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Joseph Gregor: Republik und Theater (1919)

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Josef Gregor: Republik und Theater

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

M. Feichtlbauer (Salzburg): Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur

Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.

Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur.1 Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.

Von Studienrat Prof. M. Feichtlbauer (Salzburg).

    Schon im fünften Kapitel seines Buches „Der Kampf mit dem Drachen“ stellt Forst de Battaglia den kläglichen Zustand der heutigen Dramenliteratur fest. Im siebten Kapitel seines Buches, betitelt „Die Schaubühne als antimoralische Anstalt“, widmet er dem heutigen deutschen Theaterstück eine besondere Betrachtung. Das Ergebnis ist betrüblich, aber es müssen zuvor Götzen zertrümmert werden, wenn Echtes zur Anerkennung gelangen soll. Wer sich beruflich mit Literatur beschäftigen muß und dabei das Werden unserer dramatischen Dichtung verfolgt hat, dem ist dieses Kapitel so ganz aus der Seele geschrieben.

    Schon die Einleitung Battaglias ist interessant: „Die dramatische Muse von heute hat drei Väter: Wedekind, Sternheim und Georg Kaiser. Zwei Dichter, zwei Denker, zwei Clowns. Wedekind: Dichter und Clown, Sternheim: Clown und Denker, Kaiser: Denker und Dichter. Doch wie beim satyrischen Roman führt auch hier beim satirisch-satyrischen Zeitstück, das jener epischen die dramatische Hin- und Herrichtung der Tradition folgen läßt, die Ahnenreihe weiter, weit zurück. Jedenfalls bis zu ihm, dem die Schaubühne eine moralische Anstalt war, weshalb er die herrschende Moral seiner Zeit befehdete: zum Friedrich Schiller ‚Der Räuber‘ und von ‚Kabale und Liebe‘… . Die Motive Schillers und des ‚Sturm und Drang‘ der Lenz und Klinger sind auch die der modernsten Dramatik. Grabbe und Büchner folgen: genialisch-antibürgerlich, antimoralisch, lüstern-lustig, bitter-erbitternd, unflätig, höhnisch, witzig, literatenhaft-weltmännisch, aristokratisch-demokratisch, herzhaft-zerebral, den Westen um seinen Schwung beneidend und den Osten um die Freuden des Diwan.“

    B. spricht von der „Tendenz“, die den Zeitstücken, wie sie gespielt werden, zugrunde liegt und die keine andere ist, als: Sturm gegen jedwede Autorität: Staat, Monarchie, Familie, ständisch aufgebaute, nach Klassen gegliederte Gesellschaft. „Die Heutigen (im Gegensatz zum jungen Schiller) möchten die Autoritäten zerstören, entweder aus anarchischer Freude am Chaos oder um einem völlig Neuen, noch Ungekannten die Straße zu bahnen. Weit klarer (und sehr wirkungsvoll) tritt auf der Bühne diese Absicht hervor als im Roman, wo sich die Tendenz leichter hinter der Erzählung verbergen kann.“ So kehren denn in der Tages- und Zeitdramatik immer die gleichen Motive wieder: Väter und Söhne, eheliche Verhältnisse, besonders Eheirrungen, Staat, Gesellschaft. Und „der Weisheit letzter Schluß: alles muß verungenieret werden“.

    B. weist bei den einzelnen Motiven mit beißendem Sarkasmus darauf hin, wie diese an sich so wichtigen Verhältnisse von unseren Dramatikern ins Gemeine verzerrt und mit souveräner Willkür behandelt werden: „Adel, Großbürger sind Schwachköpfe und Ausbeuter, die Kleinbürger sind Speichellecker und filzige Witzblattläuse, die Proletarier sind leider, leider durch lange Knechtschaft entartete gefallene Engel; erst an der Schwelle von Bordell und Zuchthaus beginnt die Großheit des neuen Menschen.“

    Nun marschieren diese Zeitdramatiker nach der Reihe auf. Allen voran S t e r n h e i m: „Sternheim vermengt Drama und satirische Publizistik. Er stellt nicht nur komische, karikierte Gestalten auf die Bühne, … er beansprucht nicht nur, die deutsche Wirklichkeit seiner und der unmittelbar vorausgegangenen Epoche abzubilden, er fordert auch, daß wir die Karikatur als Wirklichkeit hinnehmen und hernach auf Grund der aus dieser karikierten Wirklichkeit gewonnenen Erfahrungen seine, Sternheims, im Dialog zerstreuten, doch darum nicht minder deutlichen Schlußfolgerungen: die Tendenz seines Schaffens mit Beifall bedenken. Ein Publizist, ein Zerrbildzeichner des ‚Simplizissimus‘ kann sich das erlauben. Seine Karikaturen sind stumm, und sie lassen jedem die Freiheit, sich zu ihnen den Text zu machen. … Die Figuren auf der Bühne gehören entweder ins Reich der Phantasie: die satirische mitinbegriffen, oder in das der Wirklichkeit. Doppeltes Bürgerrecht ist ihnen nicht zugebilligt.“ Durch einen Hinweis auf französische Dramatiker zeigt B., wie echte Dichter zu Werke gehen, und erklärt: „Sternheims Reihe der bürgerlichen Heldenleben ist ein zusammengekleisterter Film von Simplizissimusbildern. Jedes einzelne ergötzlich, wenn man es zweidimensional auf dem Papier betrachtet. Alle zusammen aufreizend, wenn sie dreidimensional über das Theater spazieren und uns typische Wirklichkeit, so etwas wie einen Kern der deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, vorgaukeln. Alle zusammen lächerlich nur und nicht belustigend, wenn sie als Plaidoyer [sic] im Prozeß gegen die herrschende Gesellschaftsordnung gelten wollen.“

    B. zergliedert Sternheims Stücke, zeigt, wie unglaubhaft die Handlung, die Charaktere sind, und von welch „wahrhaft grandseigneurialer Wurstigkeit Sternheims Geschichtsumrahmung“ ist. Ein anderer Zeit- und Modedichter ist  G e o r g  K a i s e r. Zwar billigt ihm B., soweit es sich um die  m i t t l e r e  Periode von Kaisers Schaffen handelt, ungleich mehr Künstlertum zu als Sternheim, aber nach fünf Jahren „erlosch in ihm der poetische Funke, und seelenlos, von einem gut eingearbeiteten Mechanismus getrieben, produzierte seither eine Automate, die den Namen und die äußeren Züge des Denkspielers Georg Kaiser trägt“.

    Nach einer Analyse des Stückes: „Oktobertag“ fragt B.: „Ward jemals der Stumpfsinn zu spitzfindigerem Zweck mißbraucht? … Von französischen Verhältnissen hat Kaiser so viel Ahnung wie ein Fulbe von der altmexikanischen Kunstgeschichte.“ Wir erfahren, wie einerseits Sudermann, anderseits Courths-Mahler bei Kaisers Stücken: „Oktobertag“, „Zwei Krawatten“ Pate gestanden sind, und wie auf ein drittes Stück wirklich kein anderer Name gehört als: „Kolportage“. „Vor 50 Jahren war das, je 10 Pfennig das Heft, auf der Hintertreppe an romantische Köchinnen zu verkaufen gewesen. Heute geraten wir in Verlegenheit, wo wir mit der Kritik anfangen sollen. Bei der Handlung? Sie ist die Ausgeburt einer jeder Kraft verlustig gegangenen Einbildungskraft. Bei den Charakteren? In jedem Wachsfigurenkabinett finden wir echteres Leben. Beim Aufbau? Diese Exposition übertrifft, schier unerhört, aber wahr, die des ‚Oktobertags‘ an Schleuderhaftigkeit. Bei der Sprache? Sie schwankt zwischen übersteigerter Manier des Kaisers, da er noch super grammaticos thronte, und einer zweiten kleinbürgerlichen Manier, der sich kein Blatt der Hausfrau mehr in seinen Romanen aus dem Leben der Hochgebornen befleißigt.“

    Dann geht B. zu einem dritten Stückschreiber, zu  E r n s t  T o l l e r  über, dem „Freund der Tiere, Schätzer der Menschen und Feind der Götter“. Einleitend charakterisiert er dessen Schaffen: „Eine mit Ausdauer des perpetuum mobile sich drehende Grammophonplatte humanitärer Sätze und Leitsätze. Ein Katapult, von dem ein ununterbrochener Regen von Phrasen gegen die Vorwände der bürgerlichen Staatsmoral donnert. Ein Tyrtäus revolutionärer Lieder, deren Sturmesbrausen schüchterne, echte Töne des Dichters überdröhnt. Ein gewissenhafter Hausvater in der Schaubühne als antimoralischer, d. h. unserer überlieferten Gesellschaftsordnung und Moral feindlicher Anstalt. Toller fängt meist mit einer zerstörten Idylle an, wagt Proben ernsthafter Charakterzeichnung. Bald jedoch geht er zum Pathos der Wahlreden über. … Das abwechselnde Duett des politischen Leitartikels und der populären Aufklärungsschriften läßt dann bis zum Schlusse keine künstlerische Gestaltung des Stoffes aufkommen.“ Aus den Stücken beleuchtet B. den „Deutschen Hinkemann“, „welches Drama noch am ehesten von der Liebe zu den Unterdrückten und vom Haß gegen die angeblichen Unterdrücker hervorgebracht“ ist, muß aber auch von diesem bekennen: „So wie Hinkemann empfinden keine deutschen Arbeiter. … So wie in diesem Melodrama reden keine deutschen Proletarier. Von der ersten Szene an: Theaterfiguren, nicht etwa Gestalten, gewordenes Empfindungsleben und Denkspiel eines Literaten.“

    Es folgen nun mehr oder weniger ausführlich jene Dramatiker, die unsere moderne Bühne „mit Stücken versehen“, wie Rehfisch, Brecht und Mehring, diese „beiden Machtpolitiker im Geisteskampf, überzeugt, das beste Beweismittel sei, den Gegner totzuschlagen“, weiter Lampel, Friedrich Wolf, Bruckner, Hasenclever, Bronnen und schließlich Zuckmayer. B. zeigt bei allen sowohl die Verwerflichkeit der dargestellten Ideen als auch die Mängel in künstlerischer Hinsicht. Über  Z u c k m a y e r  mögen einige Sätze hier Platz finden. „K. Zuckmayer ist kein Dichter, er könnte ein ausgezeichneter Komödienschreiber sein, der mit reichlich vorhandenen Mitteln den anständigen Unterhaltungsdrang einer nicht zu anspruchsvollen Zuschauerschaft befriedigte. Im ‚Fröhlichen Weinberg‘ ist ein lustiger zweiter Akt, in dem mit Ausnahme von ein paar unechten sentimentalen und unnötigen ressentimentalen Sätzen alles den Stempel der Echtheit trägt und auf der Bühne wirkliches Leben herrscht. … Der Literat Zuckmayer hegt höhere Ambitionen. Er schickt diesem zweiten einen ersten Akt voraus, der eine schmierige Exposition, und er läßt einen dritten folgen, der in vier simultanen Akten eine üble Schwanklösung bringt. Die Charaktere entstammen entweder dem Simplizissimus oder den ‚Fliegenden Blättern‘. Nicht originell ist die Veräppelung des schwächlichen Übermenschen, aber der symbolische Misthaufen, der ist originell.“ Dann folgen einige Proben, die uns Zuckmayers Ansicht über „Sittlichkeit“ bekunden und seine Auffassung von Freiheit der Liebe, des Gedankens usw. Das Kapitel schließt: „Die Zahl der emsigen Arbeiter in fröhlichen Weinbergen ist Legion. … Das Ganze wäre nicht der Rede und der Schreibe wert, streifte nicht diese frisch-fröhliche Produktion von Stärkemitteln des öfteren das Gewand dramatischer Würde über, hätte sie nicht sogar durch den Kleist-Preis Krönung empfangen. … Wir durchforschten vergeblich die deutsche Schaubühne von heute nach einem Theaterwerk, das in der Geschichte, in dieser auf der Szene zu erneuernden, nie abgeschlossenen, stets lebendigen Handlung, die Väter: die Überlieferung, die Besinnung auf die Wurzeln des nationalen Daseins fände; ein Drama, das diesen seinen würdigsten Stoff mit kongenialen Geiste, Leben wiederschaffend, durchdränge. Wohl reiften und reifen bei Dichtern, die abseits vom Trubel verharren, einige über die Zeit hinausblickende Werke. Doch unter den Kassenstücken, den Klassenstücken, den Massenstücken werden wir nichts davon antreffen. Die Schaubühne ist, traurig genug, zur Anstalt, und dreifach beklagenswert, zur antimoralischen Anstalt geworden.“

In: Schönere Zukunft. Nr. 9, 29.11.1931, S. 201ff.


  1. Siehe auch Nr. 7 und 8 der „Schöneren Zukunft“!