Reich, Emil

geb. am 29.10. 1864 in Koritschan (Österr.-Ungarn, heute Corycány, Tschech. Rep.) – gest. am 13.12.1940 in Wien; Literaturwissenschaftler, Kritiker, Bildungspolitiker

R. wurde als Sohn einer Glasfabrikantenfamilie (Vater Ignaz R.)  jüd. Herkunft geboren, übersiedelte aber bereits 1865 mit seiner Fam. nach Wien. Nach der Matura studierte er Nationalökonomie, Geschichte u. Ästhetik an der Univ. Wien, wo er 1886 mit einer Arbeit über Schopenhauer als Philosoph der Tragödie promovierte, die 1888 in Buchform erschien. Seit 1889 war R. im Vorbereitungskommittee für die Einrichtung der ›Grillparzer-Gesellschaft‹ als Schriftführer u. danach im Vorstand maßgeblich tätig. 1890 ersch. erste Literatur-Feuilletons (über J.J. David, F.v. Saar, Lenau u.a.) in der Wiener Zeitung sowie sein zweites Buch Grillparzer als Kunstphilosoph. Im selben Jahr wurde er nach erfolgter Habilitation zum Privatdozenten ernannt. Neben Grillparzer befasste sich R. ab 1892 v.a. mit H. Ibsen, um im Herbst 1893 eines der ersten deutschspr. Ibsen-Bücher vorzulegen. 1894 kommentierte R. im Zuge der Generalvers. des Vereins der ›Deutschen Volksbühne‹ kritisch das Aufführungsrepertoire, inbes. wegen der Absenz von Saar u. Anzengruber.

Aus: Der Kampf (1919), H. 3, S. 145-154.

Seit 1895 publiziert R. auch in der Wiener WochenZs. Die Zeit, vorwiegend zu sozialpolit. Themen u. setzte sich vehement für die Einrichtung der sog. volksthümlichen Kurse der Wiener Universität ein (an denen er selbst mitwirkte u. die er mit Spenden unterstützte). Ebenso trat er für den Ausbau der Arbeiterbühne ein (AZ, 20.10.1895, 7). 1897 war R. auch im Raimund-Theater-Verein aktiv u. hielt seinen ersten Vortrag im Sozialwissenschaftlichen Bildungsverein, der Keimzelle der späteren ›Bildungszentrale‹. In den darauffolgenden Jahren intensivierte sich diese Vortragstätigkeit im sozialdemokrat. Umfeld Wiens aber auch Brünns. 1901 zählte Reich mit Ludo M. Hartmann zu den Begründern der ersten Volkshochschule im Volksheim Ottakring, 1903 wurde er in das Schiedsgericht des neugegr. Literarischen Vereins, dem Karl Glossy als Obmann vorstand, gewählt, im März 1904 zum Außerordentl. Professor für Ästhetik ernannt. Seit 1906 saß R. in der Jury des Volkstheater-Preises. 1910 erschien sein Ibsen-Buch in der 7. Aufl.; am 8. Deutsch-österr. Volksbildungstag stellte R. den einstimmig angenommenen Antrag, die mit öffentl. Mitteln subventionierten Theater mögen mind. Einmal im Jahr Vorstellungen für Arbeiter anbieten. 1913 unterzeichnete R. einen Aufruf zugunsten der seit 1905 in Russland inhaftierten polit. Gefangenen (gem. mit fast 500 anderen Stimmen des kultur.-wiss. Lebens); im selben Jahr ersch. sein Ibsen-Buch in der 10. Aufl. (erstmals bei S. Fischer).

Während der Zeit des Ersten Weltkrieges unterstützte R. versch. karitat. Fonds u. ging weiterhin seinem Engagement in der Grillparzer Gesellschaft sowie im Volksheim Ottakring nach. In der Österr. Rundschaubesprach er 1916 A. Petzolds Kriegsdichtungen, 1917-18 setzte sich Reich für eine Stabilisierung des von zahlr. Direktionswechseln u. Krisen schwer gezeichneten Dt. Volkstheater ein. 1919 veröffentl. R. in H. 3 der Zs. ›Der Kampf‹ den ausgreifenden programm. Beitr. Theater und Sozialismus, in der ›Bildungsarbeit‹ einen Grundsatzart. zur u. nahm über die Debatte über die Zukunft des (dt.) Nationaltheaters teil. 1920-21 engagierte sich R. einerseits erfolgreich für den Ausbau des Volkshochschulwesens, andererseits auch für das Jüdische Fürsorgewesen, das über die Einrichtung einer Zweigstelle des ›Joint‹ in Wien die Verelendung jüd. Massen auf dem Gebiet der ehem. k.k. Monarchie hintanzuhalten versucht, sowie für den (sozialdemokrat.) Hilfsfonds für Sowjetrussland, dem er 10.000 Kr. spendete (AZ, 30.10.1921, 7, nebst weiteren Spenden wie z.B. 1.500 Kr. für die von der NFP unterstützten öffentl. Ausspeisung von Kindern, NFP, 3.4.1921,7).

Aus: Neues Wiener Journal, 22.10.1921, S. 4.

Ebenso verf. er Feuilletons über das Russ. Künstlertheater, im bes. zu dessen Hamlet-Erarbeitung, sowie über die revolut. Theaterarbeit von Stanislawski. 1922 interess. sich R. auch für die aufkommende Radiotelephonie u. deren kulturpolit. Potentiale. Anlässl. seines 60. Geburtstages widmete ihm die AZ einen ausführl. Beitrag, in dem seine Verdienste für die Volksbildung, aber auch um die Grillparzer-Gesellschaft sowie seine Schrift Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Klassen als wegweisende gewürdigt wurden; im selben Jahr wurde die 14. Aufl. seines Ibsen-Buches angezeigt. 1925 war Reich maßgeblich an der Grd. des ›Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums der Stadt Wien‹ beteiligt (WZ, 10.3.1925, 3); ferner wurde er in die Jury des Kunstpreises der Stadt Wien berufen. Zur Ibsen-Gedenkfeier des Dt. Volkstheaters (18.3.1928) hielt Reich die Fest-u. Gedenkrede, die er in den versch. Volksbildungsinstitutionen wiederholte. Anl. des 30jähr. Bestehens der VHS Volksheim (1931) konnte R. auf die stolze Bilanz von inzwischen 11.000 Mitgliedern u. über 200 Dozentinnen u. Dozenten verweisen, die über 800 Kurse im letzten Jahr angeboten hätten. Seit 1930 veröffentl. er regelmäßig Feuilletons in der Ztg. Der Morgen, meist zu Aspekten u. Anekdoten aus dem Theaterleben oder aus dem Wissenschaftsbetrieb. 1932, anl. der Wahl von R. Jahn zum Dir. des Dt. Volkstheaters, reagierten einzelne Mitglieder ausfällig auf die obligaten krit. Worte, die Reich in solchen Gelegenheiten vorbrachte. 1933 veröff. er in der AZ noch einen Gedenkartikel über A. Petzold u. setzte sich für den Erhalt des Raimundtheaters ein, um dann 1934 im Zuge der Generalversammlung des Volksheims Ottakring gegen dessen „Faschisierung“ das Wort zu erheben. Insges. erlitt sein Wirken durch die Zäsur von 1934 einen deutlichen Rückschlag; dennoch ließ sich R. nicht nehmen, auch 1936 (wie oft zuvor) in der Gen.Vers. des Dt. Volkstheaters die Direktion wegen geringer Präsenz junger Autoren auf dem Spielplan zu kritisieren. Mit der Publikation der Vortragssammlung Grillparzers dramatisches Werk klang 1938 Reichs Wirken für die österr. Literatur u. die Volksbildung aus.


Weitere Werke

G. V. Gravina als Ästhetiker (1891); Die bürgerliche Kunst und die besitzlosen Volksklassen (Leipzig 1892); Grillparzers Dramen (1894); Ibsens Dramen. 20 Vorlesungen (1900); Kunst und Moral (1901); Aus Leben und Dichtung (1911); Gemeinschaftsethik (1935).

Quellen und Dokumente

Ferdinand von Saar. In: Wiener Zeitung, 5.4.1890, S. 3-5, Ein neues Ibsen-Buch. In: Wiener Zeitung, 26.10.1893, S. 2f., Persönliche Erinnerungen an Henrik Ibsen. In: Neue Freie Presse, 27.5.1906, S. 31-33, Das Theater und der Sozialismus. In: Der Kampf 12 (1919), H. 3, S. 145-154, Fünfundzwanzig Jahre volkstümliche Universitätskurse. In: Neue Wiener Tagblatt, 7.11.1920, S. 2, Menschenschicksale. Ein Vormittag in der Fürsorgestelle des “Joint”. In: Neues Wiener Journal, 19.5.1921, S. 2f., Russische Bühnenkunst. Gespräche mit Mitgliedern des Moskauer Künstlertheaters. In: Neues Wiener Journal, 22.10.1921, S. 4, Die Revolutionäre des russischen Theaters. In: Neues Wiener Journal, 26.10.1921, S. 5, Die ungedruckte Zeitung. Die Radiotelephonie als Konkurrentin der Presse. In: Neues Wiener Journal, 29.5.1922, S. 4f., Henrik Ibsen. (Aus der Gedenkrede der Feier der Sozialdemokratischen Kunststelle.) In: Arbeiter-Zeitung, 20.3.1928, S. 3f.,

Kurt Sonnenfeld: Besuch im Volksheim. In: Neues Wiener Journal, 21.12.1921, S. 3f.Josef Luitpold Stern: Alfons Petzold. Zur zehnten Wiederkehr seines Todes am 25. Jänner. In: Arbeiter-Zeitung, 25.1.1933, S. 6, E. R. [zum sechzigsten Geburtstag]. In: Arbeiter-Zeitung, 29.10.1924, S. 9f., Karikatur zum goldenen Doktorjubiläum. In: Der Morgen, 15.2.1937, S. 9.

(PHK)