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Ernst Fischer: Ungeduld der Jugend (1931)

Aus einem demnächst im Verlag Hetz und Komp. erscheinenden Buch „Krise der Jugend“.

             Von Jahr zu Jahr wächst in der Jugend das Gefühl, daß alles Bestehende versagt hat, daß alle Parolen, die man ihr gibt, Betrug und Schwindel sind. Was bis zum Zusammenbruch einer Welt im Trommelfeuer des Krieges, im Giftgasangriff der Massenarbeitslosigkeit, der Massenhoffnungslosigkeit gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Die Jugend hat genug von allen Erklärungen, Versprechungen, Redensarten, sie will, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Das Jugend hat genug von der zögernden Klugheit, von der wartenden Vorsicht, sie ist der Meinung, daß man zu lange gezögert, zu lange gewartet hat, sie will sich nicht länger mit dem tödlichen Stillstand abfinden, den man den Gang der Ereignisse nennt. Und wenn sie sich abfindet, geschieht es um einen übermäßigen Preis: um den Preis aller Ideale, aller Opferfreudigkeit und Zukunftsbereitschaft. Eine Jugend, die revoltiert (gegen alles Bestehende meinetwegen, gegen alle gültigen Weltanschauungen), ist nicht verloren; aber verloren ist eine Jugend, die sich abfindet, verloren für jede Bewegung, die das Neue will. Zehntausende junge Menschen lassen heute die Schultern hängen, die Fahnen fallen, ziehen sich in den Winkel eines fragwürdigen Privatlebens zurück, finden sich ab mit der allgemeinen Erstarrung, die man den Lauf der Dinge nennt. „Alles Bestehende hat versagt, alle Ideen sind zur Phrase, zur unverbindlichen Redewendung geworden!“, das Gefühl zernagt wie Rost die Seelen, entfremdet die junge Generation immer mehr der alten.

             Ist es wahr, daß alle Ideen zur Phrase geworden sind? Hat nicht nur eine ganz bestimmte Ideologie, eine ganz bestimmte Lebenshaltung versagt? Und welche Ideologie, welche Lebenshaltung ist es, die heute durchaus anrüchig, durchaus unglaubwürdig geworden ist?

             Was die Jugend heute klar oder unklar fühlt, ist der Widerwille gegen die Vernünftigkeit, die Wissenschaftlichkeit, den Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts. Was wir heute erleben, ist eine ungeheure Revolte gegen den Nationalismus.

             Dieses neunzehnte Jahrhundert hat sich eingebildet, mit seinen Maschinen und seinen Apparaten, mit seinen wissenschaftlichen Methoden und seinen technischen Konstruktionen, mit seinen immer besseren Instrumenten und immer exakteren Erkenntnissen, mit seiner wachsenden Wirtschaftlichkeit und Vernunft alle Probleme ordentlich lösen und einen dauernden Wohlstand der Menschheit heraufbeschwören zu können. Die Idee des gediegenen und unaufhaltsamen Fortschritts war der Polarstern, an dem sich alle orientierten, die Unternehmer und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Bürger und die Feinde der Bürgerwelt. Man hat diese ganze Welt als eine große Fabrik gesehen, deren Produktivität man durch Investitionen, Verbesserungen und Verbilligungen stetig erhöhen, stetig den Bedürfnissen anpassen kann, man war bestrebt, alles Irrationelle auszuschalten und mit Vernunft und Ruhe jede Stockung und Störung zu überwinden. Ja, die Vernunft war geradezu das Rauschmittel dieses Jahrhunderts: die Technik wurde wie eine Gottheit angebetet, der Wissenschaft traute man Unwahrscheinliches zu, von der Allmacht des Menschengeistes war man überzeugt. Daß Wissen Macht sei, wurde wie ein unumstößliches Dogma gepredigt, daß gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, glaubte man unbedingt, daß die Gesellschaft sich einem dauernden Frieden, Reichtum und Humanitätsideal entgegenentwickelte, war man rückhaltlos überzeugt.

             Dann kam die Katastrophe, triumphierte die Unvernunft des Massenmordes über alle Grundsätze der Vernunft. Und als man einige Jahre später meinte, nach diesem Zwischenspiel fortsetzen zu können, was so schnöd unterbrochen worden war, als man die Vorkriegsideale herausholte, als habe das Blut und Gas der großen Zeit ihnen keinen Schaden zugefügt, siehe, da war alles anders geworden, und was einst überzeugend klang, tönt nun so hohl und gespensterhaft, wie aus Gräbern.

             Der Fortschrittsoptimismus der alten Generation wird von der neuen nicht mehr verstanden. Daß die Welt sich, kraft innerer Gesetzlichkeit, dem Guten und Schönen entgegenentwickle, glaubt die Jugend nicht mehr; daß man diesen Prozeß gewaltsam unterstützen müsse, davon ist sie durchdrungen. Und wenn man ihr erzählt, daß ja doch so manches besser geworden sei, daß es vor dem Krieg die jungen Leute viel schlechter gehabt hätten, oh, dann lächelt diese Jugend scharf und ironisch: Ja, was geht uns das eigentlich an, warum erzählt ihr uns Ammenmärchen aus der Vergangenheit? Wollt ihr uns etwa einreden, unser Leben sei gar nicht so schlimm, wie wir meinen? Wie uns das imponiert, wie uns das überzeugt! Wollt ihr uns etwa zumuten, Dankbarkeit sei unsere Pflicht? Wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; wofür auch? Dafür, daß wir keine Arbeit finden, nirgend hingehören, in der Welt nicht aus und ein wissen? Nein, wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; war ihr damals für uns getan habt, mag ja ganz ordentlich und anständig gewesen sein – aber heute? Was tut ihr heute für uns? Wie sieht diese Welt aus, mit der wir uns abfinden, mit der wir Geduld haben sollen? Begreift ihr denn überhaupt, daß wir nicht so leben können, daß wir verkommen und verkümmern müssen, wenn nicht endlich etwas für uns geschieht? Ihr habt leicht reden; ihr nährt euch von der Vergangenheit, materiell und ideologisch, für uns gibt es keinen Platz in der Welt, und daß es von selbst einmal besser wird, glauben wir nicht.

             Nein, das glaubt die Jugend nicht. Der Zweifel ist ihr Element. Der Zweifel ist gut und produktiv, wenn er zur Waffe wird, die das Bestehende zerstört. Er ist schlecht und verhängnisvoll, wenn er nicht zur Aktion, zum Aufruhr werden kann, wenn er nach innen bohrt und gräbt, ohne nach außen wirken zu dürfen. Dazu aber, zu solchem unproduktivem Zweifel, ist die Jugend verdammt.

             Immer problematischer wird die Technik, die von der alten Generation blindlings vergöttert wurde; daß man über den Ozean fliegt und Riesenluftschiffe baut, gefällt den jungen Menschen gewiß, sie sind entzückt von diesem Heroenmythos der Gegenwart, von diesem Aufschweben, Aufglänzen der Materie. Aber daß man mitten in den Wundern der Technik, in einer elektrisch illuminierten, mit Verkehrsmitteln, Radioapparaten, Telephonen, mit laufenden Bändern und riesigen Panzerkreuzern ausgestatteten Welt verhungert, das erlebt diese Jugend. Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt. Freilich: es ist der Kapitalismus, der die Technik mißbraucht, der die Vernunft in Wahnsinn verwandelt, aber das zu begreifen, ist manchmal nicht leicht und die unmittelbare Reaktion gegen den unerträglichen Zustand ist eine Reaktion gegen den rationalisierten Wirtschaftsapparat, ist ein Gefühl, das dem der Maschinenstürmer ungemein ähnlich ist. Die Maschine, von den einen zum Gott erhoben, wird im Empfinden der andern zum Dämon zum Schicksalsgötzen, der alles zermalmt, den zu preisen der bitterste Hohn gegen seine Opfer, gegen die aus Produktion und Lebensberechtigung ausgeschalteten Proletarier ist. Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns zu dem Fortschritt der Technik, zu dem Rationalisierungsprozeß bekennen? Sollten wir nicht vielmehr dagegen Stellung nehmen, diese Tollheit mit allen Mitteln bekämpfen? Das ist eine Frage, die man immer häufiger hört; aus den Tiefen des Zweifels steigt diese Frage empor, des Zweifels am Wert und Nutzen der Technik.

             Die Tiefe des Zweifels aber ist damit nicht ausgeschöpft; nicht nur an der Technik, an dem ganzen System des Rationalismus, der selbstbewußten und selbstgefälligen Vernünftigkeit, zweifelt die Jugend.

             Daß man mit der Vernunft etwas ausrichten könne, wird ernsthaft in Frage gestellt; ach, die Menschen, die verantwortlich sind für das Schicksal der Völker, diese Staatsmänner und Diplomaten, diese Minister und Parteiführer, diese Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler sind alle bemerkenswert vernünftig, sie wissen viel, sie können alles erklären, mit hundert Argumenten beweisen sie, warum die Dinge so und nicht anders sind, und das Gefühl der Jugend schlagen sie mit der Überlegenheit der Statistik, der Wirtschaftskenntnis und der Geschichtsbetrachtung zu Boden. Schließlich muß der junge Mensch, der kleinlaut vor soviel Gelehrtheit kapituliert, zu der Überzeugung gelangen, es sei das Wesen der Vernunft, klipp und klar darzulegen, daß man um keinen Preis etwas tun dürfe. Ausgezeichnete Theorien, ausgezeichnete Reden, ausgezeichnete Lehrsätze – und das Ergebnis: Nichts. Weiterwursteln. Weiterberaten. Weiterverhandeln. Das ist das Schauspiel, das seit zehn Jahren vor der europäischen Jugend aufgeführt wird; wundert man sich, wenn diese ganze Gescheitheit den jungen Leuten eines Tages zu dumm wird? Wenn ihr Mißtrauen gegen staatsmännische Weisheit und wissenschaftliche Vernunft unüberwindlich wird? Wenn sie sich die Frage vorlegen: Wäre es nicht besser, gar nichts zu wissen, dafür aber kühn und entschlossen vorzugehen? Wundert man sich, wenn diese Frage äußerst gefährliche Formen annimmt? Wenn sie etwa lautet: Kann man überhaupt nach Vernunftgründen leben, handeln, Politik machen? Ist nicht vielmehr der Instinkt, die Gewalt, die Genialität eines Führers entscheidend? Ist der Geist, von dem man quatscht, nicht ein Unfug, kommt es nicht vielmehr auf Blut und Eisen, auf ein großes und wildes Hasardspiel an? Wundert man sich, wenn solche Fragen zu fascistischer Antwort, zu romantischen Aberglauben drängen? Nein, man darf sich nicht wundern, daß die Revolte gegen den Rationalismus losgebrochen ist, daß unzählige junge Menschen entschlossen sind, keinem Argument mehr zu glauben, sondern nur dem Beweis der Kraft, dem Erfolg?

             Hundertfach zeigt sich diese Revolte, diese Sehnsucht nach dem Romantischen, das völlig anders ist als alles Bestehende. Die Alchymie kommt wieder zu Ehren, die mittelalterliche Goldmacherkunst; das Geld ist zum leeren Phantom geworden, her mit dem Zaubergold! Mit rationellen Methoden kommt man nicht zu Geld, helfe daher, was helfen kann, das Wunderrezept, die schwarze Magie. Die Quacksalberei kommt wieder zu Ehren; die medizinische Wissenschaft, die allen zu helfen versprach, wie wenigen hat sie geholfen! Helfe, was helfen kann! Der weiße Käse, der elektrische Zauberstab, der suggestive Zuspruch eines wundertätigen Charlatans, oder irgendein Naturheilverfahren auf eigene Faust, oder die Geheimlehre irgendeiner Sekte! Die Wissenschaft hat enttäuscht, alles ist unsicher geworden, vielleicht geschieht ein Wunder. Es ist eine wachsende Ungeduld zu spüren, niemand will seine Angelegenheiten auf die lange Bank schieben, für das kurze Verfahren, für den radikalen Umschwung ist man privat und öffentlich. Man hat zuviel gewartet, zu lange gewartet in dieser Welt.

In: Arbeiter-Zeitung, 1.5.1931, S. 17.

e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

Ernst Fischer: Theater und Technik

            Es wird im Allgemeinen zu viel von den geistigen, zu wenig von den technischen Bedingungen des Dramas gesprochen. Gewiß: das Drama fordert geistige Haltung, fordert ein Weltgefühl voll Spannung und Konzentration, fordert den Schicksalsglauben in irgendeiner Form; wer in allen Ereignissen nur den Zufall sieht, wer das Leben in ein Durcheinander winzigster Atome auflöst, wer im Einzelfall nicht die allgemein gültige Logik des Lebens entdeckt, ist nicht fähig, ein Drama zu schreiben, ein Drama zu genießen. Aber nicht davon, nicht vom geistigen Prinzip des Dramas, über das schon allzuviel Gutes und Schlechtes, Gescheites und Dummes geschrieben wurde, sondern von anderen, sehr entscheidenden Voraussetzungen soll hier die Rede sein.

            Die Form des Dramas ist nicht nur Ausdruck der Lebensform, sondern auch in hohem Maße Ausdruck der technischen Bühnenmöglichkeiten einer Epoche. Die berühmten ›aristotelischen Einheiten‹, Einheit der Zeit, des Ortes und der Handlung, können zweifellos als Ausdruck einer strengen, aristokratischen Ordnung gewertet werden, aber sie sind auch  bedingt durch den unvollkommenen Theatermechanismus , der einen raschen Wechsel der Szenen nicht gestattet. Überall, in Griechenland wie in Frankreich, sprengte die Ausgestaltung des Bühnenapparates die alte Einheit des Dramas; umgekehrt erlaubte es die Primitivität etwa des elisabethinischen Theaters in England, in dem das szenische Bild nur flüchtig angedeutet wurde, dem Dramatiker, den Schauplatz der Handlung hundertmal zu wechseln. Die tiefen, oft sehr komplizierten, durchaus nicht in eine klare Formel zu fassenden Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Struktur und dem Interesse an technischen Dingen, zwischen der gebundenen Form eines Fürstenhofes, der Metrik und der Tragödie, der freieren eines erwachenden Bürgertumes, der Sprache und des Theaters sollen hier nur erwähnt, nicht ausgeführt werden; es handelt sich nur um die Konstatierung, daß die technischen Möglichkeiten des Theaters die Form des Dramas außerordentlich beeinflussen.

            Diese technischen Möglichkeiten sind heute ungeheuer; der Regisseur ist ein Zauberer, der mehr vermag als alle lebenden Dichter. Im Theater hat die Technik, wie überall, den Geist zurückgelassen, das Lebendige überholt. Der Mensch erlebt zwar von Zeit zu Zeit, was sein Gehirn ersonnen, was seine Hände geformt haben, aber nur selten, in schöpferischen Augenblicken; durchschnittlich haften wir alle gefühlsmäßig noch in Jahrzehnten, die nicht mehr sind, haben wir seelisch noch nicht das Wesen der Zeit erobert. Menschen, deren tägliche Arbeit brennende Gegenwart, Sturm in die Zukunft ist, empfinden in ihrem Privatleben kleinbürgerlich, als säßen sie in der Garten//laube, Organisatoren internationaler Wirtschaft sind in nationalistischen Torheiten stecken geblieben, revolutionäre Arbeiter bejahen den faden Geschmack einer Welt, die sie täglich verneinen. Ähnlich geht es den Dichtern; entweder begreifen sie nicht, daß ihre Phantasie, die Fülle der Geschichte sich so üppig entfalten darf wie nie zuvor, weil die moderne Bühne das alles vergegenständlichen kann, oder sie sind besoffen von den Potenzen des technischen Apparates und lassen sich von der Maschinerie bemeistern, anstatt sie zu meistern.

            Das neue Drama, das den Inhalt der Zeit in neuen Bühnenformen ausdrückt, existiert noch nicht, wohl aber gibt es interessante Experimente, zukunftsatmende Skizzen zu diesem neuen Drama. Charakteristisch ist die Tendenz, alle Einheiten des Dramas aufzulösen, die Handlung durch eine rasche Szenenfolge zu peitschen, Stockungen zu vermeiden, dem Tempo der Ereignisse breite und gründliche Motivierung aufzuopfern; die bis in alle Details durchgeführte naturalistische Dekoration verschwindet vollkommen, der Schauplatz der Handlung wird nur angedeutet, Scheinwerferlicht und technische Konstruktionen ermöglichen einen hastigen, pausenlosen Wechsel der Szenen. Die immer wieder vorgebrachte Behauptung, der Film habe das Drama vergewaltigt, die Konkurrenz mit dem Kino habe die alte Geschlossenheit des Bühnenbildes zerstört, halte ich nicht für richtig: Büchner und Strindberg, die nichts vom Kino wußten, haben die strengen Gebundenheiten nicht weniger kühn gesprengt als die modernsten Dramatiker und die Technik hat unabhängig vom Film das Theater revolutioniert.  Zweifellos bestehen tiefe Zusammenhänge zwischen der Form des Films und der Form des modernen Dramas; aber den Film einfach als Ursache und das Drama als Wirkung zu setzen, ist ganz verfehlt. Beide spiegeln das Wesen der Zeit, beide werden von den gleichen Kräften gespeist, und es wäre sonderbar, würden sie einander nicht ähnlich sein. Wir sind dem Tempo der Technik verfallen, nicht nur symbolisch, sondern auch höchst real; und so gehorcht der Dichter, wenn er bei keiner Szene, bei keiner Situation zu lange verweilt, nicht nur der Unruhe seines Geistes, unseres Geistes, sondern auch den Forderungen des Regisseurs, der den ihm zur Verfügung stehenden Apparat nützen will.

            Aber nicht nur das rasche Nacheinander der Szenen, auch das Nebeneinander verschiedener, sich durchwirrender und durchkreuzender Ereignisse und Schicksale ist typisch für das Theaterstück der Gegenwart. Das entspricht unserem Leben – Wand an Wand, Tür an Tür, Weltanschauung an Weltanschauung, was wissen wir voneinander, wie sonderbar verknüpft uns der Zufall! – das entspricht auch der Möglichkeit, auf der Bühne eine Szene unmittelbar der anderen gegenüberzustellen, die Zeit zum Raume zu wandeln. Der Dramatiker, der mit der Schwerfälligkeit des Bühnenapparates zu rechnen hatte, mußte im Interesse eines reibungslosen Ablaufes die Vielheit des Lebens// kunstvoll der Einheit der Handlung unterordnen: er brauchte daher irgendeinen Haupthelden mit einem Hauptschicksal, und Nebengestalten mit Nebenschicksalen, eine Handlung und eine Reihe von Episoden. Heute aber ist es möglich, die Episode, dieses leidige Beiwerk, zurückzudrängen und in einem Drama mehrere gleichwertige Schicksale, die einander ergänzen und erhellen, zu gestalten. So kann der Dramatiker heut eine ganze Zeit mit all ihren Widersprüchen und all ihren Gegensätzen auf die Bühne stellen, so kann er ein Kollektivschicksal gestalten, ohne daß solch ein Drama als »unaufführbar« von jedem Theaterdirektor abgelehnt werden muß.

            Dazu kommt, daß die moderne Beleuchtungstechnik einen Bühnenraum aufbaut, der von Sekunde zu Sekunde sich wandeln, jeder Szene sich anpassen kann, der nichts mehr mit schwerfälliger und pedantischer Naturalistik zu tun hat, sondern ein magisches Kunstwerk ist. Das ›Milieu‹, in dem nun ein Drama spielt, ist nicht mehr dieser oder jener Winkel der Welt, diese Stube und jener Garten, sondern die Atmosphäre der Zeit mit ihren Maschinen und ihrer Musik, mit ihren Städten und ihren Stürmen, nicht mehr eine bemalte Kulisse, vorgetäuschte Natürlichkeit, sondern der Seelenraum, in dem unser Leben geschieht. So kann man, ganz anders als einst, geschichtliches Ereignis, Krieg und Revolution auf die Bühne beschwören, so kann man, ganz anders als einst, historische Zusammenhänge bildhaft, im Aufblitzen und Verlöschen eines Scheinwerfers darstellen, so kann man etwa Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus aufführen. Und so kann man auch, ganz anders als einst, die Dramen Shakespeares in ihrer Fülle und Üppigkeit, in ihrer hemmungslosen Gewalt und Schönheit spielen.

            Nur einige Möglichkeiten moderner Bühnentechnik sollten hier angedeutet werden; es kann kaum bezweifelt werden, daß diese neuen Formen der Regie neue Formen des Dramas hervorrufen werden. Denn von der Bühne und nicht vom Schreibtisch her ist jedes große Drama gekommen.

In: Kunst und Volk H. 10 (Juni) 1929, S. 293-295

Emo Descovich: Die Technik als Kulturproblem

Kürzlich wurde an dieser Stelle eine Reihe von Schriften besprochen, die über die Beziehungen der Technik zu den anderen Wissenschaften, zum Staat und zu einem großen, augenblicklich in einer welthistorischen Krise befindlichen Volke handeln. („Wege der Technik“, Neue Freie Presse, Nr. 23432). Jede einzelne dieser bemerkenswerten Veröffentlichungen befaßt sich mit einem anderen Thema. Sie alle aber beleuchten wie mit dem Lichtkegel eines Scheinwerfers die Tatsache, daß die Menschheit es noch nicht  verstanden hat, die moderne Technik in den Bau ihrer Gesamtkultur organisch einzufügen, so daß mir „Die Technik als Kulturproblem“ als geeigneter Sammeltitel erschien, weil er das all diesen Broschüren Gemeinsame am besten charakterisiert. Diese Aufschrift prangt nun auf dem Umschlagblatt des tiefdurchdachten Buches von Dr. Josef Popp, das in einem anderen Verlag (Georg D. W. Callwey, München) und zeitlich vor den erwähnten Schriften erschienen ist. Hier wird das Problemhafte der Stellung der Technik in unserer Kultur, dessen der Leser dort erst allmählich inne wird, in den Brennpunkt der Abhandlung gestellt und von den verschiedensten Seiten beleuchtet. Als Lehrer geisteswissenschaftlicher Fächer an der Technischen Hochschule in München, der er seit zwanzig Jahren als ordentlicher Professor angehört, ist der Verfasser nicht selbst Techniker, doch so innig mit der Technik verbunden, daß er einen vorzüglichen Überblick über ihr Wesen besitzt. Er nimmt ihr gegenüber gewissermaßen eine Doppelstellung ein, die ihn befähigt, das Problem von einer hohen Warte aus zu betrachten. Er vermag sich in die Gedankengänge sowohl des Technikers wie des Nichttechnikers einzuleben und infolgedessen eine für beide gleichermaßen verständliche Sprache zu sprechen. Und das ist notwendig. Denn Techniker und Nichttechniker stehen einander in vieler Beziehung völlig verständnislos gegenüber. Das ist wohl auch eine der wichtigsten Ursachen, weshalb die Technik eben noch ein Kulturproblem ist. Der Nichttechniker ist leicht geneigt, technisch Unmögliches für selbstverständlich, technisch Selbstverständliches für unmöglich zu halten. Ihm fehlt das Maß für den Umfang der technischen Wissenschaft, und er ist sich erst recht in unklaren über die verschiedenen Zusammenhänge zwischen Technik und den sonstigen Erscheinungen des Lebens. In diesem letzten Punkte ähnelt er aber dem Techniker selbst. Dieser geht meist so ganz in seinem Sonderfach auf, daß ihm nicht Zeit bleibt oder er sich wenigstens nicht die Muße nimmt, über jene Zusammenhänge ernstlich nachzudenken. So ist für beide die Technik ein Etwas, dessen Platz in der Gesamtkultur nicht feststeht. Soll aber jener Zustand nicht eintreten, der in der Versklavung der Menschheit durch die Technik bestehen würde, müssen alle Menschen zur Technik eine andere Stellung einnehmen als bisher. Die einen müssen wenigstens ihr Wesen kennenzulernen trachten, die anderen sich nicht ausschließlich mit ihr befassen, sondern Fühlung nehmen mit den Gedankengängen der Nichttechniker. Hier dem studierenden Techniker und Nichttechniker, aber auch dem Lehrer und jedem Gebildeten ein Führer zu sein, ist der Zweck des Buches, den es in hohem Maße zu erfüllen scheint. Mit unerbittlicher Klarheit wird das Für und Wider verschiedener mit der Technik im Zusammenhang stehender Erscheinungen erörtert. Die Art, in der es geschieht, hält den Leser in ununterbrochener Spannung wie ein guter Roman. Geradezu dramatisch wirken einzelne Stellen und es ist ja auch ein dramatischer Stoff, der hier behandelt wird. Betrifft er doch das größte Kulturproblem der Gegenwart und nahen Zukunft, dessen baldige Lösung im höchsten Interesse der Gesamtmenschheit gelegen ist.

In: Neue Freie Presse, 1.2.1930, S. 10

Felix Salten: Motordefekt

            Neulich fuhr jemand, den ich kenne, in einer Autodroschke nach Hause und hatte dann mit dem Chauffeur ein kurzes, aber bezeichnendes Gespräch. Eigentlich darf sich dieser Jemand das Autofahren ja nicht erlauben. Allein er kann dem Leichtsinn nun einmal nicht lassen, er denkt zu oft: was soll das schlechte Leben nützen? er wohnt außerdem in einer entlegenen Gegend, und so erlaubt er sich trotzdem immer wieder, was ihm die ernste Ueberlegung, die er nicht hat, und die Einnahmen, die er gleichfalls nicht hat, verbieten müßten. Es war Nacht. Der Wagen vollführte seltsame Hopser, geriet etliche Male, wenn er um die Ecke biegen wollte, mit den Rädern auf den Bürgersteig, drohte jeden Augenblick stehen zu bleiben, ruckte und stieß wieder vorwärts; kurz, es war alles, was man will, nur kein Vergnügen.

            Am Ziel erkundigte sich mein Jemand, ob der Motor defekt sei. „Oh nein,“ kam die Antwort, „dem Motor fehlt einstweilen noch gar nichts. Defekt bin bloß ich. Wir werden ja sehen, wie lange der Motor mich aushält..“ Das klang anders als der hemdärmelige Dialekt, den man sonst bei solchen Gelegenheiten hört. Es war die Sprache eines gebildeten Menschen. Der Fahrgast stand verwirrt und sagte: „Komisch.“ Doch er wurde belehrt. „Was wollen Sie, mein Herr,“ sprach der Autolenker resigniert, „das ganze Leben ist komisch. Ich bin erst drei Wochen Chauffeur. Und diesen Wagen da habe ich heute nacht zum erstenmal. Da weiß ich noch nicht recht Bescheid damit. Tja,“ setzte er hinzu und hatte offenbar das Bedürfnis, sich mitzuteilen, „ich fahr‘ immer in der Nacht. Bei Tag schähm‘ ich mich. Denn ich bin akademischer Maler!“

            Was muß dieser Mann für Entbehrungen durchgemacht, wie viel Kummer, welche Fehlschläge mag er gehabt, wie viel teure Illusionen mag er bestattet haben, ehe er den tapferen Entschluß faßte, Chauffeur zu werden, um das tägliche Brot zu verdienen. Nicht alle Künstler sind so resolut, wie dieser Mann, der es vorzieht, sich des Nachts mit einem Motor herumzuschlagen, statt Leinwand um Leinwand zu bepinseln, die keiner kauft. Nicht alle Künstler, die hungern, geben so entschieden einen Beruf auf, den sie einst hoffnungsvoll, schaffensfreudig, begeistert und opfermutig erwählten. Nicht alle können das. Viele sind zu alt, viele sind zu zart, viele glauben zu fest an sich und ihre Erdensendung. Und viele sagen sich, daß die Konkurrenz in allen anderen Erwerbszweigen, die ihnen außerdem fremd sein müßten, ohnehin schwer auszuhalten wäre; daß die allgemeine Arbeitslosigkeit es aussichtslos scheinen lasse, irgendein Plätzchen, und sei es das bescheidenste, zu erobern. Aber allen Künstlern geht es furchtbar. Den berühmten wird es hart genug, sich zu halten. Die Namenlosen hungern. Sie hungern ohne Unterschied des Talents. Die Fähigen genau so wie die Nichtskönner. Die Hypermodernen ebenso wie die zu Kompromissen Erbötigen. Die Maler, die Zeichner, die Bildhauer, besonders die Bildhauer hungern. Es ist ein Jammer.

            Manchmal schreibt einer von ihnen dem Unterrichtsminister einen offenen Brief. Dann richtet ein anderer wieder ein offenes Sendschreiben an den Finanzminister. Dann wenden sie sich an die Stadt Wien. Oder sie erlassen einen Aufruf. Lauter Notschreie, lauter Hilferufe. Sie verhallen auch nicht ungehört. Jeder ist erschüttert. Aber die Not besteht fort, weil die Hilfe ungenügend ist. Sie kann wohl auch kaum ausreichen, diese Hilfe. Denn der österreichische Staat ist klein und arm. Außerdem wird es niemals ganz gelingen, Künstlern zu helfen, denen geholfen werden soll.

            Als während des Krieges die Kunstfürsorge gegründet wurde, flüsterten erfahrene Männer einander zu, dieses gutgemeinte Unternehmen werde mehr Schaden anrichten, als Nutzen schaffen. Flüsterten. Denn damals konnte man Wahrheiten nicht laut aussprechen. Auch heute noch ist es, wie übrigens immer, eine riskante Sache um solche Wahrheiten. Die Meinung, die damals im Flüstertone umging, war, man werde Unterstützung niemandem verweigern können, auch jenen nicht, die schon in Friedenstagen durch ihre Talentlosigkeit zum Darben verurteilt blieben. Die Unterstützung jedoch hindere die Unfähigen an der Selbsterkenntnis, halte sie auf immer fest in dem Künstlerberuf, der für sie doch verfehlt sei, legitimiere sie fälschlich darin. Zeitlebens würden sich diese Unzulänglichen als Vollwertige fühlen, würden sich und anderen zeitlebens beweisen, daß sie echte Künstler sind, denn sie haben ja doch den Beistand der Kunstfürsorge gefunden. Der beste, der unwiederbringlich geeignete Moment, so hieß es, eine Zwangsauslese unter den viel zu vielen Malern und Bildhauern herbeizuführen und den Beruf von hoffnungslosen Mitläufern zu entlasten, dieser erziehlich kostbare Moment werde durch die Kunstfürsorge versäumt und vereitelt. Mag sein, daß es mit diesen Bedenken soweit seine Richtigkeit hat. Möglicherweise hätte der oder jener den Pinsel, ein anderer das Modellierholz weggelegt, um zum eigenen Heil ein nützliches Gewerbe zu ergreifen. Ich glaube nicht daran.

            Diese Wahrheit existiert im Grunde doch nur als eine theoretische. In die Praxis wäre sie kaum umzusetzen gewesen. Nur vereinzelte Fälle, wenn sie sich ereigneten, könnten uns als Ausnahmen gelten, durch welche die Regel bestätigt wird. Denn niemand glaubt so fest, so eigensinnig, so unbelehrbar an sein Talent, wie der Talentlose. Kein Meister hat die ruhige Selbstsicherheit, die dem Dilettanten verliehen ist. Weit eher lässt sich ein Kaukasier einreden, er sei ein Kongoneger, als ein Nichtskönner zu überzeugen wäre, daß er nichts kann. Es ist leicht, ein Genie in seinem Selbstvertrauen zu erschüttern, ihm sein Schaffen zu verleiden, aber es bleibt ganz unmöglich einen Stümper in der Freude am eigenen Ich zu stören, ihm die Arbeitslust auch nur für eine Stunde zu trüben. Diese Euphorie hat die Natur ihren Stiefkindern des Geistes nun einmal geschenkt und man muß sich damit abfinden. Es handelt sich auch gar nicht um diese armen Teufel, so peinlich es sein mag, daß auch sie sich an die Schüssel drängen und mitzuessen begehren. Das Traurige, das Wichtige an diesen traurigen Zuständen: die Schüssel ist leer. Leer selbst für die Besten.

            Nicht bloß den heutigen Künstlern geht es schlecht. Der Kunst selber ergeht es heute so übel wie niemals vorher. Daß die Künstler jetzt so hart um das bißchen Dasein ringen müssen, liegt nur zum geringen Teil an den flauen wirtschaftlichen Verhältnissen. Niemand hat Geld. Das stimmt freilich. Aber es ist, andererseits und zum Donnerwetter, doch wieder nicht so ganz richtig. Die Leute haben Geld für alles, was sie erheitert, was sie aufregt, was ihnen gespanntes Interesse abgewinnt, was sie überrascht, verblüfft oder sie als ein Wunder erhebt. Die wirtschaftlichen Zustände sind niederträchtig. Die Geschäfte gehen erbärmlich. Die Verarmung steigt. Wahr! wahr! Dennoch bleibt es ebenso wahr, daß die Theater nie dagewesene Serienerfolge hatten, wenn sie nur das rechte Stück aufführten. Die Kinos werden gestürmt, wenn ein guter Film zu sehen ist. Ein Fußballmatch bringt an einem einzigen Nachmittag mehr Einnahmen als ein täglich ausverkauftes Theater in einer Woche. Und beim Derby gibt es am Totalisateur einen Milliardenumsatz. In dieser angeblich ruinierten Stadt wächst die Anzahl der Automobile binnen zwei kurzen Jahren um zehntausend, gar nicht zu reden von den fahrenden Kochtöpfen, den Motorrädern, die sich wie die Feldmäuse vermehren. Die Kunst aber geht vergebens nach Brot! Sie schreit, sie bittet, sie jammert nach Brot. Und niemand findet sich, der ihr ein Stückchen darreicht.

            So wenig Sinn für die Kunst wie heute scheint es noch nie zuvor gegeben zu haben. Es ist ja schon nicht viel Sinn für die Dichtung vorhanden und nicht übermäßig viel für Musik. Was der Dichtung an Aufmerksamkeit gewidmet war, haben die Sketches, die Revuen weggenommen. Und die Filme. Was der Musik geblieben ist, haben die Jazzorchester verschlungen. Selbst der Film muß sich zur Wehr setzen. Schon früher hat sich im Kino kein Mensch um den Autor eines Films gekümmert. Nur um die Filmstars, um die weiblichen und männlichen, ging der Wettlauf aller Huldigungen. Jetzt aber beginnen Filme zu erscheinen, in denen die Einzelpersönlichkeit ausgelöscht ist, wie der „Panzerkreuzer Potemkin“, und sie zeigen Meisterleistungen von einer neuen, atemraubenden Art. Es kommen Filme, in denen überhaupt kein Mensch mehr auftritt. Nur Tiere sieht man und ist hingerissen. „Das Blumenwunder“, das in der „Urania“ gezeigt wird, bringt nur Blumen, kein einziges Tier. Und die Menschen, die ab und zu darin auftauchen, stören bloß, gehören nicht dazu, verderben den ungeheueren Eindruck, indem sie ihn banalisieren und in Kitsch verwandeln. Eine neue, ungeahnte, an ergreifenden, spannenden, erhabenen Momenten überreichte Welt öffnet sich da unseren Blicken. Eine Welt, die ganz unverbraucht ist. Geheimnisse, die wir nur ahnten, bieten sich entschleiert dar. Wie mächtig ist die Wirkung, die ein Tier ausübt. Jeder Schmetterling, der aus der Puppe bricht und seine Flügel breitet, jede kleine Schlange, die aus dem Ei schlüpft, spielt Jannings und Henny Porten und Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin an die Wand. Mächtiger noch sind die Blumen, die wir nun blühen, ist das Gras, das wir jetzt wachsen sehen. Eine Schlingpflanze, die in der Luft nach Halt tastet, Fliederdolden, die sich prangend erschließen, Zyklamen, die ihre Knospen öffnen und ihre Blütenblätter zurückschlagen, Kakteen, die ihre blühenden Triebe emporjagen und welkend niedersinken lassen, Sonnenblumen, die sich strahlend auftun, dazu das rhythmische Atmen der Blätter, der Sträucher und Gräser,.. keine Tragödie kann diese Kraft des Eindrucks erreichen, kein Bildwerk dies Entzücken und diese Nachdenklichkeit geben. Der Photographie, der es ja schon gelungen ist, Hunderte von Aufnahmen in der Sekunde zu machen und die rasend schnellsten Begebnisse des Daseins in beschauliche Sichtbarkeit zu zerlegen, der Photographie glückte es hier, die Bewegung von vier, von acht Stunden in eine Sekunde der ### zu pressen. Damit hat sie das Leben, das Wachsen, das Werden, beinahe könnte man sagen, das Bewußtsein der ganzen Pflanzenwelt für unser Auge sichtbar, für unsere Seele begreiflich werden lassen.

            Die photographische Technik ist den bildenden Künsten nicht hold. Der Kampf begann, da vor mehr als dreißig Jahren die Kodak-Kamera über die ganze Welt verbreitet wurde. Damals mußten in den illustrierten Blättern die Spezialzeichner der Momentaufnahme weichen und sehr viele, sehr begabte Künstler wurden brotlos. Der Projektionsapparat wird manchen Maler aus den Theatern vertreiben. Und die neuen Errungenschaften der Photographie scheinen eine Epoche einzuleiten, in der die Malerei noch weniger Boden haben wird als bisher. Aber es ist ja nicht die Photographie allein, von der die bildenden Künstler verdrängt werden.

            Alle Kunst ist seit zehn Jahren durch die Wirklichkeit übertroffen, überholt, übertrumpft. Alle Kunst ist seit zehn Jahren von der Wirklichkeit glatt an die Wand gespielt worden. Die Wirklichkeit hat Ereignisse gebracht, Tragödien, Grotesken, Dramen zum Schluchzen und Lustspiele zum Wälzen,.. kein Künstler mag bessere ersinnen. Die Wirklichkeit hat Gestalten erschaffen, Helden und Dulder, Hanswurste und Schurken, wie sie niemals die Phantasie eines Dichters, Malers oder Bildhauers gebar. Während dieses selben Dezenniums hat die Technik Märchen in reales Leben verwandelt, hat nie Geträumtes plötzlich fertig vor die überwältigte Menschheit hingepflanzt. Was man vor drei Tagen noch nicht zu denken wagte, was man ehegestern für unmöglich hielt, gestern noch verlachte, ist heute wirklich und wahrhaft geworden und gehört morgen schon zum selbstverständlichen Alltag. Der Rekord ist das Zeichen und die Parole dieser Gegenwart. Die Höchstleistung allein gilt im orkanartigen Vorwärtsstürzen dieser Welt. Wenn in den Zeiten so vieler Wunder der Ereignisse, der Technik, der Wissenschaft die bildende Kunst zurückstehen muß, ist das eine natürliche Folge und kann nicht wundernehmen.

            Die bildenden Künste sind nicht bloß an die Wand gespielt wie die Dichtung und die Musik, sie sind nicht bloß zurückgedrängt wie alle Kunst überhaupt, vom Sturm der Ereignisse und vom Sturmschritt der Technik. Wie jede höchste Betätigung der menschlichen Seele, sind die bildenden Künste, inmitten dieser zertrümmerten, dieser jung erstehenden Welt zertrümmert und werden langsam wie die junge Welt neu entstehen. Keine Kunst, also auch keine bildende, hat die Geschehnisse der letzten Dezenniums bewältigt, verarbeitet, gemeistert und ein Werk geschaffen, das etwas Endgültiges, etwas Gipfelhaftes bedeuten und darin diese Fülle an Geschehen über sich selbst hinaus erhoben würde.

            Doch die Künstler wollen leben. Und es ist wichtig, daß sie leben, daß sie arbeiten, daß sie hoffen können, streben, wirken. Es ist eine Schande, daß sie hungern! Und es ist ein furchtbarer Schaden. Nicht nur für sie, für die unmittelbar Betroffenen. Für die ganze ethische und kulturelle Verfassung eines Volkes. Man kann unmöglich mit allen Organen des Volkes, mit allen Berufen, die es gibt, in der Gegenwart und in der Zukunft leben, indessen gerade diejenigen, die das Herz er Nation darstellen, die Künstler, verelenden, verhungern und absterben. Eines Tages wird man verstehen und erkennen, daß man nur Fußballer hat, die ein Jahr lang berühmt waren, nur Schnelläufer, Skifahrer oder Wettschwimmer, denen die Popularität einer Saison zuteil wurde, daß man aber ganz arm, bettelarm an geistiger Leistung geworden ist. Unsere Bauten von heute verlangen nicht mehr den Schmuck gemeißelter oder in Bronze gegossenen Figuren. Aber Parks und Plätze, Gärten und Zimmer können Brunnen gebrauchen, Denksäulen, Statuen und Büsten. Man könnte die Freskomalerei wieder beleben, nicht in fürstlicher Großartigkeit, doch in bescheidenen, erschwinglichen Dimensionen. Geschäftsbilder wären zu malen, Sportplatzbilder. Unendlich viel ließe sich tun. Man soll wenigstens etwas beginnen, ehe die zahlreichen Talente, die in unserer Mitte leben, kaput gehen. Vielleicht könnte die Regierung so etwas wie die Initiative ergreifen. Sie hat neben manchen weniger begabten noch viele tüchtige Beamte. Sie kann Künstlerhilfstage veranstalten. Es ist keine Schande, wenn an einem Tag im Jahr in allen Städten, auf allen Straßen für die Kunst gesammelt wird. Schlimmer, wenn jeden Tag die Künstler Hunger leiden. Sie kann die Fußballer veranlassen, ein Match im Jahr für die Künstler zu spielen. Das wäre eine ausgiebige Hilfe. Alles muß geschehen, um zu verhüten, daß die Zukunft eines als Anklägerin dieser Gegenwart sich erhebt.

In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 1-3.