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Jakob Moreno Levy: An die Leser zum Aufstand gegen die Autoren

             Bruder Leser, was wird dir einfallen, wenn du irgend ein Buch zu Ende gelesen hast?  Oder sonst jedes Buch aller Autoren? Du wirst wissen: es ist nicht zu Ende.

             Es gibt Leser, die nach aufgehobener Tafel geistig satt sind, das sind eigentlich selbst Autoren, und es gibt andere, die darnach erst hungrig werden: wie die Kinder. Diese, die das Vollkommene wollen, werden bedenken: Du bist da, wenn du redest und alles, was auf Himmel und Erden ist, ist unserer Liebe gegenwärtig; nur der Autor ist abwesend, wenn seine Seele zu uns spricht.

             Du mußt ihn mehr lieben, weil er dich zu wenig geliebt hat. Du wirst ausgehen müssen, seinen letzten Teil zu suchen wie die blaue Blume. O, du mußt es wohl! Du wirst auf dem Wege in Streit mit dir geraten: warum gerade ich? Warum soll ich Unruhe stiften in den Schläfrigen?

             Bruder Leser, wenn einer in die Welt schreibt, muß er sich zu Ende offenbaren; aber nicht, indem er weiterschreibt, sondern die Narben von den Namen in seinem Antlitze zeigt, die er verkündet hat. //

             Bruder Leser, ich spreche für alle, die bei ihnen waren und die wie ich gelitten. Wenn du sehen würdest, wie sie leben und das Heiligtum der Worte entweihen, derer sie sich einfach bemächtigt haben, würdest du verstehen, daß sie durch das Buch das vollkommene Leben in Vergessenheit bringen, daß die Mächtigen  des Wortes gefährliches sind für Gott als sonst alle Gewaltigen der Erde, weil selbst der Mammon nur mit der Schöpfung schachert, während sie, wo sie stottern sollen, den Geist der Dinge dem Schein verschreiben, daß auch die Edlen unter ihnen, da sie im selben Rahmen wie die ganze Gilde schaffen, verwirkt sind und den höchsten Grad des Bösen möglich machen.

             Die Autoren sind die neuen Heiden, heidnischer geworden noch durch Religion; darum können ihre Werke töten, aber nicht lebendig machen.

             Wenn sie nur das Gefühl ihrer Sünde hätten; aber das sind nur Dichter und keine Kinder, das sind nur Weise und keine Kinder, das sind nur Päpste und keine Kinder. Eher kommt ein Reicher durch ein Nadelöhr als ein Autor in das Reich Gottes.

             Ich habe die Aufgabe, einseitig und ohne Aufenthalt zu lallen: der vollkommene Weg des Buches ist die Einladung zu einer Begegnung, der vollkommene Weg des Wortes ist der Bericht.

             Bruder Leser, ich gebe dir das Amt, stehe auf und schreite, bis du des Wortes angesichtig wirst, das du gelesen hast. Wenn der Autor nicht zu dir kommt, so gehe zu ihm. Opfere dich, gehe, ich meine wirklich und nicht im Gleichnis, gehe und bekehre sie zu sich, gehe und begegne ihnen schnell, wie ich ihnen begegnet bin und wir Gott, der Ewige, ihnen begegnen müßte, wäre er unsereiner.

             Der Aufstand der Leser ist die Verfolgung der Autoren. Man wird euch aber aus dem Wege gehen, euch mißhandeln, euer spotten. So wird es geschehen, daß ihr, die ihr ausgegangen seid, die Autoren zu segnen, von ihnen verflucht werdet. Ihr aber sollt im Leiden frohlocken, daß ihr dem Unvollkommenen vollkommen, Auge vor Auge, begegnet seit, damit es einmal heiße: //

             „Das ist der Kreuzzug der Leser gegen die Heerführer des Geistes, der Kinder gegen die Wort- und Erlebnishamsterer gewesen.“

             Am Ende der Fahrt bist du sicher, im Unvollkommenen, – aber diesem vollkommen nahe, bist du sicher nicht im Himmel, aber doch an seiner Pforte. Nun kann der Geist Gottes erkannt werden und unter uns leben, denn das ist des Gottmenschen tiefster Widerspruch, daß er der Allerfernste werden muß durch das Allernächste.

In: Der Neue Daimon, H. 1-2/1919, S. 29-31.

Else Feldmann: Hof im Allgemeinen Krankenhaus

            Letzte Sonnentage. Wenn man von draußen kommt, von der Straße, von der Welt, fühlt man einen Augenblick die beklemmende Stille. Draußen geht das Leben weiter: man hört die Signale der Straßenbahn und der Autos, den Lärm und die Erregung der Menschen dringen durch das offene Tor herein, Zeitungen werden ausgerufen …

            Hier, auf den Betten unter den Bäumen liegen die Kranken. Vielleicht der letzte Sonnentag!

            Das Laub fällt langsam, zärtlich auf ein todbleiches Gesicht. Eine junge Frau sagt zur Krankenschwester: „Die Natur ist gut, die Natur ist gerecht: im Herbst muß alles sterben, alles geht zugleich zur Ruh. Das Leben der Menschen ist nicht gut, nicht gerecht: die einen müssen dahin, während die andern blühen und leben …“

            Die Schwester gab ihr eine Injektion. –  –  – Das Leben der Menschen ist nicht gut. –

            Eine alte Frau kam mit Blumen. Die Frau war noch gar nicht so alt, sie sah nur so unendlich traurig aus. Einen kleinen Strauß hatte sie in der zitternden Hand, draußen bei der Blumenfrau gekauft; eine ganz dunkelrote Rose, zwei gelbe, zwei rosa und zwei rote Nelken, eine große weiße Aster und ein wenig Farrenkraut; das Ganze war schändlich auf Draht gezogen.

            „Dort liegt Ihre Marie“, rief ihr die Schwester zu. Sie ging zu dem Lager der Marie. Die schrie leise auf. Das war nicht mehr ihr Kind, so mager, so dünn, so bleich, ein ganz kleines bläulichweißes Gesicht; nur die blonden Haare waren noch jung und lebendig. Die Mutter legt die Blumen auf das Bett in die bleichen, papiernen Hände, und sie weint nicht, sie sieht nur immer auf ihr Kind und sagt: „Marie, aber Marie …“

            Zwei Ärzte gehen vorüber in weißen Mänteln, rauchen Zigaretten, plaudern. Auf den Bänken sitzen junge Burschen, Kinder mit amputierten Beinen; die Krücken stehen neben ihnen.

            Der Wagen mit dem Essen fährt die Allee hinauf.

            Der Herr Professor ist im Auto angekommen, begibt sich in seinen Saal. Aus der Ambulanz hört man kurze, durchdringende Schreie. Man sieht durch das offene Fenster Blut und Knochen.

            In der Herzabteilung ist es ruhig, lautlos. Die Kranken liegen unter Decken, das Atmen ist ihre schwerste Arbeit. Ihre Augen sind wie weltentrückt. Wenn Besuch kommt, ein Vater, eine Mutter, ein Sohn, ein Bruder, schweigen sie meist – Reden strengt sie an und die Mutter oder der Vater sagt sogleich: „Sag‘ mir nichts sei nur still.“

            Im Park vor der Augenklinik stehen die armen galizischen Flüchtlinge, mit der schweren ägyptischen Augenkrankheit, dem Trachom. Ein alter Jude, fast blind, steht angelehnt an einem Laternenpfahl. Er ist aus Sadogora und ganz allein. Er trägt einen breiten grünen Schirm; seine Augen sind rettungslos verloren.

            Und noch ein paar aus dem Kriege sind da. Nachzügler. Sie schleppen sich seit Jahren von Spittal zu Spittal. Nimmer können sie genesen. Jetzt, da sie die Sonne sehen, die sie warm anscheint, sind sie übermütig. Sie haben eine Mundharmoniker, einer hat eine Okarina, sie spielen, pfeifen, trällern Lieder und machen das schönste Konzert – aber nur gedämpft – alles ist hier gedämpft, ein Krankenhaus – stille – Kinderlein, still. Wollt ihr lachen, ihr genesenen Soldaten, obgleich ihr starken Schaden genommen habt? Bei dem einen sieht man die Schulter-, bei dem andern die Kopfprothese … Ein Vorübergehender hat ihnen die heutige Zeitung geschenkt. Welch ein Geschenk! Der eine liest lachend vor: „Drohender Eisenbahnerstreik in England.“ Er wirft die Zeitung hin. Alle schauen einem Dienstmädchen nach, das mit ihren Milchkannen dahintänzelt, sich umdreht und lacht.

            „Habt ihr gesehen,“ fragt der eine, „wie sie gelacht hat?“

            „Was willst?“ sagt der mit der Schulterprothese – „wir sind Krüppel.“

            Am sonnigsten Platz, mitten im trockenen Herbstrasen sitzen auf den kleinen Klappsesselchen die Schwangeren. Sie leben hier in den Tag hinein und warten auf die Geburt. Dienstmädchen, ledige Frauen; manche sind hübsch und sorglos, der Leichtsinn der Jugend schaut ihnen aus den Augen. Andere aber wieder sitzen da in Schwermut und Verzweiflung. Eine ist ganz zerknirscht und weint den ganzen Tag. Sie fragt immer, ob kein Brief für sie da sei. Drüben geht das Sterbeglöcklein – die Schwangere seufzt, sie weint. Dunkel ist der Tod – dunkel ist das Leben …

In: Freie Stunden. Beilage zu „Die Frau“, Nr. 10, 1924, S. 1.