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Ernst Lothar: Der Künstler und der Staat

Wenn man einen mit geistigen oder gar mit schöngeistigen Dingen befaßten Menschen bei uns fragte, ob ihm der Staat etwas bedeute, was er von ihm erwarte, wie er sich ein künftiges Österreich denke; wenn man mit ihm über „Politik“ spräche, dann lächelt der befragte Dichter, Komponist, Maler, Regisseur, Aesthet wohl malitiös, zögerte und erwiderte dann: „Wissen Sie…, davon verstehe ich nichts. Der Staat? Nein. Darum kümmere ich mich gar nicht…“ Das Zögern zwischen dem Lächeln und der Antwort aber hieße: „Gott sei Dank verstehe ich von diesem Quark nichts. Das wäre nach schöner, wenn unsereiner sich mit so etwas abgäbe!“ Mit einem Wort: was ihn lächeln, was ihn zögern machte, wäre: Mißachtung. Entrüstung, daß man ihm dergleichen zuzumuten wage. Abweisung so schnöder, kompromittierend ungeistiger Interessen, wie die Dinge des Staates es für einen Schöngeist sind.

Das ist nicht neu in Österreich. Es war lange vor dem Kriege so, wo Dichter wie Anastasius Grün sich damit abfinden mußten, von Schreibern wie Hofenthal als „k. k. Rhythmiker“ bewitzelt und „ungeistig“ gemacht zu werden; es war knapp vor dem Kriege so, wo ein beharrlicher Aesthet einem Drama Arthur Schnitzlers bedauernd nachrief: „Immer wieder Österreich!“ – das gehört bei uns zur geistigen Uniform und ist leider heute nich immer ein Distinktionsabzeichen geblieben. Aber vor dem Kriege hatten die Funktionäre des Geistes immerhin die Ausrede der Zensur, das heißt, sie brauchten, woran sie unbeteiligt waren, nicht zu äußern, weil die Zensur die Aeußerung jener Meinungen unterband, die sie nicht hatten. Mit einer so probaten Draperie ließ selbst die absolute Interesseleere sich verhüllen, und man konnte jedes Schweigen statthaft finden, wo die Voraussetzung des Redens, wahr zu sein, nirgendwo bestand. Grillparzer, der ein lebenslanges Denken, Dichten  und Reden über Österreich mit seinem Rang vereinbar hielt, Bauernfeld, der vom Staate schrieb, da er in ihm lebte, Saar und Stifter, die für die Landschaft zeugten, der sie sich verschrieben hatten, äußerten Zorn über die Handfesseln, worin die Zensur die freie Gebärde zwang, ohne daß sie sich den Mund dadurch verbieten ließen. Doch diese Fessel ist ja jetzt zerschnitten und es stünde nichts im Weg, daß die Menschen des Geistes zu den Dingen des Staates ihre Meinung äußerten oder, bescheidener gesprochen, diese Meinung hätten.

             Nichts davon zeigt sich, Geist und Staat gelten bei uns als Begriffe, die einander ausschließen. Dieser Erscheinung auf den Grund zu gehen, dürfte nützlich sein, weil sie täglich krasser einen staatlichen Zustand schädigt, der, der Teilnahme der Welt wie nie bedürftig, zuerst der Teilnahme seiner eigenen Bürger bedürfte; unter ihnen besonders jener, die als Menschen des Geistes berufen wären, die Dinge des Geistes zu beeinflussen. Allein hier erhebt sich ja das doppelte Hindernis, welches diese Menschen vom Staate und seinen Bedingungen fernhält: Sie wünschen, Weltbürger zu sein; sie leugnen, daß die Dinge der Politik Dinge des Geistes sind. Sie haben völlig recht und völlig unrecht. Wenn sie, deren Beruf es ist, dem Geiste zu erstatten, was sie von ihm empfangen, in der politischen Fabrik das Schwungrad des Genies vermissen, dann haben sie recht. Wenn sie allzu viele Figuranten auf der politischen Tribüne unbedeutend, das von ihnen veranstaltete Schauspiel peinlich finden, dann haben sie recht. Wenn sie, die das Große und das Unvergängliche, das Zarte und Erhabene vor Augen tragen aber es zu tun behaupten, die Menschenstimme im Gebrüll, die Sache in ihrer Verdrehung, das Politische im Parteipolitischen nicht wiedererkennen und angewidert sagen: „Alles das widerstrebt uns!“, dann haben sie abermals recht. Doch indem sie diese richtigen Prämissen aufstellen, ziehen sie daraus die falschesten Schlüsse. Statt nämlich zu sagen: „Diese Art, mit den Dingen des Staates umzugehen, stößt uns ab, folglich sollten wir eine anziehendere herbeiführen helfen“, urteilen sie: „Weil die Staatsmaschine widrig knarrt, darf der geistige Mensch sie überhören.“ Der Irrtum, der hier stattfindet, springt in die Augen, ohne daß man ihn sehen wollte: man verurteilt die Sachwalter und entzieht sich der Sache.

             Wie ausnahmslos dies geschieht, wie verantwortungs- und teilnahmslos die geistigen Menschen in Österreich dem Staate gegenüberstehen, konnte jeder erfahren, der in den letzten Jahren einer österreichischen Parlamentssitzung angewohnt hat. Kein Zweifel, daß in diesem Rundsaal unheimlicher Akustik, wo jede Rede überlaut Zeugnis dafür ablegt, was nicht gesagt wurde, auch Vertreter der Gehirne sitzen und daß, hüben und drüben, sich ehrliche Überzeugung, Talent, Kenntnis, Routine, brave Tüchtigkeit versammeln. Wer aber könnte daran vorbeigehen, daß in diesem pompösen, mit allen Emblemen stolz geschmückten Kuppelraum das Emblem des Genies fehlt und daß, so hoch die gläserne Kuppel über den Redenden sich ständig wölbt, so tief das Niveau ihrer gelegentlichen Zänkereien sinkt, von keinem Einfall befeuert, vom Ingenium kaum jemals faszinierend aber versöhnend angestrahlt. Gewiß: ein Parlament ist weder eine Akademie der Künste noch ein Theatersaal, und Volksvertreter müssen, da sie namens des Volkes sprechen, auch zum Volke sprechen. Dies hat jedoch mit einer bezeichnenden Feststellung nichts zu tun: In diesem Parlament sitzt kein Dichter, kein Künstler, kein einziger, den man außer aus dem Wahlkreis, aus dem Weltkreis seiner Werke kennt.  

Ein beschämenderes Zeugnis für die Gleichgültigkeit, die unsere geistig Beteiligten dem Staate entgegenbringen, gibt es nicht.

             Aber sie wollen ja Weltbürger sein und vernachlässigen darum das Lokale. Was ist ein Weltbürger? Jemand, der anteilhaft das Zimmer flieht, um den Horizont zu gewinnen. Jemand also der, da er in einem unbeschränkten Sinn zu urteilen strebt, zu einem solchen auch beitragen müßte. Wer war ein Weltbürger, dessen Beispiel unangreifbar bleibt und den gerade die heutigen Erbpächter des Geistes, die sich am liebsten „Europäer“ nennen, als Schutzpatron reklamieren? Es war der Staatsminister Goethe. Sonderbares Zusammentreffen. Jener verehrungswürdige deutsche Weltbürger – großherzoglicher Aktuar, Block Zehn pünktlich im Konseil, wo es darum ging, Wegmauten nach Straßfurth zu tarieren, die Ilmenauer Chaussee mit Ahornschößlingen zu dotieren, den Reisediäten des Kameraladjunkten Iffetzheimer etwas abzuknapfen… zwei Taler einundzwanzig Groschen. Wie versäumt der Weltbürger die kleinstädtischen Amtstunden, widmet halbe Tage, zur Zeit des Theaterbrandes sogar die Nächte, den Regierungsgeschäften, will sagen, den Duodezagenden eines Ländchens. Ein Wesenswiderspruch? Eitle Schwäche des auf Manifestation bedachten Mannes, der gewünscht hat, mit einem Brillantstern am Bratenrock zu glänzen? Der billige Einwand zeigt seine Dürftigkeit, wenn ihn an des Menschen Erscheinung mißt, gegen den man ihn erhebt. Worin lag Goethes Singularität? In seiner Universalität. In dieser ungeheuren, seit Aristoteles nicht dagewesenen und später nie wieder erreichten Umspannung des geistigen Gehalts der Erde; in dieser unvergleichlichen, fast gierigen Bereitschaft, das Vorhandene sich zuzueignen, zu durchforschen, zu erkennen; in dieser unfaßbaren Fähigkeit, die dauernde Begierde dauernd zu machen stillen und das Wissen der Welt hinter eine Stirn zu speichern! Der Spezialist, der zu Goethe eintrat, fand einen Mann, mit dem über die speziellen Dinge zu reden leicht war. Denn er redete die Sprache des Botanikers wie die des Malers, die des Musikers nicht ungeläufiger als die des Geologen, die des Physikers so vollkommen wie die des Juristen… wer zu ihm in das fremde Haus kam, fand die eigene Arbeitsstätte wunderbar dahin versetzt und ein brennendes, unersättliches Interesse an allem Interessanten. Und interessant war – alles! Denn Goethe verfiel nie in die unerträgliche Manier so vieler jetzigen Schaffenden, die (was nur ein Zeichen menschlicher Unterlegenheit ist) in jedem Gespräch nichts als den Umweg zu sich selber, in jedem Augenblick nur das Postament suchen, sich und ihre Ueberlegenheit darauf zu stellen, sondern sammelte wie ein tiefer gewölbter Spiegel die Lichter, Reflexe und Schatten der Erscheinungen. Alle waren ihm wichtig. So hätte er kein Wort entschiedener verleugnet und für einen geistigen Menschen armseliger gefunden, als die von Ueberhebung triefende Bescheidenheit: „Davon verstehe ich nichts.“ Gerade der sublime Wille, alles zu verstehen, macht ja aus irgendeinem Bürgerssohn den Botentaten Goethe, aus einem Provinzhaus am Weimarer Frauenplan das Gebäude einer geistigen Welt. Stand es anders um Voltaire? Und (unserer Zeit näher) um Tolstoi, Anatole France, Zola, Romain Rolland, Shaw? Haben diese großen Europäer je den Staat bagatellisiert?

             Von ihrem geistigen Mut findet sich bei den Künstlermenschen von heute blutwenig. Dafür um so mehr von einem Hochmut, der die dahintreibt, allem außer ihrem Wirkungsbezirk Gelegenen den Stempel „unwichtig“ und „unkünstlerisch“ aufzubrennen. Da jüngst in einem Kreise von Künstlern ein Richtkünstler die Rede auf die geplante österreichische Künstlerkammer brachte und ein politisches Gespräch begann, schnitt ein Musiker die Diskussion mit der Bemerkung ab: „Ich bitte Sie… ein Takt der Neunten ist mir wichtiger als das alles!“ Ich gebe diese Äußerung wörtlich wieder, weil sie als typisch gelten darf und den Zwangsvorstellungskreis illustriert, worin die geistige Feudalwelt sich gern ergeht. Den Menschen, neben denen die Erde sich spalten könnte, ohne es ihnen minder wichtig zu machen, daß um halb Elf eine Generalprobe und daher ein Erdbeben (das sie verschonte) von geringer Importanz ist, gibt es nicht wenige. Man pflegt sie hochachtungsvoll mit jener Besessenheit von ihren eigenen, den Dingen der Kunst, zu rechtfertigen, die so verwandt mit Bedeutung und so benachbart der Genialität erscheint. Ist ein Ausspruch wie der des Musikers, der von einem Takte der Neunten demütig den Hut zieht, um ihn vor der Not der Zeit auf dem Kopfe zu behalten, nicht des Beifalls sicher, weil er so ins Magische zielt und zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit die Bolte schlägt? Es liegt mir, weiß Gott, fern, die Ueberzeugung eines Menschen zu verdächtigen, der es mit der Neunten hält. Was dagegen mißlich ist und worin (mehr als in der Besessenheit) der Grund für solch lapidare, als Weltanschauungen kostümierte Dikta liegt, das ist, mit Verlaub, die Unbildung derer, die sie aussprechen. Ihre vehemente Unbildung. Denn während ein geistig-ästhetisches Spezialistentum überhandnimmt; während es gang und gäbe geworden ist, daß etwa jemand, der ein Orchester meisterhaft dirigiert, nie etwas Gedrucktes liest als Partituren oder Rezensionen  über Partituren; während es so weit kam, daß ein Schriftsteller von Rang am Tage der Nürnberger Eisenbahnkatastrophe die Frage, was es Neues in der Zeitung gebe, mit der Erklärung beantwortete: „Hofer scheint in Berlin gefallen zu haben!“ ; während allenthalben eine ungeheure begriffliche Wertverschiebung sich ereignet: kann es geschehen, daß jemand die Neunte Symphonie mit einer Fürsorgemaßregel vergleicht, jene wichtig, diese außer seiner Sphäre findet und dafür als Europäer geachtet, statt als Schwätzer überhört wird. Der Neunten zu bestätigen, daß sie eiwg ist, dürfte entbehrlich sein. Sicher ist, daß sie mit dem Staate so viel zu schaffen hat wie der Bestätiger mit universellen Interessen.

             Man interessiert sich zu wenig für das Allgemeine in den Elfenbeintürmen der Kunst; man weiß dort zu wenig. Die Kenntnisse, die man dort von den primitivsten staatlichen Bedingungen hat, werden von Bürgerschülern übertroffen, und blättert man etwa einen heutigen Roman auf, dann man sich darüber wundern, was alles der Verfasser nicht wußte, Der Künstler ignoriert den Staat. Gar die Zumutung, jenes „politische Geschöpf“ zu sein, als das ein großer geistiger Ahnherr die Menschen betrachtet hat, hielte er für komisch. Traurig, daß er das tut, wirksame Kräfte einem bedeutenden Gebiet und diesem Gebiete damit die Bedeutung raubt. Als ob Geist und Staat, jener diesen bestimmend, nicht Gemeinschaft, ja ein Aufeinandergewiesensein verbände! Erst kürzlich hat ein berühmter deutscher Gelehrter den Beweis zu führen versucht, daß Kunst und geistige Kultur zur Voraussetzung – den Staat hätten, daß „Kultur nur im Staate, hochentwickelte Kultur nur im höchstentwickelten Staate gedeihe“, was eine Hypothese, dich eine solche ist, die ihre historischen Schwächen mit eminenter Gegenwartskraft stützt: durch die Dokumentierung des organischen Zusammenhanges, der den Rechtsstaat an den Geist als seinen Schöpfer und Gestalter bindet, jene unendliche Beziehung, die Leffing als die „Affinität der Politik, Ideal und Idee“, Carlhle mit dem Worte von den „Gehirnstunden in der politischen Uhr“, Montaigne als eine „freie Ehe zwischen dem Trieb und seiner Veredlung“ bezeichnet: jeder in einer anderen Sprache, alle in derselben Ueberzeugung. Eine Beschäftigung mit Dingen, die (nach einem Worte Shaws) „fabelhafte, von den landläufigen Dummköpfen unter den Literaten gar nicht begriffene Möglichkeiten habe“, kann, meine ich, niemandes Geistigkeit herabsetzen. Sich für ihre Heimat zu interessieren, das heißt sie mitzuverantworten, ist also auch schöngeistigen Professionisten ohne Bestaubung ihres europäischen Mantels erlaubt.  Nein. Es ist ganz einfach ihre Pflicht. Die Zeit der „splendid isolation“ ist vorbei. Heraus aus den Elfenbeintürmen! Das würde, durch die nähere Berührung mit dem Leben, der Kunst zustatten kommen, deren Weltbürgerlichkeit an Weltfremdheit leidet. Und es würde, durch die nähere Berührung mit dem Geist, dem Staate zustatten kommen, der des Weltbügrertums bedarf. Denn dem Gemeinwesen, worin man lebt, den Anteil zu verweigern, heißt keineswegs ein Europäer, sondern bis zur Unverträglichkeit egoistisch sein, oder aber …: ein Snob.

In: Neue Freie Presse, 12.8.1928, S. 1-3.

Emil Reich : Die Revolutionäre des russischen Theaters

Aus einer Unterredung mit dem Bevollmächtigten der Moskauer Schauspieler Iwan Nikolajewitsch Bersenow.

Der Bolschewismus hat das Aussehen Rußlands vollkommen verändert. Er hat das Unterste zu oberst gelehrt, er hat manche Erscheinungsformen des menschlichen Daseins vernichtet, andere so gewandelt, daß sie nicht wieder zu erkennen sind. Aber eine Säule ragt heute noch ungebrochen und selbst ohne den mindesten Sprung weit über das Trümmerfeld hinaus: die wahre, echte Kunst, zu der Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko auf dem Boden Moskaus den Grund gelegt und, mit nie ermüdender leidenschaftlicher Hingebung weiterbauend, diese bis zur Höhe einer stolzen Siegessäule emporgehoben haben. Wer hier in Wien die künstlerischen Leistungen der Truppe des Moskauer Künstlertheaters sieht, wer hier mit den Mitgliedern dieser Schar spricht, deren helle Begeisterung für die Sache, der sie ihr Leben geweiht haben, jedem ihrer Worte Schwung verleiht, der muß die Gewißheit mitnehmen, daß diese Kunst auch nicht durch die wildesten politischen Stürme und ebensowenig durch den härtesten wirtschaftlichen Druck zu Fall gebracht werden kann, der weiß, daß das Haus „Tschechows“ den Bolschewismus und andere Formen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens überdauern wird.

Die Volkskommissäre haben natürlich auch das Moskauer Künstlertheater „sozialisiert“. Aber war es denn nötig, diese Bühne zu sozialisieren? Mit der Sozialisierung wollen die Bolschewiken den größtmöglichen Leistungseffekt und eine gerechte und würdige Beteiligung der diesen Effekt Schaffenden am Erfolg erzielen. Sie haben diese Absicht – wenigstens mit den Methoden, die sie anzuwenden beliebten – nicht zu verwirklichen vermocht und sind von ihren in den heutigen Verhältnissen wertlosen Nationalisierungsprojekten bereits abgekommen. Das, was sie vergeblich anstrebten, haben jedoch die Moskauer Künstler in eigenem Kreise ohne Gewaltmaßnahmen, sondern aus freien Stücken und mit ihrer reinen Kunstbegeisterung von allem Anfang erreicht und – man muß schon sagen – trotz der bolschewistischen Sozialisierung zu bewahren gewußt. Die höchste, vorbildlichste Kunstleistung ist zur Tatsache geworden, die weitesten Volkskreise sind in der Lage, sie zu genießen und die am Werke Tätigen können ihres Lebens auch in irdischer Hinsicht froh werden. Man lasse sich von Iwan Nikolajewitsch Bersenew, dem Bevollmächtigten der Schauspieler, die jetzt in Wien gastieren, die Geschichte des Moskauer Künstlertheaters erzählen und seine innere Struktur schildern, und man wird zugeben müssen, daß nicht nur die schauspielerischen Darbietungen der Moskauer, sondern auch die von Ihnen aufgebaute Organisation mustergültig ist.

In den Neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts faßte ein kleiner Kreis von acht Personen, mit Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko, den kühnen Plan, das russische Theater zu modernisieren. Sie gründeten mit Hilfe des Mäcens Morosow, eines der größten Fabrikanten Rußlands, eine dramatische Schule und ein Liebhabertheater. Die Idee fand solchen Anklang und die ersten Erfolge waren so vielversprechend, daß nicht lange hernach der Lieblingsgedanke der Gründer, ein gegen sehr mäßige, man kann sagen volkstümliche Preise zugängliches öffentliches Theater zu errichten, in die Tat umgesetzt werden konnte. Wieder war es Morosow, der die Künstler mit Feuereifer unterstützte, reichliche Geldmittel zur Verfügung stellte – der für das Theater auserwählte, bereits vorhandene Saal mußte unter großen materiellen Opfern umgebaut werden – und mit Rat zur Seite stand, oft ganze Tage mit den Künstlern und beim Bau verbringend. Am 14. November 1898 wurde die neue Bühne mit Alexej Tolstois „Zar Fjodor Ioanitsch“ eröffnet. Es war ein sensationelles Ereignis, ein Riesenerfolg auf dem Gebiete der Darstellung und der Ausstattung sowie in materieller Beziehung. Moskwin, der die Rolle des Zaren gab, wurde über Nacht mit einem Schlage aus einem Schüler der dramatischen Kunst ein großer gefeierter Schauspieler und der Herold einer neuartigen Bühnenkunst, jener großen Kunst, die wir heute an den Moskauer Gästen bewundern. Schon nach zwei Jahren war die Gesellschaft so erstarkt, daß sie sich um ein größeres Haus umschauen mußte. Sie übersiedelte in das Theater in der Straße Komergerski Pereulok, das nach den Plänen der Künstler mit den modernsten technischen Hilfsmitteln, darunter auch mit einer Drehbühne, ausgestattet wurde. Mit der Premiere von Tolstois Zarenstück im alten Hause hatte die Revolutionierung der russischen Theaterwelt begonnen, mit den Aufführungen von Tschechows Werken wurde sie kräftig und erfolgreich fortgesetzt. Die in Petersburg so gar nicht verstandene und in der dortigen Darstellung zum Mißerfolg verurteilte Erstlingsarbeit Tschechows „Die Möwe“ erlangte in Moskau die richtige Würdigung und verhalf den Schülern Stanislawskis zu einem neuen glanzvollen Siege. Zur Erinnerung an dieses denkwürdige Ereignis führt das Moskauer Künstlertheater in seinem Emblem die Möwe und auch auf dem Bühnenvorhang des Moskauer Hauses ist dieser Vogel abgebildet. Die Aufführungen der anderen Dramen Tschechows fanden denselben, wenn nicht noch größeren Beifall der Kritik, des Publikums und der Kollegen der übrigen Bühnen Rußlands und da dieses Dichters Worte nirgends so allgemein verständlich interpretiert, das in seinen Werken sich widerspiegelnde russische Leben so wahrheitsgetreu vorgeführt wurde, hieß das Moskauer Künstlertheater nicht bloß im Volksmund der Kremlstadt, sondern auch im ganzen weiten Zarenreich bald nicht mehr anders als das „Haus Tschechows“.

So war das große Ziel, das Stanislaswki und Nemirowitsch-Dantschenko sich gesteckt hatten, erreicht. Doch es konnte nur erreicht werden, weil die Schauspieler und alle übrigen an diesem Theater künstlerisch beteiligten Personen sich mit ganzem Herzen und bedenkenlos der hohen Aufgabe widmeten. Das war zum großen Teile wieder bloß möglich, weil die Organisation und Einrichtungen dieses kleinen Bühnenstaates die Verantwortung auf die Schultern aller verteilten und jedem einen würdigen Anteil am Ertrag sicherten. Von allem Anfang an gab es keinen Unternehmer und keinen Direktor. Ein selbstgewähltes Kollegium trifft die Auswahl der Stücke, verteilt die Rollen und führt die Regie. Jeder einzelne Kollege weiß, daß von seiner ernsten, hingebungsvollen Mitarbeit der Erfolg abhängt. Jeder hat eine bestimmte Monatsgage, aber am Ende des Jahres wird der Reingewinn auf alle aufgeteilt. Zweieinhalb Monate im Jahre werden Ferien gehalten, während der keiner der Schauspieler etwa wie bei uns Sommergastspielfahrten unternimmt. Diese Zeit ist der Ruhe gegönnt. Es werden nur Ensemblegastspiele veranstaltet; indessen bleibt die Moskauer Bühne geschlossen. Die trostlosen Verhältnisse unter der Bolschewikenherrschaft haben jedoch einen Teil der Angehörigen dieser Republik gezwungen, mit dieser Tradition zu brechen, um ihr Heil außerhalb Moskaus zu suchen, obwohl das „Haus Tschechows“ weiterspielt. Dieses wurde in der letzten Zeit sozialisiert – die Schauspieler wurden vom Staat entlohnt und der Eintritt ins Theater war unentgeltlich -, aber jetzt ist es wieder freigegeben worden und führt den Betrieb wie in den früheren Zeiten fort. Der Zufall wollte es, daß der größere Teil des Ensembles der Moskauer sich zu einem „Erholungsgastspiel“ im Sommer 1919 in Charkow zusammenfand. Vierzehn Tage wurde gespielt, dann zwei Monate auf dem Land der so notwendigen körperlichen Kräftigung gewidmet. An eine Rückkehr nach Moskau, wo die Verhältnisse immer entsetzlicher wurden, war jedoch nicht zu denken. Da überdies die Zustände auch in Südrußland unleidlich wurden, ging die Truppe auf die Wanderschaft ins Ausland.

Auf der Wanderschaft fühlten sich die Moskauer Künstler wie daheim als eine einzige Familie. Es herrscht dieselbe Eintracht und dasselbe Pflichtgefühl, sich den hehren Kunstzwecken unterzuordnen, wie im Hause Tschechows. Ein Komitee, aus zwei Regisseuren und zwei bis drei älteren Schauspielern bestehend, lenkt die Schar in künstlerischen Fragen und der materielle Ertrag wird brüderlich geteilt. Die sogenannten Größen der Truppe – soweit man bei der künstlerischen Reife jedes einzelnen von Größen sprechen kann – bringen hiebei ein nicht gering zu veranschlagendes Opfer, weil sie, wenn sie Einzelgastspiele absolvierten, mehr verdienen würden, als in der Gemeinschaft auf sie kommt. Aber sie legen höheren Wert auf die Einheit der Truppe und das Ansehen des Künstlertheaters als auf reichen materiellen Gewinn. Glücklicherweise erweckt das Auftreten der Moskauer überall so viel Interesse, daß die Solidarität gute Früchte trägt und die Mittel abwirft für gediegene Ausstattungen und ein auskömmliches Leben der Mitglieder der Truppe.

Das Moskauer Künstlertheater hat sich zu einer Stellung in seinem Lande emporgeschwungen, die der des Théâtre Francais in Frankreich entspricht. Wie das Haus Molières die Stürme der großen Revolution glücklich überstanden hat, so rettet auch das Haus Tschechows reinste Bühnenkunst über den bolschewikischen Zusammenbruch hinweg in eine bessere Zukunft.

In: Neues Wiener Journal, 26.10.1921, S. 5.