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Leo Feld: Demokratisches Theater (1919)

Daß unser Theater einer Revolutionierung bedarf, das ist eine Erkenntnis, die nicht erst diese bewegten und schöpferischen Tage ausgelöst haben. Man wußte es längst, daß die künstlerische Leitung unseres Theaters sehr fragwürdig geworden war. Gewiß, es ist noch immer dann und wann ein bedeutender Dichter und ein großer Schauspieler auf unserer Bühne anzutreffen. Aber man konnte bisher — in diesem Jahre sind freilich die beiden vornehmsten Schauspielhäuser neuen Leitungen unterstellt worden, aber die fortwährenden Hemmungen der Spielzeit haben diesen noch kaum Gelegenheit gegeben, sich künstlerisch zu betätigen – das Gefühl eines wesent­lichen Ungenügens nicht abweisen. Die künstlerische Gesinnung, die diese Leistungen führte, hatte etwas zeitfremdes. Wenn einmal Reinhardt nach Wien kam, fühlte man sofort, was uns fehlte. Es war eine andere Luft, in der diese Kunst gedieh. Aber eine Luft, die doch auch unsere geistige Atmosphäre war. Und ob dann ein Schauspieler besser oder schlechter war, das war nicht mehr wesentlich. Wenn sich bei uns moderne Kunstbestrebungen vor die Rampe wagten, dann geschah das vorzugsweise auf den kleinen Bühnen, die an der Peripherie unseres Theaterlebens lagen. Die Bühnen, die im Mittelpunkte des gesellschaftlichen Interesses standen, waren von diesem Geiste unberührt.

Und alles erobernd, verdrängend, überflutend, entfaltete sich die Operette. Sie ist die charakteristische Erscheinung des Wiener Theaters. Es ist nützlich, den Bedingungen ihrer beispiellosen Entwicklung nachzu­sinnen, weil sich hier vielleicht die Möglichkeit einer Gesundung unseres Theaters ergebe. Denn die Operette ist das demokratische Theater. Das Theater der breitesten Schichten. Daran sollte man heute nicht mehr zweifeln.

Ihre ungeheure Wirkung wurzelt vor allem im Musikalischen. Der Wiener, auch der musikalisch wenig gebildete, will und braucht Musik. In der Oper findet er sie heute nicht mehr. Das bedeutet nicht den leisesten Einwand gegen die Entwicklung der modernen Musik. Es liegt im Wesen der Kunstentwicklung — nicht nur der musikalischen— daß sie (im geistigen Sinne) natürlich) immer aristokratischer wird. Wir haben heute keine Gleichartigkeit des Geschmacks mehr; und so trägt eine hoch kultivierte Schicht die Kunst immer weiter, ihren immer subtileren, inneren Bedürfnissen gemäß. Und der Wiener, der musikalisch nicht mitschreitende, geht unbefriedigt aus dem Opernhaus. Er hört dort einfach nichts mehr. Die Musik der Operette aber füllt ihm Ohr und Herz. Daher ihr stetig wachsender Anhang. Dazu kommt, daß das Theaterbedürfnis in den unteren Schichten allgemein geworden ist. Wer früher zu den Volkssängern ging, besucht heute das Theater. Es gibt ihm doch mehr in seiner sinnlichen Fülle. Die Librettisten waren klug genug, diesen // populären Charakter der Operette zu verstehen und auszuprägen. Sie kamen der höchst bescheidenen Geistigkeit dieser — letztlich in allen sozialen Rängen heimischen — Bevölkerungsschichte sehr wachsam ent­gegen. Sie stellten keine Ansprüche an ihr Publikum. Sie gaben der Sehnsucht nach Belustigung, die Posse, dem Bedürfnis nach Rührung, die  sentimentale Komödie; das sind die beiden Elemente der heutigen Operette. Und so kamen Alle auf ihre Rechnung. Das Publikum, die Autoren und besonders die Direktoren.

Soll unser Theater wieder auf eine gesunde Grundlage gestellt werden, dann muß die Arbeit hier beginnen. Es ist sinnlos, von diesen breiten, der Unter­haltung bedürftigen Massen Interesse für die große Kunst zu verlangen. Das Burgtheater und das Deutsche Volkstheater haben ihre eigenen Aufgaben, auf die sie sich besinnen müssen und sicherlich auch besinnen werden. Hier handelt es sich zunächst um andere Bedürfnisse. Und bei dem Zusammenhang alles Geistigen wird die Erfüllung dieser Theatererfordernisse auch auf jenen höheren Kunstgebieten fühlbar werden.

Man muß das künstlerisch wenig vorgebildete Volk – denn um dieses handelt es sich hier, nicht um die kultivierteren Schichten – für ein ernsthaftes Theater zu gewinnen suchen. Den Weg zeigt die Operette. Eine einfache, im Volkstümlichen wurzelnde Komödie mit viel Musik, das würde diesen naiven Menschen Freude machen. Produktive Kräfte haben wir genug, die gerade auf diesem Boden Wertvolles leisten könnten. Ein Theater, ein wirkliches Volkstheater, würde sich wohl auch bald finden. Denn so eine musikalisch belebte Wiener Komödie würde ihr großes Publikum erobern.

Nur mißverstehe man mich nicht. Ich möchte den Verdacht vermeiden, als wollte ich dem „Volksstück“ das Wort reden. Das ist vorbei. Das ist endgültig tot. Umso mehr, je intensiver es in den Pro­grammen der Direktoren fortlebt.

Das Volksstück ist heute unmöglich geworden; und der Ruf nach ihm ist ebenso sentimental antiquiert wie etwa der nach der Postkutsche. Das Volksstück wurzelt in dem idyllisch gesehenen Milieu des kleinen Bürgertums. Idyllisch gesehen; denn es fühlt nur versöhnliche Gegensätze, die Ausschaltung des Tragischen ist direkt sein Wesen. Aber gerade diese idyllische Beleuchtung ist uns unerträglich geworden. Sie war wohl nie wirklich getreu; aber immerhin mag das Volksstück vor Jahrzehnten eine gewisse Wahrhaftigkeit besessen haben. Heute haben die großen sozialen Wand­lungen die Menschen und die Lebensweise jener Schichten so gründlich geändert, daß zwischen diesem Theater und unserer Welt keine Berührung mehr ist. Und daher kommt es auch, daß die Motive des Volksstückes sich immer wiederholen. Denn sie beruhen durchaus auf literarischer Tradition.

Die Komödie aber, die wir brauchen, sollte aus dem wir[k]lichen Leben geholt werden. Sie soll ihr Publikum dort ergreifen, wo es am empfänglichsten ist; wo seine eigene Erfahrung leicht eine Brücke zu der Welt der Bühne findet. Sie soll wahrhaftig sein; und der Charakter ihres Vortrages soll doch zu diesen künstlerisch ungeübten Menschen sprechen, Dazu bedarf es eben der Musik und aller sinnlicher Kräfte des Theaters.

Ich glaube durchaus nicht, daß damit der Operette ihr Publikum völlig entzogen wäre. Es liegt auch gar nicht in meiner Absicht, daß das geschehe. Es ist keine Frage, daß ein großer Teil des Publi­kums, das heute die Operettenhäuser füllt, an diesen musikalischen Volkskomödien keinen Gefallen fände; daß es aus einem blasierten und ermüdeten Teil des Bürgertums besteht, dem diese redliche, volkstümliche Kunst erst recht nichts zu sagen hätte. Um diesen Kreis kann es sich bei einer Neubelebung der Kunst des Theaters auch nicht handeln. Was zu erstreben wäre ist: den jungen unverbrauchten Kräften des Volkes die Nahrung zuzuführen, die sie reif und reich werden ließe; statt einer entwertenden, entseelenden, eine stärkende, innerlich aufbauende Art des Theaters ihnen zu bieten. Die komplizierten und anspruchsvollen Formen der Kunst sind ihnen zu entlegen. Und darum gebe man ihnen auf der Bühne das, was sie brauchen: Musik, sehr viel Musik, bunte Lebendigkeit des Theaters, einfache und geradlinige Menschlichkeit, die ihrem eigenen Wesen verwandt ist und sich in ernsten und heiteren Bildern ausprägt. Das wäre ein demokratisches Theater.

In: Die Frau, 22.1.1919, S. 1-2.

René Fülöp-Miller: Das Kino als Konkurrent der – Kirche. Trotzki über das Kino.

Die Russischen Machthaber betrachten Philosophie, Kunst, Dichtung, Malerei und Musik, einzig und allein von dem Standpunkt ihrer parteipolitischen Verwendbarkeit ; bei jedem Kunstwerk wird nur danach gefragt, inwieweit es für die „Vergesellschaftung“, für die Propaganda kommunistischer Ideen unter den Massen geeignet sei. So ist es denn nicht zu verwundern, daß die Bolschewisten auch die große suggestive Kraft des Films erkannt, und daß sie daher dem Kino eine ganz besondere Bedeutung zugemessen haben : Filmautoren und Kinoschauspieler, Operateure und Kinounternehmer gelten in Rußland als die „Stoßtruppen der militanten marxistischen Propaganda“.

In jener großen „Offensive gegen die alten Sitten und Bräuche“ wurden die bolschewistischen Filmleute mit einer sehr wichtigen Aufgabe betraut : sie sollten den Kampf gegen den Zauber der orthodoxen Kirche und gegen die religiösen Traditionen des russischen Lebens erfolgreich durchführen. Das Kino aber sollte gleichzeitig auch die Bevölkerung von dem Banne des Branntweins befreien, der in Rußland einen außerordentlichen Einfluss auf das Leben der Menschen ausgeübt hatte.

Die Führer der bolschewistischen Agitation hatten zuerst versucht, durch „aufklärende Vorträge“, durch atheistische und antireligiöse Flugschriften gegen die orthodoxe Kirche anzukämpfen ; durch einen Appell an das „kommunistische Gewissen der Bauern“ wieder glaubte man diese vom Schnapstrinken abhalten zu können. In keiner der beiden Richtungen jedoch gelang es, mit diesen Mitteln nennenswerte Erfolge zu erzielen. So sah man sich denn zu neuen Maßregeln genötigt und entschloß sich, das Kino zum Zweck der kirchenfeindlichen Agitation sowie einer geeigneten materialistischen Schulung der Massen im weitesten Maße heranzuziehen.

Leo Trotzki ist es gewesen, der die Unzulänglichkeit einer trocken-sachlichen Aufklärungspropaganda zuerst erkannt hat ; er ist zu der Überzeugung gelangt, man müsse der Eigenart des russischen Volkes Rechnung tragen und dessen Sehnsucht nach Anschaulichem, nach Zerstreuungen und Unterhaltung irgendwie befriedigen. In einer Schrift über die „Probleme des Alltagslebens in Rußland“ versucht Trotzki, seine Parteigenossen davon zu überzeugen, daß einig und allein das Kino geeignet sei, für die alten Lebensgewohnheiten der breiten Massen in Rußland ausreichend Ersatz zu bieten.

„Wir nehmen die Menschen so,“ heißt es in dieser Schrift, „wie die Natur sie geschaffen und wie die alte Gesellschaft sie zum Teil erzogen, zum Teil verstümmelt hat. Wir suchen nach Stützpunkten in diesem lebendigen Menschenmaterial, um unseren Parteihebel anzusetzen.“ Der Wunsch nach Aufheiterung und Zerstreuung, heißt es weiter, sei „ein durchaus berechtigtes Empfinden“ und darum müsse diesem Bedürfnis in immer künstlerischerer Weise entsprochen werden ; das Vergnügen solle gleichzeitig „zum Werkzeug der kollektiven Erziehung“ werden, „ohne pädagogische Bevormundung, ohne aufdringliches Hinlenken auf die Bahn der Wahrheit“.

„Das wichtigste Werkzeug auf diesem Gebiete, das alle anderen bei weitem übertreffen kann“, sei gegenwärtig das Kino, „Diese verblüffende Neuerung auf dem Gebiete des Schauspiels“, führt Trotzki des näheren aus, „hat das Leben der Menschheit mit unerhörter Geschwindigkeit durchdrungen. Der Kinoleidenschaft liege das Bestreben, sich abzulenken, zugrunde, der Wunsch, etwas Neues zu sehen, zu lachen und zu weinen. „Allen diesen Bedürfnissen gewährt das Kino die unmittelbarste und lebendigste Befriedigung, fast ohne an den Zuschauer irgendwelche Anforderungen zu stellen. Das erklärt die dankbare Liebe des Publikums für das Kino, für jene unerschöpfliche Quelle der Eindrücke und Erlebnisse. Dies ist der Punkt, ja sogar jene Fläche, auf der die erzieherischen Bemühungen des russischen Sozialismus ansetzen können.

Indem das Kino anzieht und zerstreut, wetteifert es schon eben dadurch mit dem Wirtshaus und dem Schnaps, vor allem bei dem Problem, das der Achtstundentag mit sich gebracht hat, dem Problem, das freie Drittel des Tages angenehm auszufüllen. „Könnten wir“, fragt Trotzki, uns nicht dieses unvergleichlichen Werkzeuges bemächtigen?“ „Warum nicht?“ antwortet er. „Die zaristische Regierung hat durch ein weitverzweigtes Netz staatlicher Branntweinschenken eine jährliche Einnahme von rund einer Milliarde Goldrubel erzielt ; warum sollte der Arbeiterstaat nicht ein Netz staatlicher Kinos schaffen können, diesen Apparat der Zerstreuung und Erziehung immer tiefer in das Volksleben eingreifen lassen, hiemit den Alkohol bekämpfen und zugleich hohe Einnahmen erzielen? Gewiß wäre die Durchführung dieses Projekts nicht einfach, aber sie wäre auf jeden Fall natürlicher und zweckmäßiger als die Wiederaufrichtung des Schnapsvertriebes.“

Trotzki führt dann weiter aus, wie das Kino nicht nur mit der Kneipe, sondern auch mit der Kirche konkurrieren könne. Die russische Arbeiterklasse hänge nur aus Gewohnheit und Bequemlichkeit an dem Zeremoniell der orthodoxen Kirche. In diesem aber spiele das Element der Zerstreuung und der Ablenkung eine gewaltige Rolle. Da Bedürfnis des Menschen nach dem theatralischen Wesen werde durch die Kirche in sehr geschickter Weise befriedigt, während die antireligiöse Propaganda diesen Wirkungen bisher nichts Gleichwertiges habe entgegenstellen können.

Und hier, meint Trotzki, werde unser Denken wiederum ganz von selbst auf jenes mächtige und am meisten demokratische Werkzeug der Theatralik, auf das Kino, hingelenkt. Das Kino entfalte auf der weißen Leinwand viel großartigere Effekte als selbst die reiche, durch Erfahrung von Jahrtausenden hindurchgegangene Kirche. „In der Kirche wird immer nur eine religiöse Handlung Jahr für Jahr wiederholt, während das Kino von Tag zu Tag andere fesselnde und packende Vorführungen zu bieten vermag. Das Kino zerstreut, klärt auf, erstaunt die Phantasie durch seine Bilder und befreit die Menschen von dem Drang, in die Kirche zu gegen. Das Kino ist also auch die große Konkurrenz der Religion und darum jenes Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen.“

Zum Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht führt Trotzki auch noch die Erklärung eines Arbeiters an, den er über die Wirkung des Kinos auf die Massen befragt hatte.

„Die Arbeiter,“ erklärte Trotzkis Gewährsmann, „sind jetzt für das Kino begeistert. Ich selbst liebe es sehr und die Leute gehen in Massen hinein. Freilich hat es in der letzen Zeit eine Menge spannender, aber im übrigen wertloser Filme gegeben, die das Publikum stark demoralisiert haben ; im allgemeinen aber ist das Kino doch eine große Errungenschaft und ein bedeutender Faktor der Kultur. Es muß nur darauf geachtet werden, daß die Filme einen anderen, wertvolleren Inhalt bekommen.“

Es ergibt sich aber aus der Betrachtung der wahren Situation, daß der Versuch, das Kino in dem Kampfe gegen Orthodoxie als revolutionäre Waffe zu verwenden, als gescheitert anzusehen ist.

Die russischen Kinos sind allerdings durchaus sehr gut besucht, aber daneben erfreuen sich, nach wie vor, auch die Kirchen eines regen Besuches ; der in seinem Innersten durchaus konservative Russe ließ sich eben aus seinen alten Gewohnheiten auch durch die Kinorevolution nicht aufstören. Und so kam es auch, daß die große Masse, ungeachtet selbst aller jener, zweifellos wertvollen und gutgemeinten antialkoholistischen Kulturbestrebungen Trotzkis, auch seinen Trinkergewohnheiten weiterhin vielfach treugeblieben ist.

Zur Zeit des strengen Alkoholverbots der letzen Jahre wurde eben neben dem eifrigen Kinobesuch heimlich, im stillen Kämmerlein, Schnaps gebrannt ; jener berühmt gewordenen „Samagonka“, der erst verschwand, nachdem jetzt das Alkoholverbot aufgehoben worden ist. Die Heilslehre von der sittigenden Kraft des Kinos hat also versagt und der Film wird wohl auch in Rußland sich mit der Rolle begnügen müssen, die er innerhalb seiner wahren Grenzen auch in Westeuropa unter Umständen als ein wertvolles Kulturinstrument zu spielen vermag.

In: Neue Freie Presse, 1. Januar 1926, S. 27