N. N.: Der Jazz in Gegenwart und Zukunft.
Schon einmal hat sich die „Bühne“ mit dem Jazz beschäftigt. Es war vor wenigen Monaten, als sie an der Hand von Notenbeispielen zeigte, wie bekannte Opernmelodien und Konzertstücke mit Absicht als Themen für Jazz-Musik verwendet werden: „Flavoring a selection with borrowed themes“, sagt dann der Arrangeur des berühmten, berühmtesten Jazz-Orchesters von Amerika, der „Jazzband Paul Whiteman“, „ein Potpourri mit geborgen Themen aufputzen“ … Die exotischen Melodien Amerikas allein tun es nicht, die meist dem Schatz der Negermusik entnommen sind.
Nun äußern sich, fast gleichzeitig, allerhand junge Musiker der verschiedensten Nationen, äußert sich vor allem Paul Whiteman selbst zu dem Thema „Jazz in Gegenwart und Zukunft“. Fassen wir abermals einiges darüber zusammen!
Der Jazz kam 1918 nach Europa, nach Paris. Er wurde im Casino de Paris zum ersten Male von einer richtigen Jazzband gespielt und die gesamte jüngere Generation der französischen Musiker war davon begeistert. Sie setzten sich selbst an die Jazz-Instrumente, um sie in ihrer eigentümlichen Anwendung, ihrer besonderen rhythmischen Präzision zu erlernen. Einer ihrer Wortführer, Darius Milhaud, preist die Jazz-Musik und das Jazz-Orchester mit seinen neuen Klangfarben als wunderbare Anregung. Er will natürlich genau unterscheiden zwischen der Lärmmusik und ihren Lärminstrumenten wie Hupen, Sirenen, Signalpfeifen und einem seriösen Orchester, das solche Ausnahmsinstrumente zwar gelegentlich bringt, dann aber immer wieder abschafft. Was dieses seriöse Jazz-Orchester der neuen Musik gibt, läßt sich in instrumentaler wie in harmonischer Beziehung noch gar nicht abschätzen. In instrumentaler Beziehung, indem ganz neue Klagfarben eingeführt, schon bekannte Instrumente, wie Posaune und Saxophon, völlig neu verwendet werden. In harmonischer Beziehung, indem auch für ein breiteres Publikum die Unterschiede zwischen Dur und Moll, das Bewußtsein der Tonalität schon auf dem Weg über die Klangfarbe verwischt wird.
Alexander Jemnitz, ein bekannter ungarischer Komponist, der aber auch als witziger deutscher Schriftsteller auftritt, sieht die besondere Bedeutung der Jazz-Musik darin, daß der Rhythmus hier über die Melodie siegt, daß sich also durch den Jazz eine Musik vorbereitet, deren Hauptelement das Rhythmische ist. Er (und viele andere) erklären denn auch den großen Erfolg des Rhythmikers Strawinsky in Amerika durch die Beziehungen seiner Musik zum Jazz; und dieser große Erfolg Strawinskys beeinflußt wiederum die neueste deutsche, französische, italienische und auch schon tschechische Musik. Der ungeheure Erfolg von Béla Bartóks neuer Tanzsuite ist wohl auch ein Erfolg des Rhythmus. Allerdings streut Milhaud in die Diskussion (die die Musikzeitschrift „Anbruch“ vor ein paar Monaten eröffnet hat) mit Recht ein, daß im Blues das melodische Element etwa gegenüber dem reinen Ragtime schon wieder näher vortrete.
Hat Milhaud auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen der Jazz- als Ausdrucksmusik und der nicht bloß weltlichen, sondern auch geistlichen Musik der Neger (Nigro-Spirituals, wie sie hier in Wien Roland Hayes gesungen hat), deutlich besteht, so führt Louis Gruenberg diesen Zusammenhang nicht bloß theoretisch aus. Er hat für sich selbst ein geistliches Lied in der trockengeschäftlichen Art, wie sie einem Neger-Boy von heute drüben in Amerika gemäß sein mag, zum Muster genommen und es im Jazz-Rhythmus komponiert, den sogenannten Danie-Jazz, der der große Erfolg des jüngsten internationalen Musikfestes in Venedig war: da wie die Geschichte von Daniel in der Löwengrube vorgetragen, dem frommen Knecht Daniel, der seinem König durch fortwährendes Psalmen-Rezitieren langweilig wurde, so daß er ihn zuletzt den Löwen vorwarf; aber da ihm die Bestien nichts antaten, gab er ihm seine Dienststelle wieder. Einige Zuhörer waren entrüstet, wie sich ja viele mit Würde und Bärten behaftete Leute über jede Art von Jazz immer noch entrüsten. Die meisten aber hätten das famose stück am liebsten gleich zum weiten Male angehört. Vielleicht muß man amerikanischer Komponist sein, um diese Art Musik weiter bringen zu könne, wie das Gruenberg so reizend und zukunftsverheißend getan hat. Alle Amerikaner, alle Musiker, die auch nur je in Amerika waren, sind der Meinung, die Zukunft der amerikanischen Musik werde vom Jazz getragen werden. Sie sind dieser Meinung schon deshalb, weil der Jazz seit langem, wenn nicht überhaupt der einzige originelle Ausdruck eines gesamtamerikanischen Musikempfindens ist. Paul Whitman selbst erzählt eben jetzt in „Vanity Fair“, daß er mit seiner Kapelle eine ganze Saison lang „revolutionäre Konzerte“ veranstaltet habe, die auch alle jene anlocken, die zu einem regelrechten Symphoniekonzert gar nicht gehen würden, also gleich alle amerikanischen Männer. Das Publikum, das er so gewinnt, soll dann zur klassischen Musik eben auf dem Umweg über den Jazz geführt werden.
Es versteht sich von selbst, daß bei der ungeheuren Bedeutung des Jazz für das amerikanische Musikleben drüben auch schon förmliche schulen und Lehrgänge des Jazzspielens eingerichtet sind. In New York gibt es eine eigene Schule „The Winn School for Popular Music“, an der man lehrt, wie man Ragtime, wie man Jazz und Blues spielt. Interessieren dürfte, daß der Leipziger Musikkritiker Alfred Baresel, angeregt durch unsere Wiener Jazz-Diskussion, jetzt ein eigenes Jazz-Buch (im Verlag Zimmermann in Leipzig) herausgegeben hat, dessen erste Auflage in drei Wochen vergriffen war. Das Jazz-Buch gibt genauen Aufschluß über alles Technische beim Jazz, gibt Übungen für den Klavierspieler, kurz es ist ein Lehrbuch, dessen Ziel sich auf 34 Seiten Umfang erreichen läßt. Es wird immer nötig sein (wie man aus alldem ersieht), und auf eine Reihe von Jahren hinaus, vom Jazz zu sprechen…
In: Die Bühne, Nr. 68, 1926, S. 26-27.