Arnold Höllriegel: Metaphysik der Roulette.

             Das feine Klirren gemünzten Goldes ist in meinen Erinnerungsträumen nicht zu trennen vom Bilde Monte Carlos. In den gedämpften Glanz dieser fast feierlichen  und erhabenen Säle eintretend, hörte man sonst, durch das ganz leise Raumen der Menge hindurch, über dem Pianissimo geflüsterter Leidenschaft dieses Klingling der Schwarzen Messe, diesen goldenen Oberton. Er sickerte durch  die marmorne Vorhalle, hinein in den unfaßbar prunkvollen Raum der Oper, vermischte sich mit den Furiosen Verdis oder den Gralsglocken des Parzival; rann, ein goldener Wasserfall, über die Parkwege der unvergleichlichen Palmenterrassen, klingelte noch in den teppichbelegten Korridoren des davoneilenden Luxuszugs.

             Um nichts hat sich der äußere Glanz Monte Carlos vermindert seit jenem unvergeßlichen letzten Rivierawinter vor dem Krieg und der Trübsal, aber diese seine goldene Begleitmusik ist fort, und ein Klappern von Bein und Blech geht durch die Säle. Man spielt nicht mehr mit goldenen Louisdoren, mit Sovereigns, mit den riesigen opulenten Plaques, nur noch mit weißen, roten und blechernen Spielmarken. Man kann, glaubt es, auch so sein Geld verlieren, aber von dem Reiz und Zauber ist etwas dahin. Früher sah man das Gold, das man nicht gewann.

                                                                                 *

             Monte Carlo, in Zeiten da alle Welt an der Börse spielt, hat ohne Zweifel etwas von seinem romantischen Reiz verloren. Früher leget man auf den Trente-et-Quarante-Tisch goldene Napoleons, heute rote Beinknöpfe, die zwanzig Papierfranken bedeuten, und entschieden weniger davon. Wer große Summen einzusetzen hat, weiß sich bessere Spiele. Noch hat das blecherne Zeitalter die luxuriöse Schönheit des Milieus nicht geschädigt; das Bild dieser domgleichen Prunkgebäude, dieser Gärten, dieser schätzereichen Geschäfte ist berauschend, ist überwältigend wie zuvor. Der Kasinoplatz, von den Tischen des Café de Paris aus gesehen, mit seinen wie aus der Wunderlampe gezauberten Wohnpalästen, mit der faszinierenden Buntheit der eleganten Menge, der Schönheit der Frauen, dem Glanz der Toiletten, das alles ist, wie es war: Kingsors Zaubergarten, von gefährlichen Blumen voll, Satans irdisches Paradies – – Innen im Spielsaal sieht man Unterschiede. Irre ich mich, oder fehlen sie wirklich ganz, die jungen und energischen Abenteurer, die desperaten, bösen und charaktervollen Goldgräber des Spielsaals, spielen sie anderswo, in den nüchternen Börsen, fern von der Verlockung des Weibes, in den großen winterlichen Städten ohne Sonne? Um die großen grünen Tische von Monte Carlo sehe ich in diesem beginnenden Jahr 1924 alternde Menschen sitzen, die nicht mehr ganz in diese Zeit passen; gewiß ein paar schöne Kokotten auch, und junge Leute, die vor dem Shimmy-Tanzen aus Spaß ein wenig setzen. Aber, kein Zweifel, nicht die goldenen Träume der Jugend herrschen hier mehr vor, ihre pittoresken Laster, ihre stürmischen Wonnen und tragischen Verzweiflungen. Monte Carlo, so wie ich es heute sehe, scheint mir ein Ort des törichten und des weisen Alters, der großen Brillen, der gelichteten Scheitel. Unglaublich, wie viele dekorative Großmütter um den Roulettetisch sitzen, auf dem es klappert wie von Totengebein!

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             Vielleicht gebührt ihnen der Ort von Rechts wegen, den Alternden. Weswegen spielt man in Monte Carlo? Um Geld zu gewinnen? Welcher Irrwahn, tausendmal entlarvt! Man spielt aus Religiosität. Die Roulette ist keine finanzielle, sie ist eine metaphysische Angelegenheit. Wohl steht das den Alternden an.

             Wenn ich eine Opfergabe auf diesen schwarzen und roten Altar lege, der der Altar Satans wäre, wäre Satan nicht eine bloße Maske Gottes – will ich etwas anderes, als der frömmste Beter in der heiligsten Kathedrale, Erhörung meines Flehens, vervielfältigten Segen für mein in Andacht  Dargebrachtes? Ich nehme mein Scherflein, mein Ganzopfer, lege es unter den vorgeschriebenen Riten auf Rot oder à cheval zwischen die Nummern neunzehn und zwanzig – weswegen? Weil ich, fromm in meine Seele hineinhorchend, eine innere Stimme zu hören glaubte, die mir sagt: rot! Ich zweifle nicht, und niemand, der in Monte Carlo war, zweifelt daran, daß diese Stimme in jedem Spieler spricht, und daß sie die Wahrheit sagt, nur, daß leider niemand imstande ist, diese Stimme von zehn anderen Stimmen zu unterscheiden, Stimmen der Eitelkeiten, die zugleich zu schreien beginnen. Ein heiliger Büßer, der es gelernt hätte, seinen Nabel anzustarren und sich auf seine Innerlichkeit zu konzentrieren, ein abgeklärter Philosoph, der sich selbst kennte, sie müßten, mir ist das gewiß, in Monte Carlo jede Nummer erraten, bevor sie für immer zersprungen wäre.

             Aber kommen denn solche Leute nach Monte Carlo spielen?

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             Ich sage das, weil ich die Welt des Scheins längst als eine Roulettescheibe erkannt habe, auf der die Erdkugel rotiert. Was ist das, diese Zukunft, in der entweder Schwarz oder Rot kommen wird? Ist sie nicht schon gegenwärtig in unserer Seele, nur daß wir nicht gut und weise genug sind, es zu wissen?

             Oft und oft weiß ich, welche Nummer kommen wird. Es ist keine Einbildung, kein Schwindel. Leider tritt das Phänomen nur immer dann ein, wenn ich nicht gesetzt habe.

             Ich glaube, im Grunde mögen die Spieler in Monte Carlo gar nicht Franken gewinnen. Sie schämen sich zu sagen, daß sie eigentlich die Stimmen ihres Inneren bestätigt finden möchten. Wie hätte ich sonst hier einmal Viktor Adler gefunden, und gestern John Meynard Keynes?

                                                                                 *

             Die brutalen Geldverdiener sind dar nicht einmal mehr in Monte. Weise Mütter und ernste Väter sehe ich das Orakel befragen. Übrigens auch unernste Väter und törichte Mütter. Seht sie, wenn sie abgekämpft und müde sind, im pururverhangenen Lesesaal die tödlich seriöse Revue des deux Mondes lesen!

             Die Zeit ist nahe, da dieses frivole Monte Carlo an der Philosophie zugrunde geht. Eine Versammlung von Ödipussen, die alle Rätsel der Roulette erraten, wird die Bank des Monsieur Blanc sprengen. Der Herr Professor Einstein, wenn er einmal Zeit für Monte findet, wird die Relativität der rotierenden Scheibe enträtseln und den Fürsten von Monako um seine schöne Rente bringen. Schon hört man in den Sälen nicht das frivole Geld des Trugs rieseln, man hört es klappern, das trockene Gebein.

                                                                                 *

             Nur weil es unter so vielen Philosophen doch auch einige Narren gibt, steigen vorläufig die Aktien der Spielbankgesellschaft noch ein wenig.

In: Der Tag, 10.1.1924, S. 3.

Hans Flesch-Brunningen: Schmelz der Jugend

Arme, verirrte Jugend, deren Füße in den schweren Reiterstiefeln vergangener Konventionen stecken, deren Hände den staubigen Pallasch der Tradition führen, deren Augen nicht mehr die blauende Kraft des Himmelsgewölbes sehen können; arme, verirrte Jugend, dir weihe ich mein Lied! Du bist nicht mehr der Kern der Welt, die köstliche Nuß in der unscheinbaren Schale, du Stoßtruppe der Schönheit und des Geistes. Du bist verloren gegangen, dein Blut ist in Galizien und Tirol, in Flandern und am Piave umsonst vergossen worden, du bist versprengt, der Rest ist Trübsal und Verwirrung. Was weißt du von dir selbst? Dein Blick ist verhängt, auf deinem Herzen liegt Asche. Du gröhlst bei Boxmatschs, du randalierst auf der Universitätsrampe, du belferst durch den Börsensaal. Aber ich kenne dich. Du wirst aus deiner Verwirrung zurückfinden, heimfinden in die Gefilde deiner unbeschwerten Fröhlichkeit, denn dein Schmelz ist ewig. Arme, verirrte Jugend, ich liebe dich.

Ich liebe dich, weil du der Aufgang bist. „Ex oriente lux“, sprach der Herr der Heerscharen und der jugendliche Jesus saß im Tempel und lehrte und bezauberte die alten Schriftgelehrten. Das klare Auge des Knaben wußte schon damals um alle Welt und alle ihre Leiden. Das Dasein hat sich nur im Aufgang und im Niedergang zu bejahen, das wußte er; der Rest, das Mittelstück, ist Bosheit. Der Tod und die Jugend waren Erlösung, Golgatha und Bethlehem. Die Ankunft und der Abschied bestimmen den Sinn der Reise, zwischen beiden besichtigen wir Museen, treffen Menschen, grüßen und küssen und schleichen schläfrig durch die Gassen. Wenn aber die Züge in die Halle rollen, dann freuen wir uns. Denn das Neue siegt. Und so müßten wir sein, um den Schaum des Lebens abzuschöpfen: stets neu, stets neu-gierig, novarum rerum cupidi, Revolutionäre aus Prinzip.

Und da erinnere ich mich des italienischen Kommunistenliedes. Es beginnt mit den Worten: „La bandiera rossa trionferà“ In diesem letzten Wort „trionferà“ liegt aller Jubel und alle Sieghaftigkeit einer Jugend, die vielleicht längst untergegangen ist. Nur Italien, dieses unserer Sehnsucht Kind, ist noch jung. Unter seinem Himmel gedeiht noch die große gedankenlose Sorglosigkeit, die Hingabe, die Begeisterung um jeden Preis, der Jubel zur bandiera rossa und zu Mussolini, der charakterlose, wunderbare Jubel. Unter seinem Himmel, mitten im göttlichen Florenz, steht auch noch jenes Abbild körperlicher Jugend, das mir immer als die vollendete Gestaltung aller ihrer Kräfte erschienen ist: der Perseus von Benvenuto Cellini in der Loggia dei Lanzi. Wie spielerisch sitzt der Fuß auf dem Haupte, wie kokett wird der Medusenkopf dem Publikum präsentiert, wie kühn und krumm liegt das Schwert in seiner Hand! Und wie herrlich geschwungen dieser Leib, wie eine junge Gerte, nicht Frau und nicht Mann, Vollkommenheit, weil sie Jugend ist und nichts sonst.

Ihr alten Weiblein, ihr würdigen Bärte der alten Herren, die ihr da vorübergeht, wollt ihr nicht freiwillig zurücktreten vor diesem Standbild? Ihr habt wahrlich schon Schaden genug angerichtet mit eurem Beispiel und eurem Gerede! Aus den Blumen auf dem Felde wolltet ihr den Strauß Staat binden, aus diesen Bergbächen das Reservoir der Gesellschaft. Es ist euch fast geglückt. Eure Unehrlichkeit hat euch geholfen, ihr habt den Jungen einen blauen Dunst vorgemacht, ihr habt ihnen ihr eigenes Pathos in die Ohren geblasen und sie damit berauscht. Verlogen! Sokrates führte die Erziehung des göttlichen Jünglings Alkibiades, aber er hatte ihn wenigstens nur für seine eigensten Spiele mißbraucht, für Weisheit und Erkenntnistheorie, für Dialog und Symposion, er hat ihn keineswegs an dem Knochengerippe fremder Ideologien erkalten lassen: dieser große Jugendverführer zog den Jüngling an sein Herz und entfachte seine alte Glut an der des Jungen. Und Alkibiades ging hin, unversehrt, und stürzte alle Hermessäulen in Athen von ihren Postamenten, denn keine Idee hatte seine sorglose Seele lähmen und vergiften können, und er starb lachend in einem brennenden Haus, das Alter ließ er gar nicht zu sich herein.

Welche Bewegung nur in diesen jungen Menschen von dazumal. Sie haben noch alle den Trieb, den kreiselnden, kreisenden Trieb unseres Planeten in sich den Blutumlauf, den rapiden Pulsschlag der Mutter Erde, das saust und braust noch in ihnen weiter, wie das siedende Wasser im Kochtopf, wenn man ihn schon längst von der Flamme entfernt hat. Das überzieht noch ihre Augen mit jenem feuchten saftigen Glanz, den die jungen Blätter an sich haben, wenn sie sich über Nacht entfalteten. Du glaubst, daß dieser Blick süß schmecken müßte, wenn du es wagtest, ihn mit deiner Zunge zu verkosten. Aber du wagst es nicht. Denn die Rührung in deinem Herzen ist zu groß. Gedenke ihrer doch, wie du die vielen Kinderbilder deiner Freunde und Feinde sahst, die Bilder im kurzen Rock, die Bilder mit den offenen Haaren, mit den Matrosenkleidern und runden Kinderfingern, die Bilder der Börsendisponenten und Primadonnen und Gattinnen von Rechtsanwälten, die sie heute sind! Sie haben dich mehr bezaubert, da sie durch deine Träume zogen, heraustretend aus dem Oval dieser lächerlichen, vergilbten Photographien.

Das sollte alles nicht mehr sein? Unwiederbringlich verloren? Erstarrt in Doktrinen, falsch abgelenkt in die scheußlichen Kanäle der reglementierten Begeisterung, verwandelt in die Muskelhypertrophie Fischeras und Carpentiers? O arme, verirrte Jugend, wo ist deine Leidenschaft, wo ist der Schwung der Fußgelenke, das Sprühen deiner Augen? Fort, für immer fort?

Sie müssen noch leben! Denn wie lange ist es denn her, da schwang noch ein junges Genie mit brausender Pose die Fahne eines Regimentes über die Brücke von Lodi, tausend Kugeln unnötig ausgesetzt, heroisch aus reiner Lust, wie lange ist es denn her, da galoppierte noch Gott-Goethe ohne Mantel und ohne Hut durch Gewitterschauer zu seiner Geliebten, um einen Kuß seine Karriere in den Olymp opfernd, wie lange ist es denn schließlich her, da mutige Jünglinge in der Stickhauchluft der Münchner Katakombenkeller ausriefen, sinnlos, aber pathetisch: „Wir haben vier Jahre für den Krieg gehungert, wir sollen keinen Monat hungern für die Freiheit?“ Wie lange ist es her, daß wir diese Freiheit empfanden, diese leichte Sorglosigkeit, diesen Geigenton? Wie lange ist es denn her, da schwebten noch unbeschwert die Schwestern Wiesenthal, Wiens unsterbliche Seele, durch den Raum des Apollo-Theaters zum Donauwellenwalzer, und wir wußten, daß wir gefeit waren gegen die Flottendemonstrationen von Agadir und gegen den Tango der Seelen? Hat alles abgewirtschaftet? Hat bloß ein Weltkrieg und eine Börsenbewegung endgültig der ewigen Jugend die Flügel gestutzt?

Nein!! Ich raste am Waldesrand, der sonst so scheußliche Frühling dieses Jahres hat sich für Stunden erweichen lassen, die Sonne liegt mir auf dem Gesicht. Ich denke an das Mädchen meiner Liebe. Ich sehe mit geschlossenen Augen den schwarzen Blick dieses Mädchens, wenn er in Unmut und Zorn und Leidenschaft finster aufleuchtet, ich höre den heißen und harten Ton ihrer kleinen Stimme in meinem Ohr, ich sehe sie durch das Zimmer fliegen wie ein Falke, wenn sie sich an meinen Hals wirft, ich spüre ihren Atem, der von Unschuld und Hingabe glüht.

Da weiß ich auch, daß wir noch nicht verloren sind. Denn das ganze Land unter mir blüht und wächst wie ein Garten und in ihm die Kinder der Lust wie die Rosen und Zentifolien, sie tragen den Schmelz ihrer Jugend auf ihren Blütenkelchen, diese köstlichen Jungfrauen, dieses überschwengliche Geschenk an unsere Welt des Rationalismus. Fangt sie ein in Lyzeen, Tanzschulen und heiligem Ehestand, in Bordelle, Bureaus und bei kalten Tanten, ihr werdet sie nicht bezwingen. Sie sind die letzten Gesellschaftsträger und approbierten Gesandten des heiligen Gefühls am Sitze unserer Wissenschaft. Betet sie an, sie sind die letzte Jugend!

Und ich schreibe ihren Namen in den Himmel.

In: Der Tag, 9.5.1924, S. 4.

Georg Fröschel: Lob des Spiels

An einem Ast im Tiergarten baumelte ein Erhängter. Als man die Leiche abgeschnitten hatte, fand man in den Taschen des Selbstmörders ein leeres Zigarettenetui aus Holz, ein Portefeuille mit einem Barbetrag von 17 Mark, ein reines, jedoch sehr zerschlissenes Taschentuch mit einer siebenzackigen Krone und einige beschriebene Blätter, die wir im folgenden wörtlich wiedergeben:

             „Man tut dem Spiel unrecht. Es ist banal, das obligate Verdammungsurteil nachzuplappern. Von einem höheren Gesichtspunkte aus ist die Ansicht von der moralischen Verwerflichkeit des Spiels unhaltbar. Für den Bürger zum Beispiel ist das Spiel eigentlich die einzige Entschuldigung. Der Bürger lebt sonst dahin, an der Erde und am Geld klebend – schläft, ißt, arbeitet und zeugt Kinder. Er weiß nichts von den Dingen, die er nicht tasten kann, nie glüht er, nie wagt er sich über sich selbst hinaus. Nur wenn er spielt, tut er einen Blick in die andere Welt, in ihre unwürdigste und trübste Ecke vielleicht, aber doch in die Welt des Irrealen und Ungegenständlichen. Nur wenn er spielt, hat er eine Spur von Phantasie. Dann gibt es für ihn Dinge, die er sonst nicht kennt, Träume, Aufregungen, und Kämpfe, von denen sein plattes Leben sonst nichts weiß. Der Künstler, der spielt, tut unrecht, denn ihm ist die andere Welt auch ohne Karten und Würfel geöffnet, ihm winken bessere Göttinnen als Fortuna mit ihrem leeren Lächeln. Der Spießer aber, der spielt, ist doch reicher, als der Spießer, der die Karten verachtet. Er weiß mehr von sich und der Welt und sein enges Leben hat ein schmales Fenster ins Freie.

Auch der Staat als solcher dankt dem Spiel viel.

             Das Spiel gab zum erstenmal die Regel, die über den Menschen steht, zwang sie, ihr Tun und Lassen einem höheren Prinzip unterzuordnen. Das Spiel schlug die erste Bresche in die Dispositionsfreiheit des Menschen und ist vielleicht deshalb die Keimzelle des Staates.

             In den Urzeiten, da der Mensch noch ungesellschaftlich existierte und gleich dem Tier den Zusammenhang zwischen Zeugung und Geburt noch nicht begriffen hatte, lebte er ganz ohne Unterordnung unter fremden Willen, bloß eigenen Trieben und Wünschen folgend. Aber als der Urmensch zum erstenmal von der Jagd ermattet vor niedergehendem Gewitter in einer Höhle Schutz suchte und dort den anderen Menschen traf und sie dann, zu müde, um sich zu erschlagen, ihre Beute gemeinsam am Feuer breiten und der eine spielend den Hüftknochen des Elentieres in die Höhe warf, der mit der rauchgeschwärzten Seite nach oben liegen blieb und dann der andere dasselbe tat, und der Knochen die weiße Seite zeigte, und als dieses Tun allmählich zum bewussten Speil ward, und die fette Keule demjenigen als Preis ausgesetzt wurde, der das nächste Fallen des Knochens richtig voraussagte, da war nicht nur das Spiel, da war auch das Gesetz und mit ihm ein Wesentliches des Staates geschaffen.

             Von einem außerhalb des menschlichen Willens sich ereignenden Geschehnis war menschliches Tun und Lassen abhängig geworden. Zum erstenmal duldete ein Mensch, der verlierende, etwas, wozu ihn nicht faktische Gewalt, sondern freiwillige Unterwerfung unter eine Konvention nötigte.

             Bedeutsam ist es, daß diese sich dem Gesetz des Spieles Unterwerfen seinen stärksten Ausdruck bei den alten Germanen fand, die im Spiel auch die persönliche Freiheit einsetzten und auch diesen Preis, für den sie sonst bis zum letzten Blutstropfen kämpften, willig zahlten. Sie bewiesen schon damit ihre Sendung zur objektiven Staatsbildung und ihren Beruf zum Bürger, der dem über ihm schwebenden Gesetz willenlos untertan ist und über dem der Staat wie ein rocher de bronce, wie eine eherne und unerbittliche Gottheit errichtet werden sollte.

             Der Staat schützt die Rechte des Spiels nicht durch die Gewalt seiner Exekutivorgane, aber das Spiel schützt sich selbst, indem es die Spielerehre schuf. Sie wird nicht hoch gewertet und doch ist sie die einzige Form der Ehre, die im Laufe der Menschheitsgeschichte keine Änderung erfahren hat.

             Alle anderen Ehrbegriffe haben den Kreislauf von ehrlos zu ehrwürdig wiederholt durchlaufen. Die Geschlechtslehre hat sich in der Entwicklung der Jahrtausende ihrem Inhalt nach ebenso geändert wie die Standesehre, wie die Auffassung vom Eigentum und vom Staat. Nur die Spielerehre ist die gleiche geblieben. Einer materialistischen Auffassung der Ethik sollte dies ernstlich zu denken geben. Wenn die Skeptiker alle Argumente für sich haben, die sagen, daß der Mensch das Gute nur tue und das Schlechte nur unterlasse, wenn äußere Gewaltmittel ihn hindern oder abschrecken, seinen Trieben nachzugeben, wenn behauptet wird, daß die Moral im ganzen bloß der Ausdruck der bestehenden Machtverhältnisse sei, so bleibt dem Idealisten schließlich nichts als das verachtete Spiel zum Beweise der menschlichen Güte.

             Im Spiel allein bewies und beweist der Mensch seine Achtung vor dem frei geschlossenen Übereinkommen, vor der Abmachung auf Treu und Glauben, die durch keinen Polizisten geschützt werden muß. Im Spiel allein beugt sich und opfert der Mensch freiwillig einem höheren Prinzip, ehrt den Vertrag und damit sich selbst.

             Ich habe die Gesetze des Spieles bis zum Ende erfüllt.“

Der Polizei gelang es nach einiger Zeit, die Leiche des Selbstmörders zu identifizieren. Es war Tiburce Freiherr von Hollenbach-Verault, der das ungeheure Vermögen, das er von seinem Vater ererbt, völlig im Spiel verloren hatte. Seine Gattin, Marie Yvonne, geborene Gräfin Chaloniakowska, war bereits ein paar Jahre früher in öffentlicher Armenpflege gestorben, sein Sohn Horace hatte Dienste in der Fremdenlegion genommen, seine Tochter Eugenie galt als eine der reizvollen Kokotten in der internationalen Lebewelt.

In: Der Tag, 13.4.1923, S. 4.

Emmy Stricker: Für die Autoreise

             Im großen Reiseauto von Stadt zu Stadt, von Land zu Land zu fahren, ist zu einer Alltäglichkeit geworden. Kein Fahrplan behindert einen, man ist an Zeit und Ort nicht gebunden. Der Ausblick in die durchfahrende Landschaft und Oertlichkeit ist nach allen Seiten frei. Der Reisegenuß ist ein intensiver. Wenn einer eine Autoreise tut, so kann er viel mehr erzählen, als von einer Eisenbahnreise. Deshalb werden die Anhänger der Autoreisen immer zahlreicher.

             Ein eigener Industriezweig ist um die Ueberlandautoreise entstanden. Sie verlangt großes Raffinement des Gepäcks. Die modernen, geräumigen Gesellschaftswagen befördern viele Personen, denen während der Fahrt Bewegungsfreiheit gelassen werden soll, so daß es einer nicht kleinen Erfindungsgabe bedarf, um möglichst viel Gepäck unterzubringen, um alle für den modernen Menschen unentbehrlichen Reisekleider und -utensilien in kleinen, leichten und doch festen, rationell eingerichteten Koffern zu verstauen.

             Die Reisekleidung ist Gegenstand des größten Interesses der Reisenden und infolgedessen auch der Modeschöpfer geworden. Konnte und kann man fürs Eisenbahncoupé irgendein schickes, praktisches älteres Kostüm oder Rock, Bluse und Mantel nehmen, so verlangt das Ueberlandauto mit seinem bei schönen Wetter der frischen Luft freigegebenen Wagen eine spezielle, für diese Art Reise erprobte Kleidung.

             Gegen den Wind schützt der neu komponierte leichte Leinenhut, der in ganz moderner Weise vorne aufgeschlagen werden kann und durch ein auf sinnreiche Art andrückbares Sturmband seine Krempen schützend um den Kopf, insbesondere die Ohren, breitet. Ein mit Opossumfell verbrämter Homespunmantel, gut übereinandergeknöpft, hat große, viele Utensilien bergende Taschen, die so gearbeitet sind, daß der Inhalt sie nicht aufbauscht.

             Für größere Städtereisen, wie sie beispielsweise jetzt das Handelsmuseum in Verbindung mit einer Rheinreise geplant, wird die Dame zum Eintritt in eine Ausstellung oder zu Empfängen unter dem Mantel im Auto ein etwas elegantes Kleid tragen, das unzerdrückbar und repräsentabel ist. Beispiele? Ein in zwei Farben gehaltenes Krepellakleidchen, etwa in Hell und Dunkel einer Farbe, mit hochzuschließendem Kragen zu einem in den gleichen Farben gehaltenen Hut mit ausstellbarer Schildkrempe kann als elegantes Besuchskleid gelten und bleibt lange tadellos. Ein Plisseekleid mit gesteppten Faltenplissees aus Crepe de Chine hat für die größte Hitze ein abnehmbares Jumpergilet aus Stoff in einer komplementären Farbe, die dem Kleide den ausgesprochenen hochsommerlichen Charakter nimmt: diese Weste kann auch aus Trikot oder Jersey sein. Neu, elegant und praktisch ist ferner ein sandfarbener Kashamantel (Figur 6), der (ohne die anzuknöpfenden Capeärmel) einen einfachen Reiseregenmantel vorstellt; durch die dazugehörigen Capeärmel wird er zum Schiffsmantel gestempelt, der auch eine stürmische Rhein- oder Bodenseefahrt verträgt. Zu einer größeren Autoreise vergesse man nicht, einen Mantel zu nehmen, der durch einen überknöpfbaren Teil, eine eingesetzte Dütenfalte oder durch eine innen eingefügte breite, versteckbare Leiste über den Knien ganz zu schließen ist und nicht klafft. – So kann durch kluge Ueberlegungen die raumsparende Reisedreß par excellence praktisch, elegant und zu vielen Gelegenheiten geeignet, geschaffen werden. Stramm geknöpfte, hohe Wildledergamaschen über Spangenschuhen leisten den gleichen Dienst wie hohe Schuhe und ersparen ein Paar hohe Schuhe.

In: Neue Freie Presse, 2.9.1928. S. 18.

Viktor Silberer: Semmering-Rekord

Wenn man nur die Zahl der Besucher und das von ihnen verausgabte Geld in Betracht zieht, so hat der Semmering heuer eine Wintersaison, die alles bei weitem übertrifft, was dort jemals vorher an Massenbesuch und Aufwand zu verzeichnen war. Das Stammpublikum der Vorkriegszeit aber ist vom weiteren Besuche des ihm einst so lieb gewesenen, herrlichen Ortes ganz ausgeschlossen. Was nur an Großschiebern und sonstigen neuen Reichen in Wien in den teuersten Nachtlokalen in tollster Verschwendung praßt, bevölkert derzeit den Semmering, und treibt es dort womöglich noch ärger als in der Stadt. Dabei sind zwei Merkmale dieser Gesellschaft von heute zu verzeichnen. Erstens, daß es unter ihr fast gar keine alte Leute gibt und zweitens die bis zur Verrücktheit entwickelte Tanzwut. Woher alle die Burschen das viele Geld haben, die hier, allerdings nur soweit es sich um die leichte Hand im Geldausgeben handelt, als Grandseigneurs auftreten oder die indischen Nabobs spielen, bildet ein großes Rätsel. Aber gewiß ist, daß das viele Geld da ist und in leichtsinnigster Weise vergeudet wird.

Zur Charakteristik eine kleine Episode: Ein soeben angekommenes Paar betritt die Halle des Hotels und wird vom „Chef de reception“ empfangen. Beide in kostbarste Pelze gehüllt. „Zimmer“, sagt kurz der Jüngling. – „Haben bitte eines bestellt?“ fragte der Chef. – „Nein,“ war die Antwort. – „Ja bitte, da kann ich dann nicht dienen; denn was noch nicht besetzt ist, ist alles längst fest bestellt!“ – „Machen S’keine G’schichten, sperr’n S‘ uns ein schönes Zimmer auf, da haben Sie zehntausend Kronen!“

Das Tanzen hat den Charakter einer Seuche angenommen. Es wird, nicht etwa zu einer bestimmten Stunde, im ausgeräumten Speisesaal oder in der Halle täglich abends getanzt, sondern es gibt dafür weder mehr eine Orts- noch eine Zeitbestimmung. Man tanzt vielmehr jederzeit und überall; schon gleich nach dem Frühstück, noch vor dem Essen, nach dem Essen, bei der Jause, vor und nach dem Abendmahl, bis das letzte Licht erlischt, in allen möglichen Räumen, Gänge nicht ausgenommen! Dabei wird neben aller anderen Verschwendung auch ein enormer Luxus mit frischen Blumen getrieben. Die kleinste Nelke kostet 40 K, eine Chrysanthemeblüte 50 bis 100 K, eine Orchidee aber wird mit zweihundert bis fünfhundert Kronen das Stück bezahlt und diese Blumen schmücken nicht nur die Frisuren der Damen und stecken in den Knopflöchern der Smokings der Herren, sondern es wird dann, im Höhepunkt des Vergnügens und der Freude am schönen Leben in der neuen Zeit, gegenseitig damit geworfen.

Im sterbenden Wien aber gehen zur gleichen Zeit Hunderttausende, darunter auch viele ehedem bemittelte, ja selbst sehr wohlhabende Leute, wegen Mangels einer ausreichenden Ernährung in aller Stille der völligen Entkräftung und damit einem langsamen Hungertode entgegen. Leben doch auch Tausende von Familien, die früher sehr gut situiert waren, ja zu den Reichen zählten, schon seit längerem nur mehr vom Verkaufen besseren Hausrats.

In: Prager Tagblatt, 20.1.1921, S. 2.

René Fülöp-Miller: Das Kino als Konkurrent der – Kirche. Trotzki über das Kino.

Die Russischen Machthaber betrachten Philosophie, Kunst, Dichtung, Malerei und Musik, einzig und allein von dem Standpunkt ihrer parteipolitischen Verwendbarkeit ; bei jedem Kunstwerk wird nur danach gefragt, inwieweit es für die „Vergesellschaftung“, für die Propaganda kommunistischer Ideen unter den Massen geeignet sei. So ist es denn nicht zu verwundern, daß die Bolschewisten auch die große suggestive Kraft des Films erkannt, und daß sie daher dem Kino eine ganz besondere Bedeutung zugemessen haben : Filmautoren und Kinoschauspieler, Operateure und Kinounternehmer gelten in Rußland als die „Stoßtruppen der militanten marxistischen Propaganda“.

In jener großen „Offensive gegen die alten Sitten und Bräuche“ wurden die bolschewistischen Filmleute mit einer sehr wichtigen Aufgabe betraut : sie sollten den Kampf gegen den Zauber der orthodoxen Kirche und gegen die religiösen Traditionen des russischen Lebens erfolgreich durchführen. Das Kino aber sollte gleichzeitig auch die Bevölkerung von dem Banne des Branntweins befreien, der in Rußland einen außerordentlichen Einfluss auf das Leben der Menschen ausgeübt hatte.

Die Führer der bolschewistischen Agitation hatten zuerst versucht, durch „aufklärende Vorträge“, durch atheistische und antireligiöse Flugschriften gegen die orthodoxe Kirche anzukämpfen ; durch einen Appell an das „kommunistische Gewissen der Bauern“ wieder glaubte man diese vom Schnapstrinken abhalten zu können. In keiner der beiden Richtungen jedoch gelang es, mit diesen Mitteln nennenswerte Erfolge zu erzielen. So sah man sich denn zu neuen Maßregeln genötigt und entschloß sich, das Kino zum Zweck der kirchenfeindlichen Agitation sowie einer geeigneten materialistischen Schulung der Massen im weitesten Maße heranzuziehen.

Leo Trotzki ist es gewesen, der die Unzulänglichkeit einer trocken-sachlichen Aufklärungspropaganda zuerst erkannt hat ; er ist zu der Überzeugung gelangt, man müsse der Eigenart des russischen Volkes Rechnung tragen und dessen Sehnsucht nach Anschaulichem, nach Zerstreuungen und Unterhaltung irgendwie befriedigen. In einer Schrift über die „Probleme des Alltagslebens in Rußland“ versucht Trotzki, seine Parteigenossen davon zu überzeugen, daß einig und allein das Kino geeignet sei, für die alten Lebensgewohnheiten der breiten Massen in Rußland ausreichend Ersatz zu bieten.

„Wir nehmen die Menschen so,“ heißt es in dieser Schrift, „wie die Natur sie geschaffen und wie die alte Gesellschaft sie zum Teil erzogen, zum Teil verstümmelt hat. Wir suchen nach Stützpunkten in diesem lebendigen Menschenmaterial, um unseren Parteihebel anzusetzen.“ Der Wunsch nach Aufheiterung und Zerstreuung, heißt es weiter, sei „ein durchaus berechtigtes Empfinden“ und darum müsse diesem Bedürfnis in immer künstlerischerer Weise entsprochen werden ; das Vergnügen solle gleichzeitig „zum Werkzeug der kollektiven Erziehung“ werden, „ohne pädagogische Bevormundung, ohne aufdringliches Hinlenken auf die Bahn der Wahrheit“.

„Das wichtigste Werkzeug auf diesem Gebiete, das alle anderen bei weitem übertreffen kann“, sei gegenwärtig das Kino, „Diese verblüffende Neuerung auf dem Gebiete des Schauspiels“, führt Trotzki des näheren aus, „hat das Leben der Menschheit mit unerhörter Geschwindigkeit durchdrungen. Der Kinoleidenschaft liege das Bestreben, sich abzulenken, zugrunde, der Wunsch, etwas Neues zu sehen, zu lachen und zu weinen. „Allen diesen Bedürfnissen gewährt das Kino die unmittelbarste und lebendigste Befriedigung, fast ohne an den Zuschauer irgendwelche Anforderungen zu stellen. Das erklärt die dankbare Liebe des Publikums für das Kino, für jene unerschöpfliche Quelle der Eindrücke und Erlebnisse. Dies ist der Punkt, ja sogar jene Fläche, auf der die erzieherischen Bemühungen des russischen Sozialismus ansetzen können.

Indem das Kino anzieht und zerstreut, wetteifert es schon eben dadurch mit dem Wirtshaus und dem Schnaps, vor allem bei dem Problem, das der Achtstundentag mit sich gebracht hat, dem Problem, das freie Drittel des Tages angenehm auszufüllen. „Könnten wir“, fragt Trotzki, uns nicht dieses unvergleichlichen Werkzeuges bemächtigen?“ „Warum nicht?“ antwortet er. „Die zaristische Regierung hat durch ein weitverzweigtes Netz staatlicher Branntweinschenken eine jährliche Einnahme von rund einer Milliarde Goldrubel erzielt ; warum sollte der Arbeiterstaat nicht ein Netz staatlicher Kinos schaffen können, diesen Apparat der Zerstreuung und Erziehung immer tiefer in das Volksleben eingreifen lassen, hiemit den Alkohol bekämpfen und zugleich hohe Einnahmen erzielen? Gewiß wäre die Durchführung dieses Projekts nicht einfach, aber sie wäre auf jeden Fall natürlicher und zweckmäßiger als die Wiederaufrichtung des Schnapsvertriebes.“

Trotzki führt dann weiter aus, wie das Kino nicht nur mit der Kneipe, sondern auch mit der Kirche konkurrieren könne. Die russische Arbeiterklasse hänge nur aus Gewohnheit und Bequemlichkeit an dem Zeremoniell der orthodoxen Kirche. In diesem aber spiele das Element der Zerstreuung und der Ablenkung eine gewaltige Rolle. Da Bedürfnis des Menschen nach dem theatralischen Wesen werde durch die Kirche in sehr geschickter Weise befriedigt, während die antireligiöse Propaganda diesen Wirkungen bisher nichts Gleichwertiges habe entgegenstellen können.

Und hier, meint Trotzki, werde unser Denken wiederum ganz von selbst auf jenes mächtige und am meisten demokratische Werkzeug der Theatralik, auf das Kino, hingelenkt. Das Kino entfalte auf der weißen Leinwand viel großartigere Effekte als selbst die reiche, durch Erfahrung von Jahrtausenden hindurchgegangene Kirche. „In der Kirche wird immer nur eine religiöse Handlung Jahr für Jahr wiederholt, während das Kino von Tag zu Tag andere fesselnde und packende Vorführungen zu bieten vermag. Das Kino zerstreut, klärt auf, erstaunt die Phantasie durch seine Bilder und befreit die Menschen von dem Drang, in die Kirche zu gegen. Das Kino ist also auch die große Konkurrenz der Religion und darum jenes Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen.“

Zum Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht führt Trotzki auch noch die Erklärung eines Arbeiters an, den er über die Wirkung des Kinos auf die Massen befragt hatte.

„Die Arbeiter,“ erklärte Trotzkis Gewährsmann, „sind jetzt für das Kino begeistert. Ich selbst liebe es sehr und die Leute gehen in Massen hinein. Freilich hat es in der letzen Zeit eine Menge spannender, aber im übrigen wertloser Filme gegeben, die das Publikum stark demoralisiert haben ; im allgemeinen aber ist das Kino doch eine große Errungenschaft und ein bedeutender Faktor der Kultur. Es muß nur darauf geachtet werden, daß die Filme einen anderen, wertvolleren Inhalt bekommen.“

Es ergibt sich aber aus der Betrachtung der wahren Situation, daß der Versuch, das Kino in dem Kampfe gegen Orthodoxie als revolutionäre Waffe zu verwenden, als gescheitert anzusehen ist.

Die russischen Kinos sind allerdings durchaus sehr gut besucht, aber daneben erfreuen sich, nach wie vor, auch die Kirchen eines regen Besuches ; der in seinem Innersten durchaus konservative Russe ließ sich eben aus seinen alten Gewohnheiten auch durch die Kinorevolution nicht aufstören. Und so kam es auch, daß die große Masse, ungeachtet selbst aller jener, zweifellos wertvollen und gutgemeinten antialkoholistischen Kulturbestrebungen Trotzkis, auch seinen Trinkergewohnheiten weiterhin vielfach treugeblieben ist.

Zur Zeit des strengen Alkoholverbots der letzen Jahre wurde eben neben dem eifrigen Kinobesuch heimlich, im stillen Kämmerlein, Schnaps gebrannt ; jener berühmt gewordenen „Samagonka“, der erst verschwand, nachdem jetzt das Alkoholverbot aufgehoben worden ist. Die Heilslehre von der sittigenden Kraft des Kinos hat also versagt und der Film wird wohl auch in Rußland sich mit der Rolle begnügen müssen, die er innerhalb seiner wahren Grenzen auch in Westeuropa unter Umständen als ein wertvolles Kulturinstrument zu spielen vermag.

In: Neue Freie Presse, 1. Januar 1926, S. 27

Ann Tizia Leitich: Girldämmerung

Das neue Ideal: die wissende junge Dame

Wer von Ihnen, meine Damen, hat ein Körpermaß von 155 Zentimeter? Wem gibt der Bubikopf ein lächerliches Aussehen und wird nur getragen, weil man lieber lächerlich wirken als wie seine eigene Großtante aussehen will? Wer hatte seine liebe Not mit diesen Puppen- , diesen Konfirmationskleidchen, die die Mode der letzten Jahre vorschrieb? Wem hat ein Künstler gesagt, daß die sanfte Wellenlinie der Hüften entzückender sei als die erbittert angestrebte hermaphroditische Kurvenlosigkeit der modernen Figur – was Sie natürlich damit beantworten, daß sie die ganze Schönheit mit einem Jumper zu phantasieloser Geradliniegkeit plattdrückten? Welche Frau gefällt sich in der von der Mode verbannten langen fließenden Gewändern mit einer Schleppe? Wer ist der ewigen Filzcloche der Sechzehnjährigen müde? Und wer möchte  – ich bin mir bewußt, daß diese Frage der ganz unmittelbaren Gegenwart etwas vorausgreift, aber sie liegt in der Entwicklungslinie meines Gedankens – wer möchte einmal, statt bloß geistlos zu tanzen, interessant flirten?

Alle diese Damen, deren geheime Wünsche mit den Möglichkeiten im Widerspruch liegen, können frohlocken und einander die Hände schütteln. Für sie bricht eine bessere Zeit heran: sie kommen wieder in Mode, denn – –

Das Girl hat ausgespielt. Wie es in Europa ist, weiß ich nicht, denn die Behauptung gilt nur für Amerika, das Land, wo das Girl die impertinent unschuldigen und je nach Bedarf keck-fröhlich oder sentimental-ergebenen Augen aufschlug. Europa dürfte übrigens, wie in den letzten Jahren gewöhnlich, schleunigst folgen. Es wird natürlich auch nicht gleich ganz verschwinden, das Girl, dazu ist es zu lebenskräftig und zäh; aber es wird Liebe und Sex, Mode, Künstler  und Figurinenzeichner, Männer und ihren Geschmack, Literatur, Theater, Kino, Manieren nicht mehr tyrannisieren können. Es ist ihm nämlich das Fatalste passiert, das einem weiblichen Wesen heute zustoßen kann: es ist uninteressant geworden. Das geschah, als die Intellektuellen und die Snobs es gleichzeitig fallen ließen. Jene taten es, indem sie sich laut und wortreich in ihren Magazines mit den Problemen der verheirateten und erwerbenden Frau befaßten; diese rein geistige, daher langweilige Tätigkeit wäre wahrscheinlich ohne Konsequenzen für die Welt verhallt, wenn die Snobs nicht gewesen wären, die sich in ihren Magazines an blasierten Dialogen erfreuten, in denen die weibliche Partnerin so kühl-überlegen, so raffiniert berechnend, so erhaben über allem und doch lüstern auf jede Sensation, so lässig hingegossen und dabei in jedem Winkel ihres Wesens auf der Lauer gezeichnet war, wie es ein Girl nie und nimmer sein durfte, ein Typus, den man mit dem unübersetzbaren Wort ‚sophisticated‘ bezeichnete. Schon seit geraumer Zeit glorifizieren die Snobs, die in Newyork, dem größten Wettrennplatz der Welt, eine ganz hervorragende Rolle spielen, dem herrschenden Broadway-Geschmack und dem berühmtesten Girlregisseur Flo Ziegfeld zum Trotz die ‚sophisticated woman‘. Wer Vogue, Harpers Bazar oder Vanity Fair je in der Hand gehabt hat, dem wird dies keine Neuigkeit sein.

Das Girl im Leben und auf der Bühne. –

„Baby-stare“

Die Allgemeinheit wurde scheinbar nicht dadurch beeinflußt: Die Girlmode  hielt sich vor allem deswegen, weil sie an einem unerhört  festen psychologischen Haken der Frauen hing, die da glauben, nicht bloß Jahre, sondern Jahrzehnte wegschwindeln zu können, wenn sie sich als Girls gebärden; was bei einigen stimmte, bei vielen aber nicht; was wir aber wieder nicht so bemerkten, weil wir alle den Girlkomplex hatten. Wie in der Mode, behauptete sich das Girl auf der Revuebühne, wo das stehende Heer von Ziegfeld-, Hoffmann-, Tiller-, Albertina-, Rasch-, Duncan- und anderen Girls fortwährend durch neu anmarschierende Bataillone verstärkt wurde. Sein Gesicht lächelt unentwegt und unerschüttert von den Titelblättern und aus den Seiten der populären Magazines; und sein knabenhaft unentwickeltes, schmetterlingsleichtes Figürchen, das dem Mann nicht bis zur Schulter reichen durfte, beherrschte die allmächtige Silberleinwand und damit Millionen von Zuschauern.

Vielleicht ist es hier nützlich, darauf zu verweisen, daß das amerikanische und das europäische Girl sich nicht ganz deckten. Die charakteristischen und wesentlichen Eigenschaften des amerikanischen, also des echten Girls, war die … o nein, nicht die Bubenhaftigkeit. Diese war nur die äußere Würze, die pikant kontrastierende Beigabe, die mit großer Kunst verwendet sein wollte, die die Europäerin meist nicht so gut verstand wie die Amerikanerin; denn das Girl war bei weitem schlauer als es aussah; schlauer zu sein als zu scheinen, war ja sozusagen sein Geschäft; Millionen wurden damit verdient. Daher begegneten nur Imitationsgirls dem Mann burschikos; die echten, unter denen es wahrhaft entzückende gab, wußten, daß sie vor allem ‚sweet‘ (süß) zu sein hatten. Und deshalb war das Girl an der Vermännlichung der Frau unschuldig; diese Vermännlichung gehört in ein ganz anderes Kapitel und ist auch eine Ursache mehr, daß das Girl aufhören muß, Girl zu sein. […]

Das Hauptrüstzeug ihrer Vorgängerin wird samt und sonders in die Abfallkanne wandern und darum ist es wahrlich nicht schade. Das ist nämlich jener süße, unschuldig-einfältige Blick aus weitaufgerissenen, dem Leben namenlos verwundert gegenüberstehenden Augen, mit dem das Girl zum Mann hinaufsah. Diesen Blick bezeichnete der amerikanische slang treffend als „Baby stare“. Jeder kennt ihn aus amerikanischen Filmen; denn wenn die Heldin nicht eine /30/ ausgemachte Verführerin war, so mußte sie über dieses Baby-stare und die Babygestalt verfügen und das Babyliebesgetändel beherrschen, um Helden und Zuschauer dranzukriegen. Demgemäß waren die Straßen, die Geschäfte, die Restaurants von Hollywood mit den hübschesten, gedrilltesten und mustergültig uniformen Girls so angefüllt, daß die ganze Gegend mit Baby-stares förmlich infiziert war und nach kürzerer oder längerer Zeit seinen Verstand verlieren mußte.

Mary Pickford wird entthront

Noch tanzen die Girls auf Broadway – – sie werden es noch lange tun, God bless them. Am Weihnachtstage glühlichterte ein Revuetheater über die unabsehbare Menschenmenge der Theaterstraße: „4 shows today nothing but girls.“ Aber etwas geschah neulich, das man nicht so sehr beachete, da hier täglich Größen fallen und Größen aufstehen. „Darling of America“, Mary Pickfords neuester Film fiel auf Broadway fast durch1. Nicht weil Mary über das Alter der Girls hinaus ist, aber weil sich das Publikum für Mary-Girls nicht mehr interessiert. Mary fiel zum ersten Mal in ihrem Leben ‚flach’ und sie wird ‚fern von Madrid’ jetzt Zeit haben, darüber nachzudenken, wie viele von ihren schauspielerischen Künsten sie dem Filmbaby opferte, das sie kreiert hat. Nachdem dieses Ereignis ohne Kommentar versunken war, wurde ein über der Fünften Avenue schwebender monumentaler Girlkopf, der eine Seife mit den Worten anpries „keep that school-girl complexion“ (Bewahre den Schulmädchenteint), eines Tages durch den schlanken, intelligenten Kopf und das liebenswürdig, aber sehr weltweise dreinschauende Gesicht einer jungen Frau ersetzt, die noch dazu ganz offen eine Frisur trug. Gleichzeitig verschwand auch die „School-girl complexion“. Damals begann ich etwas zu ahnen, denn ein solches Plakat kostet zu viel, als daß man sich dabei Experimente erlauben könnte. Meine Ahnung bestätigte ein Blick in das Schaufenster eines berühmten Modehauses, wo die reizenden Stilkleider, die das Girl mit seiner bekannten Präpotenz sich auch gleich wieder hatte aneignen wollen, indem es durchaus niedliche flatternde Kleidchen daraus zu machen suchte, ladylike verlängert waren. Einzelne rückwärts bis zum Boden, in der Art der Kostüme der andalusischen Tänzerinnen, andere mit seitlicher oder rückwärtiger Schleppe. Ha, eine Schleppe, das geschieht ihm recht, dem Girl.

            Es gab in den Schaufenstern noch allerhand andere interessante Sachen, Schleier zum Beispiel, die aber wahrscheinlich nicht Mode werden dürften, weil die Amerikanerin sie einmal nicht will, und geraffte, fließende Kleider, die für jene hochgewachsenen Frauen geschaffen sind, die sich die letzten Jahre in Mauselöchern verkriechen durften, wenn sie nicht sich selber untreu sein wollten. Und am selben Abend sah ich bei einer fashionablen Premiere alle die Damen, von denen ich wusste, daß ihre blonden, brünetten, grauen, weißen Bobs (geschnittene Haare) unmöglich schon nachgewachsen sein konnten, mit tiefen Knoten im Nacken, mit gedankenvollen, intelligenten, von zu viel Erleben müden Gesichtern – Müdigkeit, die natürlich zu 99 Prozent Imitation war, Gesichter, die zum Mann keineswegs hinauf-, sondern offenbar auf ihn herabsahen, auf denen ein Lächeln nur selten aufflog, aber dann mit allen Anzeichen von Kostbarkeit, Geheimnis und wissendem Locken. Blond, brünett, grau oder weiß – – die Girls waren samt und sonders verschwunden und es gab nur elegant-geschmeidige, unendlich blasierte „sophisticates“.

Die neue Königin und ihre Attribute

Und damit seien auch alle jene getröstet, die um die verlorene Dame die Hände gerungen haben. Es ist nicht mehr notwendig, denn sie ist schon wieder da. Wirklich und wahrhaftig; man darf sich beruhigen. Sie ist zwar nicht ganz die Alte, selbstverständlich nicht, Gott sei Dank nicht, dazu hat sie viel zu viel mitgemacht und zu viel gelernt; aber sie ist Dame. Wenn man es noch nicht glauben kann, so will ich zum Schluß jetzt meinen Trumpf ausspielen: Hollywood ist mit dabei, sein ureigenstes Produkt, das Girl, zur Strecke zu bringen. Das ist ungeheuer wichtig, denn ohne Hollywood könnten wir’s alle nicht ermachen. Sie zweifeln? Aber ich habe es schriftlich. „Hoch, schlank, statuesk, schön, die Personifizierung schlummernder Glut.“ Worte, die vor zwanzig Jahren geschrieben wurden? Mit nichten! Ganz neue Worte, so neue, daß sie noch brennend weiß über Broadway getragen werden. Denn mit ihnen preist Hollywood seinen neuesten Star an, Greta Garbo, die Schwedin, die gegenwärtig in einem Film, „Love“ Triumphe feiert, dessen Personen komischer- oder tragischerweise die Namen von Tolstois Roman „Anna Karenina“ tragen. Auch Pola Negri2 hatte hier Erfolg, aber es war nicht die Art von Erfolg, die so zwingend einen Teil der öffentlichen Mentalität wird, daß die Frauen sich selbst, Mode und Liebe verändern, und die Männer ihr weibliches Ideal von heut auf morgen umkrempeln. Greta kam eben im psychologischen Moment, als Amerika reif war für die hohe, schlanke, wissende, junge Frau, die noch vor zwei Monaten in Hollywood ruhig vor den Toren der Studios hätte verhungern können, selbst wen sie die Duse3 des Films in Person gewesen wäre. Greta bricht übrigens auch die Tradition in anderer Hinsicht, indem zum erstenmal in einem amerikanischen Schlager eine verheiratete Frau zur Liebesheldin gemacht wird.

Was werden nun die Girlarmeen in Hollywood machen? Und wie werden die kleinen Stenos ihr Budget dem neuen Ideal anpassen, das bei weitem teurer kommt? Warum sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen; wer hat uns gefragt, als man uns Kinderkleider zumutete! Ich habe meine Pflicht getan und Ihnen, meine Damen, eine „Advance notice“ zukommen lassen. Und jetzt gehe ich zum Coiffeur, um mir die Haare à la Garbo  – halblang auf die Schulter fallend – frisieren zu lassen, und zur Schneiderin, um mir ein gerafftes Abendkleid mit einer kleinen, blasierten Schleppe zu bestellen.

Newyork, im Januar 1928.    

In: Neue Freie Presse, 22.1.1928, S. 29-30.

  1. Mary Pickford (1892-1979, Star des amerikanischen Stummfilms) siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Pickford (Zugriff vom 5.7. 2014)
  2. Pola Negri, 1897 in Lipno, Russland (eigentl. Poln. Stadt) – 1987, San Antonio, USA; Star der Stummfilmzeit, insbes. in der Zusammenarbeit mit Ernst Lubitsch seit 1919 (Madame Dubarry), Hollywood, Rückkehr nach Deutschland 1934, wo sie mit Paul Wegener für die UFA drehte, ab 1941 wieder in den USA.
  3. Eleonora Duse (1858-1924), bedeutende italienische (Theater)Schauspielerin; siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Eleonora_Duse (Zugriff, 5.7.2014)

Fred Heller: Girl-Mast.

Mit Zeichnungen von Alice Reischer

      In London ist man draufgekommen, daß die Revuen auf zu dünnen Beinen stehen. Warum nimmt das Interesse ab?, fragte sich der Direktor. Weil die Girls abnehmen, gab er sich selbst zur Antwort. Und von dem Tag an nehmen seine Girls zu.

      Das geht nicht bloß London an. Das ist ein Weltsymptom. Das geht an den Typ. Schlank soll nicht mehr mager, Girl soll nicht mehr verpatzter Jüngling heißen. Zuerst werden die Girls gemästet und dann – wo sind die Grenzen für das Schönheitsideal von morgen? Werden wir Orientalen? Wird Liebe nach Pfunden gemessen? Werden, je schmächtiger unser Budget, die Frauen um so  üppiger werden?

      Die Girlmast hat begonnen, die Manager stehen an der Wage und kontrollieren die Gewichtszunahme. Es läppern sich Rundungen zusammen. Aus den weiblichen Boys werden richtige Frauen mit all den Reizen, die bisher wegmassiert werden mußten, abtrainiert, fortgehungert. Girls dürfen wieder Appetit haben und das Wort appetitlich gewinnt neue Bedeutung.

      Ernst angesehen, bedeutet die Aufpäppelung der Girls einen Beginn der Wiedergesundung unter einem großen Teil der Frauen. Die „Linie“, also der Entfettung, der raschen Abmagerung und der ständigen Drosselung des Appetits haben viele ihre Gesundheit geopfert. Kein Fett, keine Ruhe, keine Kinder, hieß das drakonische Gesetz, das zu übertreten gerade die hübschen Frauen nicht zu verführen waren. Die schönen wurden nervös, sie hatten keine Zeit für Träume, sie legten gereizt jedes Wort auf die Wagschale, wie sie sich ängstlich wogen, so oft sie sich vergessen hatten. Jede Großmama wollte ein Girl sein, also aussehen wie ihr siebzehnjähriger Enkel. In den besseren Häusern wurde eine zweifache Diät gekocht, die Gnädige saß entweder im Entfettungsbad oder lag bei der Masseurin, stand irgendwo am Kopf oder rannte ihr Drei-Kilometer-Pensum ab – alles andere verlernte sie. Ich meine, das gemütliche Plaudern, die trauliche Pflege einer netten Freundschaft, das unbedenkliche Zeitverschwenden bei einer Tasse mit Bäckereien oder einem endlosen Souper. Die Frau war nicht für den Mann da, nicht einmal für sich, bloß für die Erhaltung ihres Untergewichtes. Kein Wunder, daß es in so vielen Ehen und in der Liebe so viele Unterbilanzen gab.

      Darf man schon „gab“ sagen? Revuetheaterdirektoren haben ein empfindliches Gefühl für  weibliche Angelegenheiten, die auch Männer interessieren. Wenn die Girls zunehmen, müssen alle jungen Frauen dem Beispiel folgen. Die Girls der Revuebühnen sind ja die jeweiligen Musterkollektionen der Modeneuheiten für den Männergeschmack. Sogar die Provinzler, die gelegentlich in die Großstadt kommen, vergleichen dann ihren Eigenbesitz mit den Revuegirls. Und natürlich werden die gemästeten Girls sehr auffällig ihre frischgezogenen Reize vorführen und besondere Kostüme werden die Gegenden, auf die es ankommt, heftig betonen. Vielleicht ist die neue üppigere Linie überhaupt nur eine Folge des neuen Zuges nach Bekleidung der Girls. Als nackt die große Mode war, kam es darauf an, bloß andeutungsweise zu erkennen zu geben, daß die lebenden Säulen und Kandelaber Frauen sind. Mit der zunehmenden Bekleidung der Girls mußte man auf die Idee kommen, daß man eigentlich erst mehr Bekleidungswertes schaffen mußte, denn die Kostümierung sollte doch eine Verhüllung darstellen. Was gab es zu verhüllen? So wenig, daß das Publikum im Parkett gar nicht auf seine Kosten kommen konnte. Aus dieser Untugend wurde die Not, und um dieser Not zu steuern, machte man die Revolution der Linie.

      Wer will nicht mit in das revolutionäre Lager? Wer zögert? In wenigen Monaten kann es zu spät sein. Denn wer weiß, wie schwer es sein wird, die gewisse Mindestgrenze zu erreichen, nachdem man sich schon so an die zwei, drei mageren Jahre gewöhnt hatte und den Gürtel so eng geschnallt trug. Es muß sich eine neue Kunst herausbilden, die „Zunehmen“ heißt, damit nicht plötzlich ein allgemeines Wettmästen losgehe. Des Guten zuviel!, haben die Lateiner gesagt und die haben davon etwas verstanden.

In: Die Bühne (1929), H. 232, S. 29.

Emil Reich: Die ungedruckte Zeitung

Die Radiotelephonie als Konkurrentin der Presse

            Vor wenigen Tagen waren es fünfundzwanzig Jahre, daß es zum erstenmal gelang, einen Buchstaben von einer Absendestation nach einer bloß wenige Meilen entfernten Empfangsstation ohne körperliche Verbindung zu übermitteln. Der 14. Mai 1897 war der Geburtstag des Funkspruches. Gerade jetzt leistet Shaw sich im dritten Akt seines neuen Dramas „Back to Methuselah“ eine Radiophantasie. Er läßt die Staatsmänner des britischen Weltreiches mit Hilfe eines Apparats konversieren, den man am besten ein Radio-Kino-Telephon nennen könnte. Der Premierminister Burge-Lubin kann sich sogar einen radioplatonischen Flirt mit einer Negerdame gestatten, die in einer Entfernung von zweihundert Meilen das Amt eines Ministers für Volksgesundheit versieht, und genießt das Vergnügen, durch eine unerwartete radio-kino-telephonische Verbindung die Angebetete in ihrem Schlafzimmer zu überraschen, in dem sie sich noch im tiefsten Negligee aufhält. Shaw glaubte, diese Entwicklung der Radiotelegraphie und Radiotelephonie erst für das Jahr 2170 prophezeien zu dürfen. Wir leben aber erst im Jahre 1922 und schon ist Shaws Phantasterei beinahe zur Wirklichkeit geworden. Ein Theatermann in Chicago hat eine Kombination zwischen dem Film und dem Radiotelephon erdacht. Zu einer bestimmten Stunde wird in mehreren Städten der Vereinigten Staaten in verschiedenen Lichtspieltheatern derselbe Film vorgeführt und in irgendeiner Radioabsendestation sprechen die Schauspieler, die bei der Herstellung des Films mitgewirkt haben, die Worte, die ihre Handlungen und Gesten auf der Leinwand begleiten. In zehn oder zwanzig Städten, in einigen hundert Kinos zugleich sehen und hören die Kinobesucher ihre Filmlieblinge.

            Ein knappes Vierteljahrhundert ist seit dem ersten Funkspruch verstrichen und schon muß von einer wahren Radiomanie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika gesprochen werden. Jeder, der es bezahlen kann und von der Elektrizität genug weiß, um sich vor tödlichen Erschütterungen zu bewahren, vermag sich die Erlaubnis zu verschaffen, um eine radiotelephonische Absendestation einzurichten und in den Aether hineinzusprechen. Und jeder, der die Ausgabe von fünfzehn Dollar nicht spart, kann einen Empfangsapparat kaufen und ihn in seinem Schlafzimmer, auf seinem Automobil, in seinem Bureau, ja selbst in seiner Rocktasche montieren und aus der Luft abhören, was ihm zu hören beliebt. Schätzungsweise gibt es derzeit in den Vereinigten Staaten bereits 13.000 private Absendestationen und mindestens 600.000 Leute mit Empfangsapparaten, welche die Luft mit ihren Plaudereien für den Radiotelephondienst „unwegbar“ zu machen drohen. Diese Anarchie zwingt die Regierung zu Maßnahmen, und wenn man dem „Radio Digest“, einem funkelnagelneuen Blatt, das in Chicago erscheint, glauben darf, so wird für einen geordneten Radiotelephondienst in der Weise gesorgt werden, daß die Regierung den Privatverkehr nur bis zu einer bestimmten Wellenlänge zuläßt. Das Blatt „Radio Digest“ ist übrigens nicht das einzige Zeichen der Zeit. Die New-Yorker Abendblätter enthalten seit einiger Zeit eine Radiorubrik, in der technische Winke für Radioanfänger gegeben und den Fünfzehn-Dollar-Zuhörern das tägliche Programm, das der Aether bietet, mitgeteilt wird. Größere Absendestationen, die von Elektrizitätsgesellschaften zu Reklamezwecken betrieben werden, haben nämlich vollständige Programme zusammengestellt, die Orchesteraufführungen, Gesangvorträge, Reden von politischen Rednern und Predigern, Vorlesungen von Schauspielern und selbstverständlich auch Marktberichte und Schiffsnachrichten enthalten. Das Programm der Radiokorperation in New-York sieht zum Beispiel folgendermaßen aus: 11 Uhr vormittags Musik, Wetterbericht; 13 Uhr Musik, Marktbericht; 1 Uhr Musik; 2 Uhr Musik; 2 Uhr 5 Minuten Schiffsnachrichten; 3 Uhr Musik; 4 Uhr Musik; 7 Uhr Andersens Märchen, vorgelesen von Mr. Garton, der um 7 Uhr 25 Minuten einige Minuten zu den Eltern über Jugendbibliotheken und die Auswahl von Kinderbüchern spricht; 7 Uhr 30 Minuten Vorlesung des Kapitäns Frank Winch über indianische Tänze und das Leben in Wildwest; 8 Uhr bis 9 Uhr 30 Minuten Konzert; 9 Uhr 53 Minuten offizielles Zeitsignal und 10 Uhr Wettervoraussage.

            Den Spuren Nordamerikas folgt nun England. Postminister Kellaway hat im Unterhaus mitgeteilt, daß in acht Bezirken des Landes Stationen für drahtlose Telephonie errichtet werden sollen. Godfroy Isaaes, einer der Direktoren der Marconi-Company, erklärte, daß die gewöhnlichen Absendeapparate ungefähr sechs Pfund kosten und eine Tragweite von 25 bis 30 Meilen haben werden. Sie werden verkauft und nicht verpachtet werden. Die Apparate sind sehr einfach konstruiert und können im Eisenbahnzug oder im Automobil mitgenommen werden. Das Interessanteste an der Sache aber ist, daß die Marconi-Gesellschaft ihren Abonennten nicht bloß Darbietungen nach amerikanischem Muster gewähren will, sondern auch politische und lokale Neuigkeiten wie eine Zeitung. Nur Kurse und Marktberichte werden vorerst ausgeschlossen sein, weil nach den Verfügungen der Regierung die Arbeitsstunden des Personals außerhalb der Stunden des Geschäftslebens – von 5 Uhr nachmittags bis 11 Uhr nachts – fallen. Die Radiotelephonie schickt sich also an, den Zeitungen Konkurrenz zu machen. Es ist jedoch kaum anzunehmen, daß dieser Wettbewerb mit dem Sieg des drahtlosen Telephons enden wird. Die meisten Zeitungsleser haben ihr Leibblatt, aber selbst in diesem lesen sie nicht alles, was in ihm gedruckt ist, sondern jeder sucht den seiner Gedanken- und Geschmacksrichtung entsprechenden Inhalt heraus und überschlägt die übrigen Mitteilungen und Nachrichten. Auch sind die Bedürfnisse eines und desselben Lesers nicht an jedem Tage gleich. Heute interessiert ihn eine politische Debatte, weil er dem Gesellschafts- oder Geschäftskreis angehört, den das besprochene Thema betrifft, morgen jedoch hat er für die Politik nichts mehr übrig, aber er will über ein lokales oder Theaterereignis informiert sein, weil es sich um Bekannte oder einen von ihm sehr geschätzten Künstler handelt. Nur selten treten Ereignisse ein, welche die gesamte Bevölkerung ohne Unterschied der Gesellschaftsschichten und des Berufes interessieren. Und schließlich ist es ein besonderes Vergnügen, in einer oder mehreren Zeitugen zu blättern und das Auge über das Gedruckte hingleiten zu lassen.

            Dieser Psychologie des Zeitungslesers wird die Nachrichtenvermittlung durch das drahtlose Telephon nicht gerecht. Wer sich nur durch den Radioapparat über die Vorgänge in der Welt unterrichten lassen will, muß alles anhören, auch das, was ihn nicht interessiert. Er hört aber nicht bloß zu viel, sondern unter Umständen auch zu wenig, weil ja mitunter gerade Mitteilungen über Dinge fehlen, über die etwas zu erfahren er besonders erpicht ist. Er findet diese Neuigkeit vielleicht nicht in dem einen Blatt, sicher aber in einem anderen der vielen Zeitungen einer Großstadt, die er nur durchzublättern braucht. Und wenn er den Apparat zu spät einstellt und den Anfang einer hochinteressanten Nachricht oder den ganzen Bericht über einen wichtigen Vorfall versäumt? Ein Nachschlagen und ein Nachlesen gibt es nicht mehr. In entlegenen Orten, welche die Post nicht jeden Tag erreicht, wird der radiotelephonische Nachrichtendienst, der privaten Abonnenten direkt übermittelt wird, die Zeitung verdrängen können, aber in den Städten dürfte er kaum ein Konkurrent der Presse werden. Dort wird er sich darauf beschränken müssen, musikalische Aufführungen, Vorträge und etwa Wahlreden zu Gehör zu bringen, ohne daß die Zuhörer in den Konzertsaal oder in das Versammlungslokal gebeten werden müssen.

In: Neues Wiener Journal, 29.5.1922, S. 4-5.

Friedrich Porges: Das nackte Amerika

Es galt noch etwa vor drei Jahren für glatte Unmöglichkeit, in Amerika einen Film zu placieren, in dem halbnackte Männer oder gar nackte Frauen zu sehen waren. Der amerikanische Filmmanager wies derartige Filme mit Entrüstung zurück, indem er betonte, daß die amerikanischen Kinobesucher, ganz abgesehen von der Zensur, sich niemals ohne Protest derartige unmoralische Filmbilder vorführen lassen würden. Amerika war diesbezüglich fast noch sittenstrenger als das prüde England. Im Verlaufe der jüngsten Zeit scheinen sich nun auch in Amerika Moral und ethische Ansicht gründlich geändert zu haben. Nicht nur die Kostümfilme, die von drüben kommen, zeigen Darsteller, die weniger als nichts anhaben, auch in den Gesellschaftsfilmen sieht man bereits Szenen, die in ihrer ›Hüllenlosigkeit‹ weit von jener Auffassung abweichen, der die moralischen Amerikaner dereinst huldigten. Die neueste Attraktion ist, daß auch die schönen weiblichen Filmstars sich nicht mehr damit begnügen, die Reize ihrer schönen Augen und ihres wohlgeformten Mundes zu offenbaren, sondern sich auch bemühen, die tiefer liegenden Regionen des Körpers vorteilhaft zur Schau zu stellen. Marie Prévost1, die heute zu den anerkanntesten Schauspielerinnen von Hollywood gehört, hat eben ein ganz radikales Vorbild gegeben. In ihrem neuesten Film zeigt sie sich in einer Tanzszenen fast völlig nackt. Ein nicht allzubreites Band aus dünner Seide umschlingt ihren Busen und ein lose gebundenes Tuch, nicht größer als eine knappe Schwimmhose, verhüllt die – übrigen Reize.

In: Die Bühne, H. 14, 12.2.1925, S. 35.


  1. Lebensdaten: 1989-1937; Prévost war Mitte der 1920er eine der zentralen Schauspielerinnen in Ernst Lubitsch-Filmen wie z.B. The Marriage Circle (1924), Three Women (1924) oder Kiss me Again (1925) vgl.: http://www.imdb.com/name/nm0696679/ bzw.: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Ehe_im_Kreisehttps://de.wikipedia.org/wiki/Drei_Frauen_(1924)