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Friedrich Austerlitz: Ein Tag gewaltigsten Umsturzes (1918)

Welch ein Tag! In seinem Rahmen drängen sich Ereignisse zusammen, die wie Flammenzeichen aufsteigen und der ganzen Erde das Ende Österreichs verkünden. Das endgültige, furchtbare, schreckliche Ende!

Am Piave ist der Widerstand der österreichisch-ungarischen Armee zusammengebrochen und so hat sie um den Waffenstillstand gebeten. Mittwoch früh 1 hat das Armeeoberkommando zu der italienischen Heeresverwaltung einen Parlamentär geschickt. Die Italiener haben die Verhandlungen zuerst abgelehnt […] Der Sieg der Feinde ist vollendet; es gibt keine Gegenwehr mehr in Österreich, weil es kein Österreich mehr gibt. Es war von den schwarz-gelben Patrioten doch recht voreilig auf das „Österreich der Front“ stolz und rühmend hinzuweisen. Würdig an den Zusammen-//bruch des Landheeres reiht sich die Auflösung der Kriegsmarine an: Die österreichisch-ungarische Kriegsflotte besteht seit heute nicht mehr. Sie wird einfach dem kroatischen Nationalrat übergeben, der auch sofort seine Flagge hissen kann. Die Mannschaften können, wenn sie nicht Südslaven sind, nach Hause gehen; aber der ganze Stab kann auch bei dem Nationalrat Dienst nehmen. Die Übergabe wird mit der Stimmung der südslavischen Mannschaften folgendermaßen begründet: „Die Erklärung der Trennung Ungarns von Österreich, dann die Erklärungen des tschechischen und südslavischen Nationalrates konnten nicht ohne Einwirkung auf die Mannschaften der Kriegsmarine bleiben. Die Rückberufung der Mannschaften durch die Nationalräte hätte derart auflösend gewirkt, daß blutige Zusammenstöße zwischen den einzelnen Nationalitäten nicht unwahrscheinlich würden und die Flotte dadurch wehrlos gemacht, dem Feinde zum Opfer gefallen wäre. Dem vorzubeugen und das wertvolle Material der Kriegsmarine den Nationalstaaten Österreich-Ungarns zu erhalten, entschloß man sich zu dem bekannten Schritte, als dem einzig richtigen in dieser schwierigen Lage.“ Die Behörden haben bei der Übergabe das Eigentumsrecht der „nichtsüdslavischen Nationen“ geltend zu machen und sich die seinerzeitige „Ablösung“ vorzubehalten. Protokollarisch vorzubehalten! […] Triest ist von der amerikanischen Flotte besetzt worden, und das ist schon ein Trost: Man nimmt an, daß die Amerikaner die Stadt besetzt haben, damit die Italiener nicht kommen und sie gleich endgültig in Besitz nehmen, damit also ihr weiteres Schicksal noch eine offene Frage bleibe. Und um das militärische Ungemach voll zu erleiden: Fiume ist von der italienischen Flotte besetzt und in Laibach sind englische Truppen eingezogen 

Während sich in Österreich die Auflösung des Nationalitätenstaates und die Gründung der Nationalstaaten in disziplinierten Formen vollzieht, obwohl die tiefe Gärung im gesamten Volkskörper unverkennbar ist, war Budapest von Mittwoch abend an der Schauplatz von Vorgängen revolutionärster Art, die damit endigten, daß die gesamte bürgerliche und militärische Gewalt in die Hände des Nationalrates fiel. Die unmittelbare Folge war, daß die Mission des Grafen Hadik aufgegeben und Graf Michael Karoly mit der Kabinettsbildung betraut wurde. Daß nur Karoly, der Demokrat und Pazifist, fähig sei, die Dinge zu meistern, war schon längst klar; warum man sich also weigerte, ihn zu ernennen, ist nicht zu begreifen. In Karolys Regierung treten zwei Sozialdemokraten ein: die Genossen Garami und Kunfi auch das zeigt den gewaltigen Wandel an, der sich in so wenigen Tagen vollzogen hat. Dazwischen fällt als aufrüttelndes Ereignis die Ermordung des Grafen Stephan Tisza, den auf einem Spaziergang Soldaten erschossen haben. In dem Attentat hat sich offenkundig die Verbitterung der Soldaten gegen den Mann entladen, der an dem Ausbruch des Krieges so große Schuld trägt. Die neue Regierung hat ernste Aufrufe erlassen, in denen sie zur Ruhe und Ordnung mahnt. 

In guten Bahnen bewegt sich die Bildung der neuen Regierung in Deutschösterreichs. Sie ist nun vollendet, das Direktorium des Staatsrates und die Staatssekretäre ernannt und feierlich in die Pflicht genommen; die Übernahme sämtlicher alter Ministerien, soweit ihre Funktionen das deutsche Gebiet betreffen, wird ohne Verzug geschehen. Schwere, ernste, unendlich große Arbeit steht vor den Männern, die nun berufen sind, die Geschicke Deutschösterreichs zu leiten; möge ihnen fruchtbarer Erfolg beschieden sein. Die ungeheure Sorge, die sie auf sich nehmen, die Verantwortung, die auf ihnen lastet, gebietet allen, ihnen mit Vertrauen, Hingebung und Disziplin zur Seite zu stehen und alles zu tun, was ihre Arbeit fördern, alles zu unterlassen, was sie stören könnte. 

In: Arbeiter-Zeitung, 1.11.1918, S. 1-2.

  1. 10.

Otto Bauer: Die deutschösterreichische Republik.

             In den vier Tagen vom 28. bis zum 31. Oktober hatte sich die Auflösung der Habsburgermonarchie vollendet. In diesen vier Tagen war die Armee an der Front zusammengebrochen, hatten sich die neuen nationalen Regierungen im Hinterlande der Regierungsgewalt bemächtigt. Es war eine nationale und eine demokratische Revolution, was sich da vollzog: statt der Dynastie, ihrer ‚übernationalen‘ Bürokratie, Generalität und Diplomatie übernahmen in Deutschösterreich wie in Tschechien, in Galizien wie im südslawischen Gebiet nationale Volksregierungen, aus den Wortführern der Parteien des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zusammengesetzt, die Regierungsgewalt. Aber der Zusammenbruch der alten Mächte entfesselte zugleich auch die bisher von der Gewalt niedergehaltenen Arbeitermassen. In den täglichen stürmischen Soldatendemonstrationen, die in Wien mit der großen Massenkundgebung am 30. Oktober begonnen hatten, kündigte sich an, daß die national-demokratische Revolution zugleich  auch die soziale Revolution weckte, der Übergang der Regierungsgewalt von der Dynastie  auf die Völker zugleich auch den Klassenkampf innerhalb des Volkes, die Verschiebung der Machtverhältnisse  zwischen den Klassen innerhalb der Nation einleitete. Die Entfaltung dieses dreifachen revolutionären Prozesses der demokratischen, der nationalen und der sozialen Revolution ist die Geschichte des entstehenden deutschösterreichischen Staates vom 30. Oktober bis zum 12. November.

             Am 30. Oktober hatte die Provisorische Nationalversammlung den Staatsrat beauftragt, die Regierungsgewalt in Deutschösterreich zu übernehmen, und eine deutschösterreichische Regierung einzusetzen. Deutschösterreich war damit, ebenso wie alle anderen entstehenden Nationalstaaten in diesen Tagen, vor das Problem der Regierungsbildung gestellt. Es handelte sich nicht, wie sonst bei Regierungsbildungen, um den Übergang einer bestehenden Staatsgewalt aus den Händen einer Machtgruppe in die einer anderen, sondern um die Schaffung neuer Staaten, um die Organisierung noch nicht bestehender Staatsgewalten. Die Regierungen, die da gebildet wurden, verfügten zunächst über keinerlei materielle Machtmittel, weder über den Verwaltungsapparat noch über eine Militärmacht; sie konnten sich nur durch ihre moralische Autorität durchsetzen, nur durch ihre moralische Autorität sich die Verwaltungsmaschinerie der zerfallenden Monarchie unterordnen und sich eine nationale Wehrmacht schaffen. Sollte die moralische Autorität der neuen Regierung groß genug sein, diese Aufgabe zu bewältigen, sollte sie sich in der Großstadt wie im Dorfe, in den Industriegebieten wie im Landvolk, in den Ämtern wie in den Kasernen durchsetzen, dann mußten die neuen Regierungen aus Vertrauensmännern aller Volksschichten zusammengesetzt werden. So erklärt es sich, daß die neuen Regierungen in all den neuen Nationalstaaten damals aus den Vertretern aller großen politischen Parteien der sich konstituierenden Nationen zusammengesetzt werden mußten. Daß ‚Bürger,// Bauern und Arbeiter‘ gemeinsam die neue Regierung bilden mußten, war das Schlagwort jener Tage.

             Auch der deutschösterreichische Staat war im Grunde aus einem Contrat social, einem staatsbegründenden Vertrage der durch die politischen Parteien vertretenen Klassen des deutschösterreichischen Volkes hervorgegangen. Die Gesamtheit der deutschösterreichischen Abgeordneten hatte sich auf Grund von Vereinbarungen zwischen den Parteien als Provisorische Nationalversammlung proklamiert. Nur diese Gesamtheit konnte jetzt die Regierungsgewalt übernehmen. Der von der Provisorischen Nationalversammlung nach dem Verhältniswahlrecht gewählte, also aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzte Staatsrat bildete die eigentliche Regierung. Nur als seine Beauftragten übernahmen die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre die Leitung der einzelnen Staatsämter; nicht ihnen, sondern dem Staatsrat selbst teilte die provisorische Verfassung vom 30. Oktober die Verordnungsgewalt zu. Wie der Staatsrat selbst aus allen in der Provisorischen Nationalversammlung vertretenen Parteien zusammengesetzt war, so wurden auch die von ihm bestellten Staatssekretäre allen Parteien entnommen. […] Dr. Karl Renner wurde zum Leiter der Kanzlei des Staatsrates bestellt. Dem christlichsozialen Staatssekretär für Inneres gaben wir Sozialdemokraten Otto Glöckel, dem deutschnationalen Staatssekretär für Heerwesen den Sozialdemokraten Dr. Julius Deutsch als Unterstaatssekretäre bei. Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung. Erst sie machten den Leiter der Staatskanzlei zum Staatskanzler. Erst sie ließen in den beiden wichtigsten Staatsämtern, im Staatsamt des Innern, das über die innere Verwaltung, über Polizei und Gendarmerie verfügte, und im Staatsamt für Heerwesen, das die Demobilisierung zu leiten und eine neue Wehrmacht aufzustellen hatte, die bürgerlichen Staatssekretäre weit hinter die sozialdemokratischen Unterstaatssekretäre zurücktreten. Es war eine Machtverschiebung, die sich durch die Ereignisse selbst vollzog, in der sich der Fortgang der Revolution ausdrückte.

             Aus dem Krieg entstanden, ist die soziale Revolution nicht so sehr von der Fabrik als vielmehr von der Kaserne ausgegangen. Als an der Massenkundgebung des 30. Oktober auch Soldaten und Offiziere in großer Zahl teilnahmen; als an diesem Tage auf den Soldatenklappen die roten, auf den Offizierskappen die schwarzrotgoldenen Kokarden aufzutauchen begannen;// als am Abend des 30. Oktober Soldatenhaufen den Offizieren auf der Straße die Rosetten mit den kaiserlichen Initialen von den Kappen rissen, war es klar, daß die militärische Disziplin in den Wiener Kasernen vollends zusammengebrochen war.  Die furchtbare Allmacht, die die militärische Organisation im Kriege dem Offizierskorps gegeben hatte, schlug mit einem Schlage in völlige Ohnmacht um; vierjährige Unterdrückung der Menschenwürde des Soldaten rächte sich nun in wild aufloderndem Haß des Mannes gegen den Offizier. Wo bisher der stumme Gehorsam gewaltet hatte, setzte nun die elementare, instinktive, anarchische revolutionäre Bewegung ein. Soldatenhaufen, von Heimkehrern aus Rußland geführt, versammelten sich nächst der Roßauer Kaserne und berauschten sich an wilden Reden. Sie versuchten die Bildung einer „Roten Garde“, sie zogen bewaffnet durch die Stadt, sie „expropriierten“ Kraftwagen und „beschlagnahmten“ Lebensmittelvorräte. Die Offiziere selbst wurden von der Bewegung erfaßt, Reserveoffiziere aus den Reihen der Intelligenz beteiligten sich, von der Revolutionsromantik des Bolschewismus mitgerissen, an der Bildung der Roten Garde, während sich deutschnationale Offiziere im Parlamentsgebäude als „Soldatenräte“ auftaten. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten aber packte unwiderstehlicher Drang, nach Hause, zu Weib und Kind zurückzukehren. Die slawischen Soldaten eilten ungeordnet nach Hause, sobald sie von der Bildung der Nationalstaaten in ihrer Heimat erfuhren; ihr Beispiel verbreitete die Desertionsbewegung sofort auch auf die deutschen Soldaten. Niemand tat mehr Dienst, die Kader lichteten sich, die Wachen liefen davon, die wichtigsten Depots und Magazine waren unbewacht. Kriegsverwilderung, Hunger, Verbrechertum nützten diese Selbstauflösung der Garnisonen aus: Plünderungen begannen begannen […] Nur die Aufstellung einer neuen bewaffneten Macht konnte die volle Anarchie verhindern.

             Der Staatsrat versuchte zunächst die Reste der Garnisonen der alten Armee in seinen Dienst zu stellen. Sie wurden auf die provisorische Verfassung beeidigt. Und da die Wiederherstellung der Autorität der Offiziere zunächst aussichtslos erschien, forderte der Staatsrat selbst die Mannschaften auf, Soldatenräte aus ihrer Mitte zu wählen, die Ordnung und Disziplin in den Kasernen herstellen sollten. Aber diese ersten Bemühungen blieben erfolglos. Die Soldaten leisteten den Eid und liefen dennoch auseinander, zu Weib und Kind. Die Reservisten bei den Fahnen zurückzuhalten war unmöglich. Es gab nur einen Ausweg: gegen Sold Freiwillige anzuwerben und aus ihnen eine neue Wehrmacht zu formieren. So ordnete der Staatsrat am 3. November, dem Tage des Abschlusses des// Waffenstillstandes, die Werbung für die Volkswehr an.

In: Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Wien 1923, S. 95-97.