgewalt in Deutschösterreich
zu übernehmen, und eine deutschösterreichische Regierung einzusetzen.
Deutschösterreich war damit, ebenso wie alle anderen entstehenden
Nationalstaaten in diesen Tagen, vor das Problem der Regierungsbildung
gestellt. Es handelte sich nicht, wie sonst bei Regierungsbildungen, um den
Übergang einer bestehenden Staatsgewalt aus den Händen einer Machtgruppe in die
einer anderen, sondern um die Schaffung neuer Staaten, um die Organisierung
noch nicht bestehender Staatsgewalten. Die Regierungen, die da gebildet wurden,
verfügten zunächst über keinerlei materielle Machtmittel, weder über den
Verwaltungsapparat noch über eine Militärmacht; sie konnten sich nur durch ihre
moralische Autorität durchsetzen, nur durch ihre moralische Autorität sich die
Verwaltungsmaschinerie der zerfallenden Monarchie unterordnen und sich eine
nationale Wehrmacht schaffen. Sollte die moralische Autorität der neuen
Regierung groß genug sein, diese Aufgabe zu bewältigen, sollte sie sich in der
Großstadt wie im Dorfe, in den Industriegebieten wie im Landvolk, in den Ämtern
wie in den Kasernen durchsetzen, dann mußten die neuen Regierungen aus
Vertrauensmännern aller Volksschichten zusammengesetzt werden. So erklärt es
sich, daß die neuen Regierungen in all den neuen Nationalstaaten damals aus den
Vertretern aller großen politischen Parteien der sich konstituierenden Nationen
zusammengesetzt werden mußten. Daß ‚Bürger,// Bauern und Arbeiter‘ gemeinsam
die neue Regierung bilden mußten, war das Schlagwort jener Tage.
Auch der deutschösterreichische Staat war im Grunde aus
einem Contrat social, einem staatsbegründenden Vertrage der durch die
politischen Parteien vertretenen Klassen des deutschösterreichischen Volkes
hervorgegangen. Die Gesamtheit der deutschösterreichischen Abgeordneten hatte
sich auf Grund von Vereinbarungen zwischen den Parteien als Provisorische
Nationalversammlung proklamiert. Nur diese Gesamtheit konnte jetzt die
Regierungsgewalt übernehmen. Der von der Provisorischen Nationalversammlung
nach dem Verhältniswahlrecht gewählte, also aus Vertretern aller Parteien
zusammengesetzte Staatsrat bildete die eigentliche Regierung. Nur als seine
Beauftragten übernahmen die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre die Leitung
der einzelnen Staatsämter; nicht ihnen, sondern dem Staatsrat selbst teilte die
provisorische Verfassung vom 30. Oktober die Verordnungsgewalt zu. Wie der
Staatsrat selbst aus allen in der Provisorischen Nationalversammlung
vertretenen Parteien zusammengesetzt war, so wurden auch die von ihm bestellten
Staatssekretäre allen Parteien entnommen. […] Dr. Karl Renner wurde zum Leiter
der Kanzlei des Staatsrates bestellt. Dem christlichsozialen Staatssekretär für
Inneres gaben wir Sozialdemokraten Otto Glöckel, dem deutschnationalen
Staatssekretär für Heerwesen den Sozialdemokraten Dr. Julius Deutsch als
Unterstaatssekretäre bei. Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die
nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in
der Regierung. Erst sie machten den Leiter der Staatskanzlei zum Staatskanzler.
Erst sie ließen in den beiden wichtigsten Staatsämtern, im Staatsamt des
Innern, das über die innere Verwaltung, über Polizei und Gendarmerie verfügte,
und im Staatsamt für Heerwesen, das die Demobilisierung zu leiten und eine neue
Wehrmacht aufzustellen hatte, die bürgerlichen Staatssekretäre weit hinter die
sozialdemokratischen Unterstaatssekretäre zurücktreten. Es war eine
Machtverschiebung, die sich durch die Ereignisse selbst vollzog, in der sich
der Fortgang der Revolution ausdrückte.
Aus dem Krieg entstanden, ist die soziale Revolution
nicht so sehr von der Fabrik als vielmehr von der Kaserne ausgegangen. Als an
der Massenkundgebung des 30. Oktober auch Soldaten und Offiziere in großer Zahl
teilnahmen; als an diesem Tage auf den Soldatenklappen die roten, auf den
Offizierskappen die schwarzrotgoldenen Kokarden aufzutauchen begannen;// als am
Abend des 30. Oktober Soldatenhaufen den Offizieren auf der Straße die Rosetten
mit den kaiserlichen Initialen von den Kappen rissen, war es klar, daß die
militärische Disziplin in den Wiener Kasernen vollends zusammengebrochen
war. Die furchtbare Allmacht, die die
militärische Organisation im Kriege dem Offizierskorps gegeben hatte, schlug
mit einem Schlage in völlige Ohnmacht um; vierjährige Unterdrückung der
Menschenwürde des Soldaten rächte sich nun in wild aufloderndem Haß des Mannes
gegen den Offizier. Wo bisher der stumme Gehorsam gewaltet hatte, setzte nun
die elementare, instinktive, anarchische revolutionäre Bewegung ein.
Soldatenhaufen, von Heimkehrern aus Rußland geführt, versammelten sich nächst
der Roßauer Kaserne und berauschten sich an wilden Reden. Sie versuchten die
Bildung einer „Roten Garde“, sie zogen bewaffnet durch die Stadt, sie
„expropriierten“ Kraftwagen und „beschlagnahmten“ Lebensmittelvorräte. Die
Offiziere selbst wurden von der Bewegung erfaßt, Reserveoffiziere aus den
Reihen der Intelligenz beteiligten sich, von der Revolutionsromantik des
Bolschewismus mitgerissen, an der Bildung der Roten Garde, während sich deutschnationale
Offiziere im Parlamentsgebäude als „Soldatenräte“ auftaten. Die überwiegende
Mehrheit der Soldaten aber packte unwiderstehlicher Drang, nach Hause, zu Weib
und Kind zurückzukehren. Die slawischen Soldaten eilten ungeordnet nach Hause,
sobald sie von der Bildung der Nationalstaaten in ihrer Heimat erfuhren; ihr
Beispiel verbreitete die Desertionsbewegung sofort auch auf die deutschen
Soldaten. Niemand tat mehr Dienst, die Kader lichteten sich, die Wachen liefen
davon, die wichtigsten Depots und Magazine waren unbewacht. Kriegsverwilderung,
Hunger, Verbrechertum nützten diese Selbstauflösung der Garnisonen aus:
Plünderungen begannen begannen […] Nur die Aufstellung einer neuen bewaffneten
Macht konnte die volle Anarchie verhindern.
Der Staatsrat versuchte zunächst die Reste der
Garnisonen der alten Armee in seinen Dienst zu stellen. Sie wurden auf die
provisorische Verfassung beeidigt. Und da die Wiederherstellung der Autorität
der Offiziere zunächst aussichtslos erschien, forderte der Staatsrat selbst die
Mannschaften auf, Soldatenräte aus ihrer Mitte zu wählen, die Ordnung und
Disziplin in den Kasernen herstellen sollten. Aber diese ersten Bemühungen
blieben erfolglos. Die Soldaten leisteten den Eid und liefen dennoch
auseinander, zu Weib und Kind. Die Reservisten bei den Fahnen zurückzuhalten
war unmöglich. Es gab nur einen Ausweg: gegen Sold Freiwillige anzuwerben und
aus ihnen eine neue Wehrmacht zu formieren. So ordnete der Staatsrat am 3.
November, dem Tage des Abschlusses des// Waffenstillstandes, die Werbung für
die Volkswehr an.
In: Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Wien 1923, S. 95-97.