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N.N.: Der Tatlinismus.

Der neueste Kunstwahnsinn.

Daß die russische Kunst unter der Herrschaft des Bolschewismus besonders modern und revolutionär sich entfaltet hat, ist bekannt. Aber die Weiterentwicklung dieses Stils, der für uns im wesentlichen durch den bereits vor dem Krieg aufgetauchten Expressionismus Chagalls und Kandiskys repräsentiert wird, war bisher in Dunkel gehüllt. Nun dringen Nachrichten aus Berichten russischer Reisender und neuesten Moskauer Kunstblättern herüber über die jüngste Bewegung, und Frank Thieß erzählt von dieser neuesten russischen Kunst in der „Freien Deutschen Bühne“. Der Hauptmeister und Mittelpunkt dieser Malerei ist Wladimir Tatlin, der in den ersten Kriegsjahren mit seinen Arbeiten an die Oeffentlichkeit trat. Um ihn hat sich eine große Schule gebildet, die Schule der Tatlinisten, die mit Leidenschaft das neue Evangelium der Schönheit, den Tatlinismus, predigen. Diese „Kunst“, der sich neuerdings auch Dichter und Musiker angeschlossen haben, geht über die Forderungen des Expressionismus weit hinaus und will überhaupt die gesamten Grundlagen aller bisherigen Kunst forträumen. Nach // den Angaben scheint es sich dabei um einen Stil zu handeln, der auch bei uns [] von einigen kühnen Neuerern in der Form der „Merzbilder“ angewendet wird. Der Tatlinismus erklärt nämlich „die souveräne Herrschaft der Objekte, des maschinellen, des Materials“. Das Material, der tote Stoff, welcher unser Leben beherrscht, hat auch die Kunst zu beherrschen. Die Kunst hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dieses Material zu ihrem „Material“ zu machen, muß sich also des Holzes, des Eisens, des Glases, der Schrauben, der elektrischen Drähte und der mathematischen Formeln genau so bedienen, wie sich die Zeit ihrer selbst bedient: Alle Dinge der Außenwelt haben Heimatsrecht in der Kunst, welche dem Geist die Wohnung zu kündigen hat, um die Maschine an seine Stelle zu setzen. Der gegenstandslosen „Kunst“, welche die Tatlinisten höhnisch in Ausführungszeichen setzen, tritt die radikale gegenständliche Maschinenkunst entgegen, die sich aller Dinge zu gleichen Rechten bedient und jedem, auch dem belanglosesten Objekt, gestattet, auf der Bildfläche zu erscheinen. Der Tatlinismus ist der Schrittmacher der „totalen Materialisiertheit“ unseres Lebens und opfert – ähnlich wie die Dadaisten in Deutschland und die Männer um die Zeitschrift „Valori Plastici“ in Italien dem „rational“ meßbaren Ding die „Irrationalität“ des Geistes und der Seele.

In: Neues Wiener Journal, 13.4.1920, S. 4-5.