Ann Tizia Leitich: Der neue Mann in Amerika

             Durch die Bureaux aller literarischen Agenturen Newyorks rannte neulich, seine Haare raufend, ein Manager: die Vehemenz, mit der er Türen zuschlug und aufriß, wehte die Manuskripte von den Tischen, so daß sie den Boden wie Januarschnee bedeckten. Die Verstörtheit seines Blickes raubte selbst den hartgesottenen Stenographinnen Broadways die gewohnte Geistesgegenwart und ihre Hand blieb auf dem Wege zur Puderbüchse erschrocken stecken.

Was war los?

             Der Unglückliche suchte ein Stück, einen Roman, eine Erzählung, eine Short story – in seiner Verzweiflung kam es ihm schon gar nicht mehr darauf an, was es war. Nur sollte das Gesuchte sich mit einem Mann befassen, den ›Mann‹ und seine Probleme in den Mittelpunkt stellen. Und er fand nichts; deshalb die Aufregung. Schäumend vor Wut sagte er schließlich zu den versammelten zitternden Weiblichkeiten – Preßchefessen, Kinodramenschreiberinnen, Journalistinnen usw.: „Broadway für die, so mir ein Stück über den Mann und sein Problem schreibt!“

Notabene: Er sagte „die“, nicht „der“…

Es ist wahr: der Mann wird grausam und ungerecht vernachlässigt. Es gehört wahrer Pioniermut dazu, über ihn zu schreiben. Der neue Mann – mein Gott, was läßt sich über ihn schon Interessantes sagen! Immer nur heißt es: Die neue Frau! Ohne Ende gehen die Reden über sie. „Die Frau und ihr Problem“, „Die Frau und ihre Sphäre“, „Der Tag der Frau“, „Die Frau als Verdienerin und Mutter“, „Die Frau als Liebhaberin“, „Die Frau als Erhalterin“. Mit dem Stimmrecht fing es an und dann ging es weiter: Berufe für die Frauen, Bildung für die Frauen, Babies für die Frauen, freie Liebe für die Frauen, Liebhaber für die Frauen… Theaterstücke, Romane, Abhandlungen, Bände werden über sie geschrieben. Eine Menge Gehirne sind beschäftigt, sie zu analysieren, zu sezieren, zu klassifizieren. Die Frau okkupiert die ganze Bühne, früh, mittags und abends.

Die Frau hat dem Mann erst den „Saloon“ genommen, die Branntwein-Bierstube, dann hat sie ihn beim Barbier in eine Ecke gedrängt. In sein allerheiligstes Reservat, Business, ist sie eingefallen und hat sich ihm dort von der kleinsten Typistin angefangen bis zur hochbezahlten (aber immer schlechter als ein Mann bezahlten) divahaften Sekretärin unentbehrlich gemacht: hat natürlich damit all den mystischen Schimmer unerhörter Taten, den er ihr gegenüber um „Business“ zu verbreiten bemüht gewesen, wie eine Seifenblase zerplatzen gemacht, denn sie weiß jetzt genau wie es gehandhabt wird. Ohne viel Wesens daraus zu machen, ist sie ihm auf alle seine Aufschneidereien daraufgekommen. Sie ist ihm in die unzugänglichsten Berufe nachgestiegen. Eine Pastorin – keine von Gottes Gnaden, aber eine von ihrer eigenen und ihrer Zuhörer Gnaden – eine sogenannte „Evangelist“, das ist eine religiöse Predigerin, hat die ganze Nation kürzlich monatelang mit ihren Liebesaffären beschäftigt. Aimée Mac Pherson ist nicht nur gescheit und schlau, sondern auch anziehend als Frau. Sie hat in Los Angeles einen prachtvollen Tempel erbaut und nun, da dank der Zeitungen auch die Leute außerhalb Los Angeles von ihr genügend erfahren haben, rüstet sie sich zu einer großen Vortragstournee. Ja, die Frau mit dem doppelten Recht ihres erwachten Intellekts und ihres weiblichen Charmes ist heute überall. Warum auch nicht? Hat sie nicht absolut gleiche Rechte wie der Mann? Oder vielleicht nicht? Wer wagt zu widersprechen?

Der Mann gewiß nicht. Nicht in diesem Land. Er schweigt und weicht. Und dieses schweigende Zurückweichen kommt mir fast verdächtig vor. So, als ob er sich denken würde; Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Vielleicht schmunzelt er bei sich: „All right, let them run the world. – Laßt sie mal die Welt regieren; das gäbe uns dann endlich eine Gelegenheit, auf einen großen, schönen Urlaub zu gehen, zu fischen, Golf zu spielen und Witze zu erzählen soviel wir wollen und so lang wir wollen; einmal ordentlich und ausgiebig nichts zu tun“

Wir haben den Mann in die Defensive gedrängt. Und was immer nun aus ihm wird, es ist unsere Schuld oder unser Werk. Daß sich aber etwas vorbereitet, darüber bin ich mir, meine Damen, nicht im Zweifel. Die Phrase, „der neue Mann“ ist heute eine kleine Notiz auf der vorletzten Seite der Zeitung. Aber morgen, möglicherweise, steht sie schon fettgedruckt auf der Frontseite. Es sind Anzeichen vorhanden, Anzeichen, die darauf hindeuten, daß wir einen neuen Luxusmann bekommen. – Sehen Sie, meine Damen, so bin ich endlich, auf der dritten Seite meines Briefes, mit einer Überraschung vor Sie hingetreten. Denn diesmal sind wir, wir in Amerika, Ihnen voran.

Betrachten Sie einige der Anzeichen: In England haben die weltberühmten, tyrannischen Schneider aus Savile Row neulich zum erstenmal männliche Mannequins, zu 5 Dollar das Stück, für eine Modenschau engagiert, die in einem Lokal der ebenso historischen Regent Street arrangiert wurde und ein ausgesprochener Erfolg war, das heißt, das männliche Auditorium sah die Sache nicht hochnäsig über die Achsel an, sondern interessierte sich dafür. Weiter: Flo Ziegfeld, der amerikanische Revuekönig, der bis jetzt berühmt gewesen ist als der Verherrlicher des American Girl, wählte neulich die „zehn schönsten Männer aus Broadway“. Bald werden seine Himmelslichter allabendlich zur „Glorifizierung“ des amerikanischen Mannes erstrahlen. Drittens: Neulich, in einer Week-end-Gesellschaft, das ist die einzige Gelegenheit, bei der man, außer im Nachtklub, hier die Gesellschaft des anderen Geschlechtes genießen kann, setzten sich einige Herren zusammen. Sie planten die Gründung eines Vereines, der sich allen Ernstes mit der Einführung einer phantasiereicheren männlichen Kleidung befassen wird. Den unmittelbaren Anlaß dazu hatte Monsieur Sascha Guitry aus Paris in seiner hiesigen Rokokorolle gegeben, in der er, dem neidvollen Urteil einiger Herren gemäß, selbstverständlich leichte Siege über Marquisen der Geburt und des Herzens davontragen könne, da er so entzückende Kostüme und der Stunde und der Liebeserklärung angepaßte Farben tragen dürfe. Urteilen Sie selbst, meine Damen: Sind dies nicht Zeichen eines Umschwunges?

Der elegante, in allen Nuancen der Anmut des Daseins erfahrene Kavalier, der Lebens- und Liebeskünstler, der Gentleman par excellence, der seine Hände mit dem mühsamen Erwerb von Geld nie beschmutzt hatte, der Arbeiter elegantiarum, der Meister der Muse – er ist nicht mehr. Die Zeit hat ihn über Nacht hinweggeweht. Vielleicht gibt es noch ein Paar Exemplare in England. Wollen wir hoffen, daß man sie, bevor sie absterben, für ein Museum der großen Vorkriegszeit erhält. Hier in Newyork fristet einer ein zwischen Luncheons und Dinners hin und her pendelndes Dasein. In dem für diese Spezies höchst ungünstigen Klima ist er allerdings schon etwas degeneriert, aber nicht in dem Maße, daß er sich durch Geldverdienen entwürdigen würde. Er lebt von seinen schönen dunklen Augen, seiner edlen, schweigsamen Pose und dem Nimbus seiner Abstammung von den Stuarts. Alle Schottländer stammen bekanntlich von dem einen oder dem anderen Königsgeschlecht ab. Er ist aristokratisch und schön schön, aber dumm. Und so bildet er einen Uebergang von dem Kavalier vieux jeu, der aristokratisch, wenn auch nicht immer Aristokrat war, der aber immer Geist besitzen mußte, Zu dem von mir eben prognostizierten Luxusmann, der den klaftertief Begrabenen einer absolut erledigten Epoche ersetzen soll, der seine Karriere ohne Geist und Adel, aber mit einer absolut geraden Nase und einer tadellosen Garderobe beginnt und in Anbetracht solcher Vorzüge auf die Abstammung von Königen und die Traditionen Casanovas, Beau Brummels oder Pückler-Muskaus nicht den geringsten Wert legt.

Dieser neue Mannestyp befaßt sich gleich seinem Vorgänger nicht mit Gelderwerb, außer es läßt sich dieses aus dem Handgelenk, etwa durch Spiel oder Spekulation bewerkstelligen. Er ist bis jetzt, wie gesagt, intellektuell vollständig// unbeschwert, was nicht heißen soll, daß er es immer so bleiben wird, liegt doch eine ganze lange und womöglich glanzvolle Laufbahn vor ihm, deren Ziel wir heute gar nicht bezeichnen können; wir vermögen nur zu konstatieren, daß die begonnen hat. Vielleicht interessieren Sie sich in Europa viel weniger dafür. Sie, meine Damen, haben sich ihrer Kavaliere erfreut, solange sie zu Ihrer Verfügung standen und als sie dann plötzlich eines Tages vom Erdboden verschlungen waren, haben Sie Ihr Interesse mit der dem weiblichen Geschlecht eigenen Anpassungsfähigkeit der neuen, von der eisern-harten Zeit geschaffenen Spezies Mann zugewendet, dem Verdienertyp, dem Selfmademan. Ihr Interesse für diesen war – wir sind ja unter uns, meine Damen – natürlich rein utilitaristisch, denn von ihm war Geld noch am ehesten zu erwarten. Und ihm, sowie dem, der sich gemäß diesem Modell umarbeiten konnte, fiel daher die schönste Beute aus Ihren Reihen zu. Panikartig verließen und vergaßen Sie die anderen, die einst Ihre Lieblinge gewesen, jene Kavaliere, die den Brutalitäten der neuen Zeit ratlos, wenn auch nicht würdelos, gegenüberstanden, und mag es auch dies, daß Sie ihnen Ihre holde Gegenwart entzogen, mit ein Grund für ihr rasches Absterben gewesen sein.

Sie haben aber nun, glaube ich, bereits gesehen, daß Sie mit dem Typ Erwerbermann nicht viel anfangen können, außer großmütig sein Geld auszugeben und seine Kinder aufzuziehen – tout comme chez nous. Im übrigen hat er teils keine Zeit und teils kein Talent, Ihre Tage mit seiner männlichen Grazie auszufüllen, aus dem einfachen Grund, weil diese nicht vorhanden ist. Wieder: Tout comme chez nous. Enttäuscht und ruhelos sehen Sie sich nach Abhilfe um.

Wir hier hätten Ihnen dies voraussagen können, wenn wir nicht wüßten, daß jeder durch eigenen Schaden klug werden muß. Denn wir haben seit langen Jahren genügende Erfahrung mit dem Typ Erwerbermann. Wir schätzen ihn. Er gibt einen ausgezeichneten Ehemann, den wir um nichts in der Welt mit Ihrem in Europa vertauschen wollten. Und wir geben ihn auch nicht her. Wir sind im allgemeinen nicht gut auf die verschiedentlichen barönlichen, freiherrlichen und gräflichen – sobald es ins Prinzliche geht, werden wir vielleicht etwas weicher, sogar heute noch – Attacken auf unsere heimische Girlwelt zu sprechen – the American man for the American girl! Aber: wir waren uns natürlich immer eines gähnenden Vakuums bewußt, was den Liebhaber, den Hofmacher, den Cicisbeo, den Troubadour (dessen Funktionen, wie Sie ja wissen, meine Damen, rein platonische waren), den verläßlichen Fünfuhrteegast, den geistreichen Plauderer beim Dinner betrifft. Er war nicht vorhanden. Wir haben Sie immer Ihrer bevorzugten Position wegen in dieser Hinsicht beneidet und wir sahen mit Erstaunen und heimlichem Ergrimmen zu, als die die Kavaliere hungern und sterben ließen oder es duldeten, daß sie Chauffeure und Exporteure wurden und der Schmelz ihres Alte-Welt-Savoir-Vivre im Gasolingestank und im Staub der Geschäftsbriefe unterging. Und während Sie Ihre Erfahrungen mit den unvollkommenen Vertretern einer neuen Mannesgattung machten – ich meine Gigolos, Tanz- und Sportjünglinge – haben wir, die wir uns mit dem Problem des Liebhaberersatzes wie gesagt schon länger befaßten, eine bereits etwas besser entwickelte Spezies hervorgebracht, nämlich den Scheik, geschrieben Sheik, gesprochen Schiek. 

Es wird Sie nicht verwundern, zu hören daß die Wiege des Original-Schiek nicht in Amerika, sondern in Europa und zwar in Italien stand. Hier aber war sein Weg in den Herzen, den Erwartungen und Sehnsüchten der Frauen schon vorbereitet. Und der Schiek, der seine Karriere höchst bezeichnend und zeitgemäß als Tangotänzer begann, brauchte nur zu lächeln, und das weibliche Amerika wußte, was ihm fehlte. Sie werden indes erraten haben, daß ich Rodolpho Valentino, den kürzlich Verstorbenen meine, der hier der Schiek genannt wurde, nach seiner ersten und erfolgreichen Rolle. Obwohl viele auf seinem Pfade wandeln, hat Rodolpho noch keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden, denn wie um alle Vollkommenen ist es einsam um ihn. Und in seiner Art war er vollkommen: eine vollendete, hohe und geschmeidige Gestalt, ein langer, schmaler Schädel, peinlich regelmäßige Gesichtszüge, die unfähig waren, irgendetwas anderes auszudrücken als das sanft erregte Entzücken über die Schönheit einer Frau; dieses aber mit einer unendlichen, und desto kostbareren, weil unbewußten Anmut. Also ein vollendeter Spiegel für unsere Schönheit und für den in unseren Augen ausgedrückten Traum von Liebe – und das ist es, was wir brauchen. Aber nicht bloß ein Spiegel, der uns unser und der Liebe Bild zeigt wie es ist, sondern einer, der es wie ein Prisma in strahlende Farben zerlegt. Wir denken nicht daran, unsere Männer zu betrügen, wir haben sie gern. Aber wir sind zu sehr Geschöpfe der Phantasie, als daß uns Hausmannskost allein behagen könnte. Wir brauchen ein wenig Schaukeln, ein wenig Spielen und immer – den Spiegel. Wir brauchen den Troubadour…

Ja, meine Damen, zum Unterschied von Ihnen verlangen wir von unserem Schiek vor allem, daß er – wie die altmodische, drüben bei Ihnen gänzlich abgekommene Phrase lautet – den Hof machen kann. Wir sind noch immer romantisch. Unsere Ehe ist seit jeher auf dem romantischen Kriterium des Gefühls aufgebaut gewesen. Die Romantik der Brautzeit verpuffte wohl bald, weil sie gewöhnlich auf nichts als auf Jugend gestellt war, und eine geruhsame, bequeme Kameradschaft folgte darauf. Diese Ehe genügte uns bis jetzt, denn wir waren sehr beschäftigt. Aber mit der Vermehrung unserer Mußezeit und der Verfeinerung unserer Nerven entwickeln auch unserer Gefühle Luxusbedürfnisse. Daher das Erscheinen des Luxusmannes.

Schon strebt dieser kavaliersmäßige Grazie an. Außerdem redet man hier jetzt soviel von Liebe, spricht, schreibt, liest soviel darüber, daß er wohl oder übel darin noch Experte werden wird. Heute ist seine Stirn wohl noch niedrig und sein Vokabolarium nicht allzu reich. Aber er wird bald lernen, daß es nicht nur die Möglichkeiten, seine Persönlichkeit auszudrücken, vergrößert, wenn er seine Bildung erweitert, sondern auch unser Entzücken. Er wird lernen. Er braucht nur eines dazu: Muße. Und, meine Damen, die sind wir ja im Begriffe, ihm zu geben. Nicht wahr?

In: Neue Freie Presse, 13.2.1927, S. 34-35.

Leopold W. Rochowanski: Amerikanische Bühnenkunst

             Seit ungefähr zehn Jahren ist die Bühnenkunst Amerikas in einem fortwährenden starken Umwandlungsprozeß und der Künstler im heftigsten Kampf mit dem fürchterlichen, alles Schöpferische vernichtenden Großbetrieb. Der Erfolg eines Schaffenden, eines, der Neues will, wird drüben geradezu als etwas Wunderbares angesehen, weil die Kenner der Verhältnisse die großen Schwierigkeiten  abzuschätzen wissen, die in den Verhalten der Direktoren und dem  Nichtvorhandensein von stets in sich geschlossenen Schauspielergruppen liegen.

             Es ist bemerkenswert, daß der erste Sieger auf amerikanischem Boden ein Österreicher war. Der Wiener Architekt Josef Urban malte gemeinsam mit Heinrich Leffler die Dekorationen zu „Tristan und Isolde“ für das Opernhaus in Boston und schuf damit die erste Inszenierung in modernem Sinn. Bald darauf wurde er von Eben Jordan nach Boston berufen und seit vielen Jahren ist er an der Metropolitanoper in New York tätig. Ein wichtiger Wegbereiter auf dem Gebiete der Beleuchtungstechnik war David Belasco . Große Impulse gaben auch Reinhardts Sumuru-Inszenierung im Jahre 1912 –, die Arbeiten Golowins und Leon Baksts. Am ausschlaggebendsten aber blieb lange Zeit die Tätigkeit Urbans in Boston und ab 1914 in Broadway. Durch seine Verbindung mit Florenz Ziegfeld jun. hatte er Gelegenheit, seine Absichten in ganz Amerika zu demonstrieren.

             Sehr entscheidend machte sich bald der Einfluß der kleineren Theater geltend. Viele Künstler, die heute zu den bedeutendsten gezählt werden müssen, kamen von dort. So kam Normann Bel Geddes vom Kleinen Theater in Los Angeles. Von den Square Players in Washington kam Lee Simonson und Rollo Peters. Von den anderen seien nur noch Ernest de Weerth – der voriges Jahr auch in Salzburg und Wien bei Reinhardt tätig war – Maurice Brown, Raymond Johnson, Sam Hume, Rudolf Schaeffer, Norman Edwards, Livington Platt, Watson Barratt, Sheldon K. Viele, Munroe Hewlett, Mordecal Gorelik, und Robert Locher hervorgehoben. Von Künstlern, die aus Europa kamen, müssen noch Nikolaus Roerich, Willy Pogany, Boris Anisfeld, John Wenger und Herman Rosse genannt werden. Letzterer hat bedeutende Bauideen für das Theater ausgesprochen.

             Zu den markantesten Künstlern gehört Robert Edmond Jones. Er arbeitete zuerst ein Jahr bei Reinhardt in Berlin und kam vor Kriegsbeginn nach Amerika, wo er vor allem durch seine Inszenierungen des „Macbeth“ von Arthur Hopkins und des „Richard III.“  Aufsehen erregte. Er schuf für dieses Stück als permanenten Hintergrund die grauen Mauern des Towers, stellte auf die Bühne nur einfache Gegenstände, die die Szene andeuteten. Ein eiserner Käfig war das Gefängnis „Heinrichs VI.“, ein hoher Lehnstuhl akzentuierte die Krönung, ein Galgen die Schlußepisode. Seine Shakespeare- und Maeterlink-Inszenierungen zeigen ihn durchweg als eigenartigen schöpferischen Künstler.

              Eine phantasiestarke Persönlichkeit ist Norman bel Geddes. Sein bedeutendstes Werk ist die dramatische Darstellung von Dantes „Göttlicher Komödie“. Geddes schrieb auch das Stück, und zwar aus Anlaß von Dantes dreihundertstem Todestag. Sheldon Cheney hat von der szenischen Wirkung eine ausführliche Schilderung gegeben. Es war höchste Kristallisierung einer visionären Phantasie, restlose Beherrschung von Licht und Farbe, ein ungeheures Schauspiel von Licht, Klang und Bewegung. Die Bühne stellt eine Hügelkurve dar, die, vom Zuschauerraum ausgehend, eine tiefe Grube umschließt. Eine Kaskade von Stufen führt hinab in den Krater, mit Plattformen in abgewogenen Intervallen. Zwei gigantische Sockel erheben sich im Hintergrund, ohne erkennbare Form zuerst, aber eindrucksvoll sich verändernd mit dem Fortschreiten der Handlung durch Erde, Hölle, Fegefeuer und Paradies. Alle Szenenveränderungen werden durch nichts anderes als durch Beleuchtungswechsel und Veränderung der Massengestalt vollbracht. Selten war das Licht berufen, einen so großen Teil der dramatischen Bürde zu tragen. Um die drei Hauptteile des Stückes kenntlich zu machen, kommt in der Höllenszene alles Licht von unten, aus dem Innern des Kraters. In der Fegefeuerszene scheint es von der Bühne zu kommen und während der Paradiesszene strahlt es von oben.

             Die Spielermasse ist mit dem Spiel bedeutungsvoller Einzelfiguren so geordnet, daß es den Eindruck von Szenenwechsel gibt. Die Handlung scheint mehrere Schauplätze zu umfassen, während es eigentlich ein einziger ist. Die Bewegung beginnt mit dem Schreiten der einsamen, emporklimmenden Gestalt, dann kommen Gestalten, die einander begegnen, aus Ecken und Winkeln, endlich drängen geballte Massen über die Szene, sprechen das einemal für sich, sind ein andermal Meereswellen. Sie formen und gestalten auch die großen Säulensockel, zwischen denen der Karren zu Dante hinunterfährt. In dem Wachsen der Bewegung, von dem Schreiten der einsamen Gestalt am Anfang bis zu der menscherfüllten Bühne am Ende, ist das gleiche Sichentfalten wie in dem Wachsen des Lichtes.

             Die beiden Sockel, turmartige, gestaltlose Körper, sind während der größten Zeit des Spieles halb verloren im Dunkel. Doch hie und da tauchen sie empor, nehmen Gestalt an, wirken als Teufelsflügel, als Engelsschwingen und dergleichen. Diese Wirkungen werden hervorgebracht durch Spielermassen, die auf den Plattformen in verschiedenen Höhen erscheinen und Gegenstände in den erforderten Umrissen halten und heben.

              Eine ähnliche Lösung zeigt die Art der Kostümierung. Individuelles ist bei den Massepielern selbstverständlich ausgeschlossen, die Note des Unpersönlichen, Abstrakten wird noch verstärkt, wenn sich im Szenenwechsel die Masse als Gestalt verändert. Die persönliche Gestalt wurde vom Künstler genial negiert, besser, als es Griechen und Orientalen durch Entpersönlichung der Gesichter erreichen.

             In der Schlußszene des Stückes ist das Aufflattern von zwanzig unermeßlich großen Schleiern von einer der obersten zwanzig Stufen jenseits der Sockel. Sie werden langsam aufgezogen, um die Handlung zum Gipfel des Lichtes zu führen.

             Das dritte Element – der Klang – folgt dem gleichen Gesetz allmählicher Steigerung wie Licht und Bewegung. Aus dem ersten Schweigen steigt die Stimme Dantes, das Wort der Dichtung wächst empor. In gleicher Weise beginnt die Musik als ein Ton. Von diesem Beginn geht es in stetem Steigen bis zu dem vollen himmlischen Chor am Ende. Ein Orchester von 150 Mann ist vorgesehen, mit Schlaginstrumenten, Pauken und Trompeten im Vordergrund, die Geigen als Orchesterchor hinter der Bühne. Es gibt auch einen unsichtbaren Chor von mehreren hundert Sängern, die in ein verborgenes Riesenmegaphon singen, dem eine ungeheure Tonsäule entsteigt. Auch Dampfsirenen werden verwendet, um die Chorschreie der Verdammten ausdrücken, und große Pfeifen, um die Luft erbeben zu machen, ohne einen Laut zu geben.

             Normen bel Geddes hat auch im vorigen Jahr für Max Reinhardt die Inszenierung des „Mirakels“ im Century Theatre in New York geschaffen, eine Leistung, die einer eigenen Betrachtung wert wäre.  Ebenso müßten noch seine Theaterbauten besprochen werden.

In: Die Bühne (1927), H 113, S. 24f.

N. N.: Der Jazz in Gegenwart und Zukunft.

             Schon einmal hat sich die „Bühne“ mit dem Jazz beschäftigt. Es war vor wenigen Monaten, als sie an der Hand von Notenbeispielen zeigte, wie bekannte Opernmelodien und Konzertstücke mit Absicht als Themen für Jazz-Musik verwendet werden: „Flavoring a selection with borrowed themes“, sagt dann der Arrangeur des berühmten, berühmtesten Jazz-Orchesters von Amerika, der „Jazzband Paul Whiteman“, „ein Potpourri mit geborgen Themen aufputzen“ … Die exotischen Melodien Amerikas allein tun es nicht, die meist dem Schatz der Negermusik entnommen sind.

             Nun äußern sich, fast gleichzeitig, allerhand junge Musiker der verschiedensten Nationen, äußert sich vor allem Paul Whiteman selbst zu dem Thema „Jazz in Gegenwart und Zukunft“. Fassen wir abermals einiges darüber zusammen!

             Der Jazz kam 1918 nach Europa, nach Paris. Er wurde im Casino de Paris zum ersten Male von einer richtigen Jazzband gespielt und die gesamte jüngere Generation der französischen Musiker war davon begeistert. Sie setzten sich selbst an die Jazz-Instrumente, um sie in ihrer eigentümlichen Anwendung, ihrer besonderen rhythmischen Präzision zu erlernen. Einer ihrer Wortführer, Darius Milhaud, preist die Jazz-Musik und das Jazz-Orchester mit seinen neuen Klangfarben als wunderbare Anregung. Er will natürlich genau unterscheiden zwischen der Lärmmusik und ihren Lärminstrumenten wie Hupen, Sirenen, Signalpfeifen und einem seriösen Orchester, das solche Ausnahmsinstrumente zwar gelegentlich bringt, dann aber immer wieder abschafft. Was dieses seriöse Jazz-Orchester der neuen Musik gibt, läßt sich in instrumentaler wie in harmonischer Beziehung noch gar nicht abschätzen. In instrumentaler Beziehung, indem ganz neue Klagfarben eingeführt, schon bekannte Instrumente, wie Posaune und Saxophon, völlig neu verwendet werden. In harmonischer Beziehung, indem auch für ein breiteres Publikum die Unterschiede zwischen Dur und Moll, das Bewußtsein der Tonalität schon auf dem Weg über die Klangfarbe verwischt wird.

             Alexander Jemnitz, ein bekannter ungarischer Komponist, der aber auch als witziger deutscher Schriftsteller auftritt, sieht die besondere Bedeutung der Jazz-Musik darin, daß der Rhythmus hier über die Melodie siegt, daß sich also durch den Jazz eine Musik vorbereitet, deren Hauptelement das Rhythmische ist. Er (und viele andere) erklären denn auch den großen Erfolg des Rhythmikers Strawinsky in Amerika durch die Beziehungen seiner Musik zum Jazz; und dieser große Erfolg Strawinskys beeinflußt wiederum die neueste deutsche, französische, italienische und auch schon tschechische Musik. Der ungeheure Erfolg von Béla Bartóks neuer Tanzsuite ist wohl auch ein Erfolg des Rhythmus. Allerdings streut Milhaud in die Diskussion (die die Musikzeitschrift „Anbruch“ vor ein paar Monaten eröffnet hat) mit Recht ein, daß im Blues das melodische Element etwa gegenüber dem reinen Ragtime schon wieder näher vortrete.

             Hat Milhaud auf den engen Zusammenhang hingewiesen, der zwischen der Jazz- als Ausdrucksmusik und der nicht bloß weltlichen, sondern auch geistlichen Musik der Neger (Nigro-Spirituals, wie sie hier in Wien Roland Hayes gesungen hat), deutlich besteht, so führt Louis Gruenberg diesen Zusammenhang nicht bloß theoretisch aus. Er hat für sich selbst ein geistliches Lied in der trockengeschäftlichen Art, wie sie einem Neger-Boy von heute drüben in Amerika gemäß sein mag, zum Muster genommen und es im Jazz-Rhythmus komponiert, den sogenannten Danie-Jazz, der der große Erfolg des jüngsten internationalen Musikfestes in Venedig war: da wie die Geschichte von Daniel in der Löwengrube vorgetragen, dem frommen Knecht Daniel, der seinem König durch fortwährendes Psalmen-Rezitieren langweilig wurde, so daß er ihn zuletzt den Löwen vorwarf; aber da ihm die Bestien nichts antaten, gab er ihm seine Dienststelle wieder. Einige Zuhörer waren entrüstet, wie sich ja viele mit Würde und Bärten behaftete Leute über jede Art von Jazz immer noch entrüsten. Die meisten aber hätten das famose stück am liebsten gleich zum weiten Male angehört. Vielleicht muß man amerikanischer Komponist sein, um diese Art Musik weiter bringen zu könne, wie das Gruenberg so reizend und zukunftsverheißend getan hat. Alle Amerikaner, alle Musiker, die auch nur je in Amerika waren, sind der Meinung, die Zukunft der amerikanischen Musik werde vom Jazz getragen werden. Sie sind dieser Meinung schon deshalb, weil der Jazz seit langem, wenn nicht überhaupt der einzige originelle Ausdruck eines gesamtamerikanischen Musikempfindens ist. Paul Whitman selbst erzählt eben jetzt in „Vanity Fair“, daß er mit seiner Kapelle eine ganze Saison lang „revolutionäre Konzerte“ veranstaltet habe, die auch alle jene anlocken, die zu einem regelrechten Symphoniekonzert gar nicht gehen würden, also gleich alle amerikanischen Männer. Das Publikum, das er so gewinnt, soll dann zur klassischen Musik eben auf dem Umweg über den Jazz geführt werden.

             Es versteht sich von selbst, daß bei der ungeheuren Bedeutung des Jazz für das amerikanische Musikleben drüben auch schon förmliche schulen und Lehrgänge des Jazzspielens eingerichtet sind. In New York gibt es eine eigene Schule „The Winn School for Popular Music“, an der man lehrt, wie man Ragtime, wie man Jazz und Blues spielt. Interessieren dürfte, daß der Leipziger Musikkritiker Alfred Baresel, angeregt durch unsere Wiener Jazz-Diskussion, jetzt ein eigenes Jazz-Buch (im Verlag Zimmermann in Leipzig) herausgegeben hat, dessen erste Auflage in drei Wochen vergriffen war. Das Jazz-Buch gibt genauen Aufschluß über alles Technische beim Jazz, gibt Übungen für den Klavierspieler, kurz es ist ein Lehrbuch, dessen Ziel sich auf 34 Seiten Umfang erreichen läßt. Es wird immer nötig sein (wie man aus alldem ersieht), und auf eine Reihe von Jahren hinaus, vom Jazz zu sprechen…

In: Die Bühne, Nr. 68, 1926, S. 26-27.

Ann Tizia Leitich: Girldämmerung

Das neue Ideal: die wissende junge Dame

Wer von Ihnen, meine Damen, hat ein Körpermaß von 155 Zentimeter? Wem gibt der Bubikopf ein lächerliches Aussehen und wird nur getragen, weil man lieber lächerlich wirken als wie seine eigene Großtante aussehen will? Wer hatte seine liebe Not mit diesen Puppen- , diesen Konfirmationskleidchen, die die Mode der letzten Jahre vorschrieb? Wem hat ein Künstler gesagt, daß die sanfte Wellenlinie der Hüften entzückender sei als die erbittert angestrebte hermaphroditische Kurvenlosigkeit der modernen Figur – was Sie natürlich damit beantworten, daß sie die ganze Schönheit mit einem Jumper zu phantasieloser Geradliniegkeit plattdrückten? Welche Frau gefällt sich in der von der Mode verbannten langen fließenden Gewändern mit einer Schleppe? Wer ist der ewigen Filzcloche der Sechzehnjährigen müde? Und wer möchte  – ich bin mir bewußt, daß diese Frage der ganz unmittelbaren Gegenwart etwas vorausgreift, aber sie liegt in der Entwicklungslinie meines Gedankens – wer möchte einmal, statt bloß geistlos zu tanzen, interessant flirten?

Alle diese Damen, deren geheime Wünsche mit den Möglichkeiten im Widerspruch liegen, können frohlocken und einander die Hände schütteln. Für sie bricht eine bessere Zeit heran: sie kommen wieder in Mode, denn – –

Das Girl hat ausgespielt. Wie es in Europa ist, weiß ich nicht, denn die Behauptung gilt nur für Amerika, das Land, wo das Girl die impertinent unschuldigen und je nach Bedarf keck-fröhlich oder sentimental-ergebenen Augen aufschlug. Europa dürfte übrigens, wie in den letzten Jahren gewöhnlich, schleunigst folgen. Es wird natürlich auch nicht gleich ganz verschwinden, das Girl, dazu ist es zu lebenskräftig und zäh; aber es wird Liebe und Sex, Mode, Künstler  und Figurinenzeichner, Männer und ihren Geschmack, Literatur, Theater, Kino, Manieren nicht mehr tyrannisieren können. Es ist ihm nämlich das Fatalste passiert, das einem weiblichen Wesen heute zustoßen kann: es ist uninteressant geworden. Das geschah, als die Intellektuellen und die Snobs es gleichzeitig fallen ließen. Jene taten es, indem sie sich laut und wortreich in ihren Magazines mit den Problemen der verheirateten und erwerbenden Frau befaßten; diese rein geistige, daher langweilige Tätigkeit wäre wahrscheinlich ohne Konsequenzen für die Welt verhallt, wenn die Snobs nicht gewesen wären, die sich in ihren Magazines an blasierten Dialogen erfreuten, in denen die weibliche Partnerin so kühl-überlegen, so raffiniert berechnend, so erhaben über allem und doch lüstern auf jede Sensation, so lässig hingegossen und dabei in jedem Winkel ihres Wesens auf der Lauer gezeichnet war, wie es ein Girl nie und nimmer sein durfte, ein Typus, den man mit dem unübersetzbaren Wort ‚sophisticated‘ bezeichnete. Schon seit geraumer Zeit glorifizieren die Snobs, die in Newyork, dem größten Wettrennplatz der Welt, eine ganz hervorragende Rolle spielen, dem herrschenden Broadway-Geschmack und dem berühmtesten Girlregisseur Flo Ziegfeld zum Trotz die ‚sophisticated woman‘. Wer Vogue, Harpers Bazar oder Vanity Fair je in der Hand gehabt hat, dem wird dies keine Neuigkeit sein.

Das Girl im Leben und auf der Bühne. –

„Baby-stare“

Die Allgemeinheit wurde scheinbar nicht dadurch beeinflußt: Die Girlmode  hielt sich vor allem deswegen, weil sie an einem unerhört  festen psychologischen Haken der Frauen hing, die da glauben, nicht bloß Jahre, sondern Jahrzehnte wegschwindeln zu können, wenn sie sich als Girls gebärden; was bei einigen stimmte, bei vielen aber nicht; was wir aber wieder nicht so bemerkten, weil wir alle den Girlkomplex hatten. Wie in der Mode, behauptete sich das Girl auf der Revuebühne, wo das stehende Heer von Ziegfeld-, Hoffmann-, Tiller-, Albertina-, Rasch-, Duncan- und anderen Girls fortwährend durch neu anmarschierende Bataillone verstärkt wurde. Sein Gesicht lächelt unentwegt und unerschüttert von den Titelblättern und aus den Seiten der populären Magazines; und sein knabenhaft unentwickeltes, schmetterlingsleichtes Figürchen, das dem Mann nicht bis zur Schulter reichen durfte, beherrschte die allmächtige Silberleinwand und damit Millionen von Zuschauern.

Vielleicht ist es hier nützlich, darauf zu verweisen, daß das amerikanische und das europäische Girl sich nicht ganz deckten. Die charakteristischen und wesentlichen Eigenschaften des amerikanischen, also des echten Girls, war die … o nein, nicht die Bubenhaftigkeit. Diese war nur die äußere Würze, die pikant kontrastierende Beigabe, die mit großer Kunst verwendet sein wollte, die die Europäerin meist nicht so gut verstand wie die Amerikanerin; denn das Girl war bei weitem schlauer als es aussah; schlauer zu sein als zu scheinen, war ja sozusagen sein Geschäft; Millionen wurden damit verdient. Daher begegneten nur Imitationsgirls dem Mann burschikos; die echten, unter denen es wahrhaft entzückende gab, wußten, daß sie vor allem ‚sweet‘ (süß) zu sein hatten. Und deshalb war das Girl an der Vermännlichung der Frau unschuldig; diese Vermännlichung gehört in ein ganz anderes Kapitel und ist auch eine Ursache mehr, daß das Girl aufhören muß, Girl zu sein. […]

Das Hauptrüstzeug ihrer Vorgängerin wird samt und sonders in die Abfallkanne wandern und darum ist es wahrlich nicht schade. Das ist nämlich jener süße, unschuldig-einfältige Blick aus weitaufgerissenen, dem Leben namenlos verwundert gegenüberstehenden Augen, mit dem das Girl zum Mann hinaufsah. Diesen Blick bezeichnete der amerikanische slang treffend als „Baby stare“. Jeder kennt ihn aus amerikanischen Filmen; denn wenn die Heldin nicht eine /30/ ausgemachte Verführerin war, so mußte sie über dieses Baby-stare und die Babygestalt verfügen und das Babyliebesgetändel beherrschen, um Helden und Zuschauer dranzukriegen. Demgemäß waren die Straßen, die Geschäfte, die Restaurants von Hollywood mit den hübschesten, gedrilltesten und mustergültig uniformen Girls so angefüllt, daß die ganze Gegend mit Baby-stares förmlich infiziert war und nach kürzerer oder längerer Zeit seinen Verstand verlieren mußte.

Mary Pickford wird entthront

Noch tanzen die Girls auf Broadway – – sie werden es noch lange tun, God bless them. Am Weihnachtstage glühlichterte ein Revuetheater über die unabsehbare Menschenmenge der Theaterstraße: „4 shows today nothing but girls.“ Aber etwas geschah neulich, das man nicht so sehr beachete, da hier täglich Größen fallen und Größen aufstehen. „Darling of America“, Mary Pickfords neuester Film fiel auf Broadway fast durch1. Nicht weil Mary über das Alter der Girls hinaus ist, aber weil sich das Publikum für Mary-Girls nicht mehr interessiert. Mary fiel zum ersten Mal in ihrem Leben ‚flach’ und sie wird ‚fern von Madrid’ jetzt Zeit haben, darüber nachzudenken, wie viele von ihren schauspielerischen Künsten sie dem Filmbaby opferte, das sie kreiert hat. Nachdem dieses Ereignis ohne Kommentar versunken war, wurde ein über der Fünften Avenue schwebender monumentaler Girlkopf, der eine Seife mit den Worten anpries „keep that school-girl complexion“ (Bewahre den Schulmädchenteint), eines Tages durch den schlanken, intelligenten Kopf und das liebenswürdig, aber sehr weltweise dreinschauende Gesicht einer jungen Frau ersetzt, die noch dazu ganz offen eine Frisur trug. Gleichzeitig verschwand auch die „School-girl complexion“. Damals begann ich etwas zu ahnen, denn ein solches Plakat kostet zu viel, als daß man sich dabei Experimente erlauben könnte. Meine Ahnung bestätigte ein Blick in das Schaufenster eines berühmten Modehauses, wo die reizenden Stilkleider, die das Girl mit seiner bekannten Präpotenz sich auch gleich wieder hatte aneignen wollen, indem es durchaus niedliche flatternde Kleidchen daraus zu machen suchte, ladylike verlängert waren. Einzelne rückwärts bis zum Boden, in der Art der Kostüme der andalusischen Tänzerinnen, andere mit seitlicher oder rückwärtiger Schleppe. Ha, eine Schleppe, das geschieht ihm recht, dem Girl.

            Es gab in den Schaufenstern noch allerhand andere interessante Sachen, Schleier zum Beispiel, die aber wahrscheinlich nicht Mode werden dürften, weil die Amerikanerin sie einmal nicht will, und geraffte, fließende Kleider, die für jene hochgewachsenen Frauen geschaffen sind, die sich die letzten Jahre in Mauselöchern verkriechen durften, wenn sie nicht sich selber untreu sein wollten. Und am selben Abend sah ich bei einer fashionablen Premiere alle die Damen, von denen ich wusste, daß ihre blonden, brünetten, grauen, weißen Bobs (geschnittene Haare) unmöglich schon nachgewachsen sein konnten, mit tiefen Knoten im Nacken, mit gedankenvollen, intelligenten, von zu viel Erleben müden Gesichtern – Müdigkeit, die natürlich zu 99 Prozent Imitation war, Gesichter, die zum Mann keineswegs hinauf-, sondern offenbar auf ihn herabsahen, auf denen ein Lächeln nur selten aufflog, aber dann mit allen Anzeichen von Kostbarkeit, Geheimnis und wissendem Locken. Blond, brünett, grau oder weiß – – die Girls waren samt und sonders verschwunden und es gab nur elegant-geschmeidige, unendlich blasierte „sophisticates“.

Die neue Königin und ihre Attribute

Und damit seien auch alle jene getröstet, die um die verlorene Dame die Hände gerungen haben. Es ist nicht mehr notwendig, denn sie ist schon wieder da. Wirklich und wahrhaftig; man darf sich beruhigen. Sie ist zwar nicht ganz die Alte, selbstverständlich nicht, Gott sei Dank nicht, dazu hat sie viel zu viel mitgemacht und zu viel gelernt; aber sie ist Dame. Wenn man es noch nicht glauben kann, so will ich zum Schluß jetzt meinen Trumpf ausspielen: Hollywood ist mit dabei, sein ureigenstes Produkt, das Girl, zur Strecke zu bringen. Das ist ungeheuer wichtig, denn ohne Hollywood könnten wir’s alle nicht ermachen. Sie zweifeln? Aber ich habe es schriftlich. „Hoch, schlank, statuesk, schön, die Personifizierung schlummernder Glut.“ Worte, die vor zwanzig Jahren geschrieben wurden? Mit nichten! Ganz neue Worte, so neue, daß sie noch brennend weiß über Broadway getragen werden. Denn mit ihnen preist Hollywood seinen neuesten Star an, Greta Garbo, die Schwedin, die gegenwärtig in einem Film, „Love“ Triumphe feiert, dessen Personen komischer- oder tragischerweise die Namen von Tolstois Roman „Anna Karenina“ tragen. Auch Pola Negri2 hatte hier Erfolg, aber es war nicht die Art von Erfolg, die so zwingend einen Teil der öffentlichen Mentalität wird, daß die Frauen sich selbst, Mode und Liebe verändern, und die Männer ihr weibliches Ideal von heut auf morgen umkrempeln. Greta kam eben im psychologischen Moment, als Amerika reif war für die hohe, schlanke, wissende, junge Frau, die noch vor zwei Monaten in Hollywood ruhig vor den Toren der Studios hätte verhungern können, selbst wen sie die Duse3 des Films in Person gewesen wäre. Greta bricht übrigens auch die Tradition in anderer Hinsicht, indem zum erstenmal in einem amerikanischen Schlager eine verheiratete Frau zur Liebesheldin gemacht wird.

Was werden nun die Girlarmeen in Hollywood machen? Und wie werden die kleinen Stenos ihr Budget dem neuen Ideal anpassen, das bei weitem teurer kommt? Warum sollen wir uns darüber den Kopf zerbrechen; wer hat uns gefragt, als man uns Kinderkleider zumutete! Ich habe meine Pflicht getan und Ihnen, meine Damen, eine „Advance notice“ zukommen lassen. Und jetzt gehe ich zum Coiffeur, um mir die Haare à la Garbo  – halblang auf die Schulter fallend – frisieren zu lassen, und zur Schneiderin, um mir ein gerafftes Abendkleid mit einer kleinen, blasierten Schleppe zu bestellen.

Newyork, im Januar 1928.    

In: Neue Freie Presse, 22.1.1928, S. 29-30.

  1. Mary Pickford (1892-1979, Star des amerikanischen Stummfilms) siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Mary_Pickford (Zugriff vom 5.7. 2014)
  2. Pola Negri, 1897 in Lipno, Russland (eigentl. Poln. Stadt) – 1987, San Antonio, USA; Star der Stummfilmzeit, insbes. in der Zusammenarbeit mit Ernst Lubitsch seit 1919 (Madame Dubarry), Hollywood, Rückkehr nach Deutschland 1934, wo sie mit Paul Wegener für die UFA drehte, ab 1941 wieder in den USA.
  3. Eleonora Duse (1858-1924), bedeutende italienische (Theater)Schauspielerin; siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Eleonora_Duse (Zugriff, 5.7.2014)

Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“

Siehe dazu auch Monotonisierungsdebatte.

Stand da vor Wochen ein so interessantes Feuilleton in diesem Blatt, voll der Wehmut, die sich über schwindende Schönheit neigt, und doch auch voll Kraft im Selbstbehaupten, im Pathos der Schlusssätze. Der es schrieb, ein Dichter-Schriftsteller von internationalem Ruf, dessen künstlerisches und menschliches Wesen bis in die letzte Fiber durchtränkt ist von dem Duft, der Sensibilität der Kultur, deren unaufhaltsames Schwinden er beklagt; einer Kultur, die zwar unbewußt und liebenswürdig hochmütig, aber in ihrem universellen Umfassen aller ‚Himmel des Geistes’ dem Gefühlsleben ein Blumenparterre schuf, darin die Seelen im Anschauen von Schönheit ewige Fragen in edler Muße besprechen konnten. Vorausgesetzt freilich, daß sie in dieser Muße geboren waren, denn sonst hatten sie in der Regel draußen vor den Toren zu bleiben. Denn diese schöne und versinkende Kultur, unsere europäische Kultur des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die der Krieg mit Auszehrung schlug, sie war eine individual-aristokratische, respektive bürgerliche Kultur, wie bis jetzt noch jede, die altgriechische ausgenommen. Sie gehörte jenen, die durch Geburt, Klasse, Stand sie in die Wiege gelegt bekamen. Sie ist uns allen teuer, die wir in ihr aufgewachsen. Wir alle bluten aus Wunden, die uns ihr Abreißen geschlagen hat, und unser taumelndes Leid wird  beredt in der Sprache eines Dichters wie jenes, der den Aufsatz schrieb, auf den ich hier weise: ‚Monotonisierung der Welt.’

Aber nicht um Vergangenem nachzuahmen greife ich zur Feder; ich bin in Amerika und da gibt es nur Gegenwart und Zukunft, keine Vergangenheit. Ich schreibe heute, weil in ‚Monotonisierung der Welt’ ein Satz ist, der heißt: „Woher kommt diese Welle, die uns alles Farbige, alles Eigenförmige aus dem Leben wegzuschwemmen droht? Jeder, der drüben gewesen ist, weiß es: von Amerika.“ Ich greife diesen Satz heraus und nehme ihn unter die Lupe.

Woher nehme ich die Courage? Kaum eine Handvoll Jahre ist es her, da saß ich im Kaffeehaus an der grünen Salzach, wo die ganz ansehnliche Künstlergemeinde Salzburgs ihr Quartier-Latin-Zusammenkünfte in jenen Nachkriegsjahren zu haben pflegte, im Angesichte von Fluß, Brücke, Stadt und des alten Wolfdietrich ragendem Schloß. Ist’s Café-Akademie? Zuviel ist über den Namen gerauscht, wie plastisch zwar auch die Szene der Seele erhalten geblieben. Und da saß am selben Tisch Stefan Zweig. Nicht, daß er mich bemerkt hätte: ich war jung und unreif, aber dankbar für die Stunde, die den Dichter an meine Seite gebracht, der mir die schlanke, sensitive Hand reichte, der aus der Welt von Kunst und Büchern seines altersgrauen Schlößchens nur selten herunterkam, um zu präsidieren, mit der Grazie eines Herzogs in der Nonchalance von Kniehosen und Sporthemd. Aber nicht ganz so selten wie der unsichtbare Geist über dieser literarischen Gemeinde, der schweigsam und exklusiv wie ein grollender König, täglich, in Silberbart und karierten Bridges, in ein gewisses Gasthaus in der Vorstadt pilgerte, wo es die besten Knödel gab. Ich meine natürlich Hermann Bahr. Oder der Schmied duftiger Verslein und sinniger Geschichtlein, voll der Herb-Süße Alt-// Österreichs, Franz Karl Ginzkey, der sich gerade ein Nest zurechtzimmerte, so weit draußen, versteckt hinter Wiesen und Hecken, daß man seine liebe Not hatte, es zu finden. Reinhardts Barockschloß träumte damals noch abbröckelnd, mit glaslosen Fenstern, über einen schilfgesäumten Teich, der jedem gehörte, der ihn haben wollte.

Was für silberne Tage, was für ein silberner Platz: Salzburg. So recht geschaffen dazu, dort eine Burg aufzurichten gegen die in der Phalanx der Großstädte auftürmende Verplattung von Zeit, Mensch, Gedanke. Und daraus stracks nach Amerika – es könnte ebenso gut heißen, von einem Planeten durch unendlichen Raum zu einem anderen Planeten. In das Amerika nämlich, in das ich gelangte. Mitten hinein ins schlagende Herz der neuen Welt warf es mich, nach Chicago. Und da war keine lieblich erwärmte Hotelsuite für mich bereit, keine Freundeshand, die mich führte und wies, kein Wegzeiger auf meiner Straße, aber da war auch kein Land von Hotel zu Hotel durchrasender Salonwagen, keine schwatzenden Komitees, die im ehrlichsten Bemühen nichts anderes tun als eine Welt in einem Fingerhut präsentieren. Ich kam nicht aus Hunger nach Brot oder Gold: denn eine leidlich gute Krippe hatt’ ich im alten Land in den Wind geschlagen und vom Gold war ich klug genug zu wissen, daß es auch hier nicht auf der Straße liege. Ich kam aus dem Zusammenbruch einer Epoche: aus dem Zusammenbruch eines Lebens, um die Möglichkeit neuen Lebens zu suchen. So stand ich Amerika gegenüber mit blanker Seele, aus der die Vergangenheit weggebrannt war, fragend: Was bist du, wo bist du, wer bist du; was bringst du mir, was der Welt? Ich, die Mücke, zum Riesen Amerika. Und der Riese sagte: Go ahead and find out! Geh und schau zu, was du findest. Ich stand mit dem Bündel Fetzen, das der Krieg einem österreichischen Intellektuellen hinterlassen hatte, in den Straßen Chicagos ätzend heiß im Sommer. Go and find out… Und ich ging und trachtete zu finden. Vorerst etwas zu essen und ein Dach überm Kopf. Leicht oder nicht leicht, ich wollte doch so ungeheurer mehr. Schritt um Schritt rang ich es dem Riesen ab. Ich kämpfte mit ihm, ich arbeitete für ihn, ich schrie gegen ihn, ich schmeichelte mich an ihn heran, trachtete seine schwachen Seiten herauszufinden und fand seine starken, dort wo sie kaum geahnt. Ich besah ihn mir von unten und oben, von innen und außen. Ich aß apple-pie und steak mit Wäscherinnen und Tippfräulein und Austern und Lobster mit Klubdamen und Millionären. Lachende Töchter des Westens schlug ich auf der Universität in englischer Grammatik, und ließ mich von ihnen in basket-ball schlagen. Viele Türen ging ich ein und aus und sah den Menschen bei der Arbeit auf die Finger, belauschte die Muße: Eine bunte Menge, hochmütig-exklusiv und gemütlich-anbiedernd, arm und reich, edel und unedel, ich sah, wie die Tage, die Wochen, die Jahre, wie die Städte und die Weiler sie gleich Treibholz an das Ufer unseres Bewusstseins schwemmen, das bereit steht mit der Laterne der Frage: Wer seid ihr, was bringt ihr? Und ich bin in den Farmerhäusern des großen Mittelwestens gewesen, wo Schweine auf der einen und Mais auf der anderen Seite der Menschen Hirn und Herz begrenzen, weil ihnen die Natur nichts anderes gewährt, und ich habe mich gewundert, wie sie es zusammenbringen, dazwischen auf Gott nicht zu vergessen, was immer nun Gott auch sein mag. Der Mittelwesten hat Amerika eine Anzahl seiner besten Dichter und Schriftsteller des letzten Jahrzehnts gegeben. Die man in Europa erst noch kennen zu lernen hat als die Pfadbrecher einer neuen literarischen Epoche – Morgenrot über dunklen, schlafenden Wäldern.  Freilich glaube ich nicht, daß einer unter ihnen sich mit Marcel Proust hätte verständigen können oder Proust mit ihnen; dazu sind beide zu sehr Vertreter der Extreme, die nicht einmal auf derselben Linie liegen. Ich möchte nicht begraben sein im Mittelwesten, kein Europäer könnte dort leben, der vor dem Krieg erwachsen und gebildet war. Aus dem einfachen Grund, weil es zu verschieden ist. Ich floh nach Newyork, um Europa näher zu sein, um Europa zu riechen im Angesichte der Dampfer, die es erste vor ein paar Tagen gesehen; aber ich habe im Mittelwesten unendlich viel gelernt. Amerika ist mehr als die an monumentale Keckheit, an Frivolität des Geistes grenzende Ausgestaltetheit der Wolkenkratzer; ist mehr als Newyorks weißglühender Markt der Eitelkeiten und des Sensationshungers, Broadway, mehr als Wallstreets Dollarjagd; mehr als seine 16 Millionen Automobile und die unheimliche Kompetenz des Druckknopfes (just press the button), der uns mit allem versieht, von einer Tasse Kaffee bis zum Konzert des berühmten, ein paar hundert Meilen weit entfernten Virtuosen. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten des Reichwerdens, wie es in den europäischen Märchen vorkommt, ist mehr oder weniger eine Sache der Vergangenheit; aber Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten n der Evolution des Menschengeschlechtes mag wohl eine Tatsache werden.

Europa weiß ja selbst heute seinen Weg nicht. Es taumelt in der Dunkelheit. Zurück zum Alten, über die Trümmer hinüber klimmen kann es nicht und vorwärtsweiß es nicht recht wie. Europa ist zu befangen, zu verstrickt in tausend Strömungen und Unterströmungen, in Hemmungen und Wünschen.  Der Europäer als Einzelmensch ist einem werter und unleugbar interessanter als der Amerikaner, aber das Land als solches? Langweilig, platt, oberflächlich? Nein. Je länger man hier ist, desto überzeugter wird man davon, daß man noch immer mehr zu erkennen hat. Wenn ich sage ‚Land’, so meine ich es: Land. Die amerikanischen Städte sind mit wenigen Ausnahmen von einer trostlosen Hässlichkeit, einzig und allein für den Zweck gebaut, Geld zu machen; aber der Amerikaner besiegt diese Hässlichkeit, indem er ihr so viel als möglich ausweicht, und es hilft ihm dabei ein großes Glück: Platz zu haben. Alle amerikanischen Städte wachsen weit ausladend ins Grüne. Aber die Kraft, der Sinn Amerikas liegt nicht in den Städten, der liegt im Boden. Monotonie? Langeweile? Ja, fürchterlich, in beiden, Land und Stadt. Aber der Amerikaner kann nichts dafür; er empfängt diese Monotonie nicht freiwillig wie der Europäer, der sie eintauscht für bessere Güter. Ihn hat sie überrascht, überströmt, daß er momentan wehrlos, obwohl nicht tatlos ist gegen sie. Nach der sauren, alle Zeit und Energie in Anspruch nehmenden Arbeit der Erschließung eines riesigen Kontinents verwandte er den Ueberschwang// der also durch Uebung gestählten, durch Erfolg erfrischten Kräfte auf den weiteren Ausbau seines Lebens, für das er sich in wenigen Jahrzehnten eine Form geschaffen hat, die alles je Dagewesene an Brillantheit übertrifft. In Treibhausschnelle ist sie der ehemaligen Lehrmeisterin Europa über den Kopf gewachsen. […] Europa hat Jahrhunderte gebraucht, um seine Kultur zu bilden, die, zwar befruchtet von asiatischen, dennoch seine eigene ist. Nun, Amerika ist dabei, seine eigene Kultur zu bilden. Was es bisher gehabt hat, war importiert, adaptiert, oder trug deutlich den Stempel europäischer Schulung. Nun beginnt es sich zu emanzipieren. Sein politisches Distanzhalten ist vielleicht ein Symptom davon. Nicht daß es Europa von sich fern hielte, Europa und Amerika sind näher denn je, geographisch. Es horcht, was Europa zu sagen hat. Dieses Horchen darf man aber nicht für Absorbieren nehmen, denn es geht absolut seinen eigenen Weg. Wer kann heute genau wissen, wohin der führt? Aber jeder, der hier ist und dem Land den Puls fühlt, wird es erleben: die unverwischbare Empfindung, daß hier etwas im Werden ist, daß sich eine Seele regt, die langsam große Augen aufschlägt.

Renan definiert eine Nation: „Große Dinge in Gemeinschaft gemacht zu haben und wünschen, große Dinge in Gemeinschaft zu machen.“1 Aus naheliegenden Gründen trieb und treibt der Materialismus hier – wie überall – seine giftigen Blüten. Aber legt man das Ohr auf die Erde, so hört man den Hufschlag von Besserem. Hat man in Europa je daran gedacht, in Gemeinschaft national Wertvolles zu leisten? Ja, der Einzelne, der Große, er dachte und denkt die großen, die schönen Gedanken. Der Impetus, den die Großen gaben, war immer die Hefe für Neues und Besseres. Aber einmal über die Schwelle ihres Hauses trat man in Tyrannei, Stupidität, Haß und Schmutz. Hat je ein Volk zusammengearbeitet, um sein Land groß zu machen? Nein, es wurde höchstens dazu gepeitscht, es mächtig zu machen. Nur ein Beispiel. In Europa gibt es heute genug sehr reiche Leute, wahrscheinlich mehr als vor dem Krieg. Ist es einem eingefallen, ein großzügiges Kulturwerk zu schaffen, deren Nutznießer die Allgemeinheit ist, eine Bibliothek, eine Universität usw. oder Bestehendem genügend aufzuhelfen? Ich habe nichts davon gehört. […]

Amerika ist noch mitten drin im Fundamentlegen. Nun noch einmal zu unserem Mann zurück, zu unserem Durchschnittsmann – abends konzertieren für ihn Pablo Casals, Jeritza, die Philharmonie in seinem Hause, Staatssekretär Hughes spricht für ihn. Der reichste Mann der Welt kann wahrscheinlich Pablo Casals, Jeritza für einen Abend engagieren, kaum aber Staatssekretär Hughes2. Aber hier ist er in einem Fünf-Zimmer-Haus! Also: Fabriksware, Maschine, Kino, Radio, Horreurs für den kultivierten Europäer, gewiß. Warum aber eine Gefahr? Kein Künstler braucht zu fürchten, daß sein Saal leer wird durchs Radio, denn wer Schaljanin am Radio hört, wäre wahrscheinlich kaum ins Konzert gekommen. Andrerseits aber wird durch das Hören am Radio der Wunsch erweckt, den Künstler in Person zu hören. Wenn man hundert-, zweihundertmal am Victriola (ein ausgezeichnetes Grammophon) „O du mein Abendstern“ gespielt hat, prägt sich einem schließlich etwas von der Schönheit ein, und man wünscht die ganze Oper zu hören3. Vielleicht ist das Victriola zum großen Teil  schuld daran, daß die Operngesellschaften in Amerika aus der Erde wachsen. Riesige Entfernungen sind in Amerika, die durch die Vehikel der Kultur, wie wir sie einst in den schönen Zeiten vor dem Radio gehabt haben, nie erreicht werden könnten. Viele Millionen Menschen wohnen dort. Ihnen allen wird plötzlich eine neue Welt erschlossen. Machen wir uns doch einmal klar, daß die Zeit, da Cheops (von dem wir glauben, daß er seit Tausenden Jahren tot ist, der aber noch immer atmet) Ungeheures schuf mit Hilfe von Hunderttausenden von namenlosen Sklaven, die in der Wüstensonne wie Fliegen starben, daß diese Zeit endgültig vorüber ist. Wir stehen an der Schwelle einer ganz neuen. Wir sind inmitten einer ungeheuren sozialen Evolution. Europa experimentiert sich in diese Zeit hinein und es experimentiert, wie das russische Beispiel zeigt, nicht gut. Aber das russische Bei//spiel hat auch gezeigt, wie faul, wie unterminiert unsere Zeit gewesen. Es gefiel uns, gewiß, und wenn wir von Elend und Jammer und Hässlichkeit hörten, hielten wir die Hände abwehrend vor und sagten: Ja, ja, das existiert, aber wir wollen nichts davon wissen. Aber es nützte uns nichts; wir bekamen Jahre voll Elend, Jammer und Hässlichkeit voll zubemessen und wir sind dem russischen Gemetzel nur um ein Haar entronnen. Der Gestank aus übertünchten Gräbern wird früher oder später ruchbar.

Ich sehe für einen der bedeutendsten, ja vielleicht für den bedeutendsten Amerikaner der Epoche jenen an, der in allen seinen Betrieben dem geringsten Laufjungen einen solchen Wochenlohn zahlt, daß er durch ihn mehr haben kann als bloß trockenes Brot. Dies nicht aus Idealismus, auch nicht nur als Propagandakunststück, aber aus einer mehr schlauen als weisen, ungemein sicheren Vorausfühlung, mit der er Gestalt findet für Dinge, die da kommen sollen. Dieser Mann ist Ford. Ich habe gezögert, den Namen hinzuschreiben, denn Ford hat in Europa schlechtesten Ruf als der Protagonist des Taylorsystems, der äußersten, verblödenden Spezialisierung der Arbeit, Man kann eben nie ein Glied aus einem komplizierten Mechanismus, wie es ein Industriesystem ist, herausgreifen und einzeln betrachten; da muß man falsche Schlüsse machen. Gut und schlecht – das Kapitel Ford ist ein Kapitel amerikanischer Kulturgeschichte. Was aber nun den Laufjungen betrifft – es muß auch Laufjungen geben, warum sollen sie Ausgeworfene sein, weil sie Laufjungen sind? Es wäre entsetzlich, wenn die Welt nur aus Universitätsprofessoren bestände. Ich bin weder eine Bolschewistin noch eine Sozialistin, lediglich Amerikanerin – in diesem Sinn – und als solche sage ich: Jeder, wo immer er geboren ist, soll die Möglichkeit haben, sein Leben auszugestalten; die Möglichkeit, die Zeit, zu lachen. Das wollen wir vor allem wieder können: lachen. Dann werden wir weiter sehen. […]

Ja, wird man mir sagen, in Amerika ist das leicht, den Leuten geht es eben einfach allen materiell besser. Aber das ist es keineswegs, was den Unterschied so fundamental macht. Er liegt tiefer, dort, wohin die gleißende Politur des Geldes nicht mehr reicht. Diese Lemuren: Jazz, Fabriksware, Maschinen, Talmikunst – sie sind Quartiermacher, sie sind nicht Amerika. Es ja uns, die wir Heldenverehrer sind und die Persönlichkeit über alles schätzen, gleichgültig sein, ob Millionen Menschen wissender und lachender werden. Menschen, für die wir uns von vornherein, weil sie in Bildung unter uns stehen, nicht interessieren. Aber es ist für das Wesen der Dinge, für die Formung der Zeiten nichts weniger als gleichgültig. Ich ging einst in der Sonntagsmenge von Coney Island, dem größten Volksvergnügungsplatz der Welt, mit einem sehr gereisten sehr verwöhnten und Amerika – wie alle – sehr skeptisch gegenüberstehenden Wiener, der sagte zu mir: „Diese Mädchen sind alle nett gekleidet, sie sehen alle gut und hübsch aus. Wie machen sie es? Nun, darauf könnte man mancherlei Antwort geben, aber unter anderem auch das: Ein nettes, einfaches Kleid kann man billiger in Newyork kaufen als irgendwo anders, obwohl Newyork zu den teuersten Städten der Welt gehört, vorausgesetzt, daß man die Durchschnittsstatur hat. Dank der Fabrik. Wenn mein Geschmack darüber erhaben ist, so kaufe ich es einfach nicht. Daß die Fabriksware Geschmack verdirbt, ist durchaus unrichtig. Das Gegenteil ist der Fall, denn bei Leuten, die sich mit Fabriksware Genüge sein lassen, ist kein Geschmack zu verderben, höchstens einer zu entwickeln. Und dabei muß man immer von unten anfangen, nicht von oben. Es hat wenig Sinn, wehmütig derTage zu denken, da man in der Beschaulichkeit eines geruhsamen Lebenstaktes kunstvolles Hausgerät und Gewänder ersann und sie bedächtig und fürsorglich für langes Dienen in die Welt setzte. Jedes Jahrhundert hat seinen Inhalt und seine Aufgaben, und wo hinaus und hinauf die phänomenale Basis, auf die unsre gestellt ist, sich auswachsen wird, das können wir heute wohl gar nicht ahnen. Aber man fühlt es hier am Herzen Amerikas mit größter Gewissheit als hinter Europas Zaunburgen, daß auf den Kämmen dieses mit barbarischen Kräften geschwellten Stromes der ‚Monotonisierung der Welt’ neue und große Werte herangetragen werden mögen, daß sie herangetragen werden. 

In: Neue Freie Presse, 25.3.1925, S. 1-4.


  1. Ernest Renan (1823-1892), französischer Schriftsteller, Historiker, Orientalist und Religionswissenschaftler. Leitich bezieht sich auf seine berühmte, 1882 an der Sorbonne gehaltene Rede Was ist eine Nation (Qu’est-ce qu’un nation?) Siehe: http://fr.wikisource.org/wiki/Qu%E2%80%99est-ce_qu%E2%80%99une_nation_%3F (Zugriff vom 6.7.2014)
  2. Pablo Casals (1876 in El Vedrelli, Spanien – 1973 Puerto Rico), bedeutender Cellist, Komponist und Dirigent, der sich auch politisch, kulturell und sozial exponiert und engagiert hat, insbesondere gegen den Nationalsozialismus durch Einladungsablehnungen sowie im Verlauf des Spanischen Bürgerkriegs ab 1936 für die Republik und gegen Franco, was seinen Gang ins Exil zur Folge hatte. Weiters setzte er sich konsequent für die katalanische Sprache und Kultur ein.

    Maria Jeritza (1887, Brünn – 1982 New Yersey), weltbekannte Sopranistin und Theaterdiva, in vielen Opern von Richard Strauss und Max Reinhardt engagiert, 1921-1932 Ensemblemitglied der New Yorker Metropolitan Opera.

  3. Bezieht sich auf die Arie O du mein holder Abendstern in Richard Wagners Oper Tannhäuser (UA 1845, erste Aufführung in New York 1859)

N.N: Amerikanische Automobilgrotesken

            Es ist ganz selbstverständlich, daß in einem Lande wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo nach den letzten Zählungen auf jeden siebenten Einwohner ein Automobil kommt, das Automobil auch in Kunst und Literatur, in der ernsten Betrachtung und in der witzigen Satire, eine bedeutende Rolle spielt. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten in der amerikanischen Automobilindustrie hat sich die Mühe genommen, eine lange Reihe guter und weniger guter Witze, die über den bekanntesten amerikanischen Wagen, den Ford, der bekanntlich in vollkommen gleicher Ausführung täglich zu etwa 3000 Stück die Fabrik verläßt, in Umlauf sind, zu sammeln und in einem eigenem Büchlein zu vereinigen. Das Ueberraschende daran ist nur, daß der Verfasser und Herausgeber dieses Werkes – Mr. Henry Ford selbst ist, der Schöpfer und Fabrikant des seinen Namen führenden Autos. Mit seltener Selbstironie hat Ford alle diese zum Teil beißend boshaften Witze und satirischen Anekdoten über sein Fabrikat in Druck gegeben und dafür gesorgt, daß die Sammlung massenhafte Verbreitung finde. Er hat sich das erlauben können, weil er gewußt hat, daß sein Auto bereits derart verbreitet und gut eingebürgert ist, daß ihn auch Spott und Hohn nicht schaden können. Im Gegenteil, es hat den Anschein, als ob Mr. Ford mit dem Büchlein ein neues Mittel zur weiteren Popularisierung seines Wagens gefunden haben will.

            Ein Selbsterlebnis Fords sei den anderen Anekdoten vorangestellt. Als Ford eines Tages auf einem seiner Wagen eine Fahrt ohne Chauffeur über Land unternahm, sah er einen anderen Ford-Fahrer in Panne stecken. Er bot sich an, die Störung zu beheben, was ihm auch gelang. Nach getaner Arbeit wollte ihm der Besitzer des wieder in Gang gesetzten Autos einen Dollar geben, welche Schenkung Ford lächelnd mit den Worten ablehnte, er sei ein reicher Mann und danke für das Trinkgeld. Empört antwortete der andere: „Schneiden Sie gefälligst nicht auf! Wenn Sie wirklich ein reicher Mann wären, würden Sie nicht mit so einem lumpigen Kasten von Ford fahren.“

            Weitere Anekdoten: Ein Chauffeur, der in einer Garage um Beschäftigung bat, rühmte sich, jede Automobilmarke am Geräusch des Wagens zu erkennen. Man ging auf seinen Vorschlag, eine Probe zu machen, ein, und verband ihm die Augen. Tatsächlich hatte er bereits sieben Wagen richtig agnosziert, als unvermutet ein Hund, dem Gassenjungen einen alten Topf an den Schweif gebunden hatten kläffend und heulend in die Garage stürzte. „Jetzt kommt ein Ford!“ rief sofort der Chauffeur mit den verbundenen Augen.

            Angebliche Notizen in der Fachpresse: „Gerüchtweise verlautet, daß Ford sich mit dem Plane trägt, eine bedeutende Ersparnis an seinem Wagen zu verwirklichen. Er will den Geschwindigkeitsmesser entfernen, da sich die Entbehrlichkeit dieses Apparats erwiesen hat. Der Wagen selbst stellt nämlich den besten Geschwindigkeitsmesser dar, denn bei 15 Kilometer in der Stunde klirren die Lampen und die Scheinwerfer, bei 25 Kilometer klirrt der Windschirm und bei 40 Kilometer klirren die Knochen der Fahrgäste.“ – Eine andere derartige Notiz: „Seit kurzem ist der Ford-Wagen mit einem ganz neuartigen Signalapparat ausgestattet. Der Apparat arbeitet wie ein Grammophon und tritt automatisch in Tätigkeit, sobald der Wagen eine Stundengeschwindigkeit von vierzig Kilometer erreicht. Dann beginnt der Signalapparat den bekannten Choral: „Näher, mein Gott, zu dir“ zu spielen.“

Schlagworte: Automobil, Automobilgroteske, Ford, Grammophon

In: Neue Freie Presse, 1.1.1921, S. 31-32.

Ann Tizia Leitich: Gasolin-Nomaden. Amerikanische Wandervögel im Automobil

            Sie waren mir schon neulich aufgefallen, auf dem herrlichen Chrystal Park Highway, der beständig steigenden Automobilstraße, die sich zwischen den Zinken der Rocky Mountains hindurchwindet. Und ich sah sie den nächsten Tag wieder auf dem Sky Line Drive, der das Raffinierteste ist, das Auto, Mac Adam und die Landschaft mitsammen ausgeheckt haben: eine Betonautostraße, die am Grat eines Bergzuges hinbalanciert und das Land links und rechts unter sich läßt wie ein Luftschiff. Immer fand ich sie hinflitzend neben den touristenbeladenen und doch behenden Autobussen.

            Fast sahen sie aus wie wandernde Zirkusleute: Wettergepeitscht die Wagen, staubbedeckt; rückwärts hatten sie, wenn es ging, einen Koffer aufgeschnallt und seitwärts auf dem Trittbrette waren große Segeltuchpakete verstaut. Manchmal sah dies sportmäßig genug aus; oft aber war die Packung nachlässig, Decken guckten heraus, Kochtöpfe, Tischbeine. Im Innern des Wagens – denn immer ist es ein geschlossener Car, weil es unter tausenden in Amerika kaum einen offenen Touringcar gibt – ein Gewirr von Köpfen: die ganze Familie ist auf der Reise. Wände und Fenster sind beklebt mit buntem Zettelwerk: „Willkommen in Zion National Park!“ „Laßt es euch wohlergehen in Mammoth Camp -“und noch andere Aufschriften. Ja, so weit waren sie schon herumgewesen; denn dies sind die „Tin-can“-Touristen (von tin-can = Konserve). Die Sage-Brusher oder, ins Deutsche übersetzt, die Gasolinnomaden, die Wandervögel im Automobil.

            Sie brauchen keine Eisenbahn, keine Hotels, keine Garage; die brauchen nichts als Gasolin; und Straßen. Mit beidem versorgt sie Onkel Sam – so nennt der Volksmund die USA. Denn die Gasolinstationen dringen in die einsamsten Gebirgsgegenden vor, so weit eben die Straße läuft. Und die läuft weit dahin und hoch hinauf. Es ist immer wieder ein Erlebnis für den Europäer, zu sehen, wie viel Hunderte und Tausende von Kilometern herrlicher makadamisierter Straßen es in Amerika gibt, nicht nur in der Umgebung von Industriezentren, sondern bis hinein in die gottvollste Wildnis. Manche folgen, gleich den Eisenbahnen, den alten Indianerwegen, den alten Kampwegen; „trails“ heißen sie im amerikanischen, wie jeder Karl-May-Leser weiß: Der Apache Trail, der Sunset Trail, der Uta Trail. Viele Millionen von Dollars geben die amerikanischen Staaten jährlich für die Straßen aus, denn je mehr ein Staat von sich hält, desto größeren Stolz setzt er in seine Straßen. Und jung wie sie sind, halten sie alle viel von sich.

            Indem sich die Straße dem Automobilisten zur Verfügung stellt, erschließt sie den Augen der Menge die gloriosesten, die mächtigsten Bilder der amerikanischen Landschaft. Es gibt solche, die da sagen werden: Entweihung! Vielleicht würden sie sich aber bedenken, wenn sie wüssten, daß auch sie anders als auf der Automobilstraße diese Schönheiten nie erreichen könnten, weil es zu kostspielig wäre, zu langwierig, zu umständlich, denn weder unsere Geduld, noch unsere Herzen sind die der alten Trapper und Pioniere. Und wer die Natur allein für sich haben will, hat mehr Gelegenheit denn je: ein paar Schritte weg von der Straße und er findet sie unberührt, ursprünglich und einsam.

            Die großartige Einsamkeit der amerikanischen Landschaft hat etwas Düsteres, manchmal sogar Fürchterliches. Drei Tage und drei Nächte westlich von Newyork gibt es nichts als lachende, langweilige weizen- und maisbebaute Ebenen. Aber hinter Denver in Kolorado, bis zum Pazifischen Ozean, entfaltet sich eine Herrlichkeit des Gebirges, eine Mannigfaltigkeit der Formen und Erscheinungen, eine Perlenreihe von großartigen Gegensätzen, wie sie Europa in dieser Vielfalt nicht aufzuweisen hat. Was sollen überhaupt vergleichende Worte: So sehr Vergleiche zwischen der amerikanischen Psyche und der europäischen immer hinken werden, so wenig läßt sich die amerikanische Landschaft mit Ausdrücken werten, die für die europäische gelten. An ihrer fürstlichen Einsamkeit vermögen auch Autos und Menschen nichts zu ändern; unberührt thront sie darüber; sie lädt nicht zum Verweilen.

            Vielleicht kommt daher die Ratlosigkeit – die allerdings ohne jeden philosophischen Beigeschmack ist – die dem Amerikaner im Blut sitzt; vielleicht ist deshalb Ford der reichste Mann der Welt; deshalb das sommerliche Amerika überschwemmt von diesen modernen Nomaden, den Tin-can-Touristen, die sich auf dem Vehikel der vielgeschmähten Mechanisierung eine ungeheure Natur zum zweitenmal erobern und in ihrer Hingegebenheit an die Köstlichkeit der „great open spaces“ sogar auf den vielbewitzelten Grundstein amerikanischer Zivilisation, das Badezimmer, verzichten. Sie interessierten mich, braungebrannt, abenteuerlustig, oft grotesk, wie sie waren. Ich ging hinzu, wenn sie kampierten, photographierte sie, kam ins Gespräch; wurde zu ihren improvisierten Mahlzeiten eingeladen. Denn das ist eine einfache Sache bei ihnen, für sie gehören alle zur Familie, denn alle tummeln sich auf demselben großen, herrlichen Spielplatz.

            Im Paradiestal Auto-Camp standen viele Hunderte – vielleicht waren es auch Tausende – von Cars auf einer Lichtung mitten im Hochwald, im Angesichte des vergletscherten Mount Rainier. Es war gegen Abend und es war kühl nach einem prachtvollen Sonnentag auf über 2000 Meter Höhe. Das Camp machte den Eindruck eines Feldlagers, eines Volksstammes auf der Wanderung. Männer und Frauen in Khaki-Knickerbockers und Blusen; manche der Frauen in einer beispiellosen Dreß-Melange: Knickers und Seidenbluse und darüber einen alten, halblangen Zibetkatzen-Pelzmantel. Das war „Mainstreet“ auf der Tour.

            Zelte wurden aufgeschlagen, Decken, Schlafsäcke aufgerollt, Tische, Stühle, Feldbetten aufgestellt. Manche der Autos blieben frei stehen, über andere wird die Hälfte des Zeltes gezogen, so daß Zelt und Auto ein Appartement für sich bilden. Der Kerosinofen wird instand gesetzt oder ein offenes Feuer entzündet; schon schlängelt sich blauer Rauch in die dünne, scharfe, herrlichstille Luft, zwischen den wettergepeitschten Kiefern empor; das frische Holz knistert und duftet; der Hund, der im Wagen mitkam, umwedelt die Kochkiste; die Kinder necken ein Murmeltier, das, offenbar zahm geworden durch die vielen Besucher des Sommers, ganz nahe ans Feuer herankommt; der Herr des Hauses – Verzeihung, des Automobils – schuppt eine große Seeforelle, die er, in hohen Kautschukstiefeln bis übers Knie im Wasser stehend, heute nachmittag gefangen hat. Fischen ist frei in allen Nationalparks, und dieses ist der Rainier National Park im Staate Washington. Seine Frau steht bei einem Baum mit einem Becken, sie dreht einen Hahn – fürwahr, es kommt Wasser aus dem Baum, denn der Brunnen ist eine der Gaben des Auto-Camps für seine Gäste; die Katze schleicht ihr nach, denn nicht einmal sie hat man zu Hause gelassen.

            Es ist ein junges Paar, das mich auf Forellen mit Rohscheiben und gebackenen Konservenbohnen eingeladen hat. Sie haben weder Kind noch Katze und Hund, aber dafür die smarteste Campausrüstung, alles Kahki, Aluminium und Rohr; wetterfest, leicht, zusammenklappbar; sie haben sogar einen Eiskasten und eine Badewanne. Sie sind keine Snobs, ganz im Gegenteil, es ist ihnen heiliger Ernst mit diesem Leben. Seit vier Monaten haben sie unter keinem Dach geschlafen, und als sie es das letztemal taten, war es in Phönix, Arizona, wo der Mann, der gelernter Mechaniker ist, vierzehn Tage lag arbeitete, um Geld für Gasolin zu haben, zwanzig Cent die Gallone. Denn viel anderes brauchen sie nicht. Ein Jahr lang sind sie schon so auf der Reise, Winters im Süden, Sommers im Norden, Fische und Beeren ihre Hauptnahrung.

            Während sie noch von den Plätzen erzählten, die sie gesehen hatten, und der junge Mann, an einer kurzen Pfeife nagte, in der weder Feuer noch Tabak war, die Flamme anheimelt prasselte und über den zackigen Silhouetten der nachtdunklen Kiefern die Kolossalfigur des Mount Rainier weißverschleiert wie ein Phantom im Mondlicht aufstieg, begann es plötzlich in die Stille hinein zu quiecken, zu quäcken, zu schnarren. Kein Zweifel, das war Jazz. Und schon stand auch die junge Frau in ihren Khaki-Knickers auf und sagte: „Karl, komm, gehen wir tanzen!“

            Tanzen? Sie hatte wahrhaftig recht. Am anderen Ende des Camps stand das „Community House“, eine Halle aus Balken. Hier gab es Schaukelstühle, ein paar Zeitungen, ein Grammophon. Und die Jugend tanzte. Und Damenwahl und Herrenwahl war ganz unkonventionell. Das Community House gehörte allen sowie das Camp, und es war da, damit man einander kennen lerne. Diese jungen, gebräunten, gesunden Leute zu sehen, die sich hier zusammenfanden – es versöhnte einen fast mit dem Kreischen des Jazz im Angesichte der weißen Majestät Mount Rainiers.

In: Neue Freie Presse, 12.1.1928, S. 1-2.

Béla Balázs: Die amerikanische Atmosphäre

Die Atmosphäre ist wohl die Seele jeder Kunst. Sie ist Luft und Duft, die, wie eine Ausdünstung der Formen, alle Gebilde umgibt und ein eigenes Medium einer eigenen Welt schafft. Diese Atmosphäre ist wie der nebelhafte Urstoff, der sich in den einzelnen Gestalten verdichtet. Sie ist die gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde. Sie ist die letzte Realität, die letzte Realität jeder Kunst. Wenn diese Atmosphäre einmal da ist, kann die Unzulänglichkeit der einzelnen Gebilde nicht mehr Wesentliches verderben. Die Frage nach dem »Woher?« dieser speziellen Atmosphäre ist immer die Frage nach der tiefsten Quelle jeder Kunst.

Nun, es gibt zum Beispiel, amerikanische Filme, deren Fabelinhalt nichtssagend und einfältig, in denen das Spiel (das mit seiner Gebärden= und Mienenlyrik vieles ersetzen könnte) auch unbedeutend ist und die unser Interesse dennoch von Anfang bis zu Ende wach halten. Das kommt von ihrer lebendigen Atmosphäre. Sie haben jenes dichte, duftige Fluidum des Lebens, das nur die allergrößten Dichter manchmal mit Worten fühlen lassen können. Und dann sagen wir: »man spürt ordentlich den Geruch der Zimmer, wenn Fluaubert [recte: Flaubert] eine Wohnung beschreibt,« oder »es wässert einem der Mund, wenn Gogols Bauern essen.« Siehe, diese sinnfällige, riechbare und schmeckbare Atmosphäre schafft jeder gute amerikanische Regisseur.

Die ganze Geschichte ist vielleicht einfältig, vielleicht auch kitschig=verlogen. Aber die einzelnen Momente sind so warmen Lebens voll, »daß man ordentlich den Duft spürt.« Warum Held etwas tut, das hat oft keinen Sinn, aber wie er es tut, das hat Naturwärme. Das Schicksal der Helden ist leer, aber seine Minuten sind reich gestaltet.

In Wien spielte man unlängst einen sehr unbedeutenden Film von einer unglücklichen Liebe eines Krüppels. Da führt aber einmal dieser lahme Bräutigam seine Braut auf den Jahrmarkt aus. Eine Flut und Brandung von Bildern der Kraft, die den körperlich unzulänglichen Krüppel verschüttet und erdrückt. Es ist ein dünnes Hageln kleiner Momente des materiellen Lebens, daß den schwachen Mann zuletzt töten muß. Es wird eine Atmosphäre geschaffen, in der er erstickt.

Oder das Mädchen geht nachher zu dem Bräutigam um ihm zu sagen, sie wolle ihn nicht heiraten. Doch die Wohnung ist schon zur Hochzeit geschmückt. Die Kränze und Sträuße, die Geschenke und die hundert kleinen materiellen Zeichen einer Zärtlichkeit werden nun einzeln gezeigt. Es entsteht dadurch ein dicker Dunst von Güte um das Mädchen, in dem sie den Weg verliert. Wie sie die vielen kleinen Tatsachen des Jahrmarktes zu einem Fluidum des Lebens verdichtet haben, das der Schwache und Lahme nicht durchwaten konnte, so fühlt man in diesem Hochzeitszimmer das Gewicht der Dinge und Tatsachen dagegen die Seele nicht aufkommen kann.

Das ist jene starke Atmosphäre, die im Film durch die große Rolle und Bedeutung der sichtbaren Dinge entsteht. Diese Bedeutung haben Dinge in der Poesie, welche mehr auf einen abstrakten Sinn eingestellt ist, nicht. Darum kann auch keine Poesie diese spezifische Atmosphäre, dieses »Wesen« der Materie (ein gutes, altes Verbum) schaffen.

Das hat aber noch einen anderen Grund. In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades, und das auch nur in den seltensten Momenten besonders hellsichtiger Empfindlichkeit der Menschen, die sie betrachten. Auf dem Theater ist ein Valeurunterschied zwischen dem sprechenden Menschen und den stummen Dingen. Sie leben in verschiedenen Dimensionen. Im Film verschwindet dieser Valeurunterschied. Weil sie nicht weniger sprechen als die Menschen, darum sagen sie soviel. Das ist der Rätsel jener besonderen Filmatmosphäre, die jenseits jeder literarischen Möglichkeit liegt.

Es gibt einen Typus amerikanischer Filme, deren einziger Inhalt diese Atmosphäre ist. Keine komponierte Fabel, keine aufgebaute Handlung stört das kontur= und richtungslose Fluten des rein Stofflichen. So sind z. B. die amerikanischen »Mutterfilme«, die in letzter Zeit jede bessere Kunstarbeit in Tränen ersticken.

Wir wollen auf die sozialpsychologischen Gründe dieser neuen Filmmode nicht besonders eingehen. Wie es Zeiten gab, da man Menschen, die sich gegen das irdische Unrecht empörten, auf die himmlische Gerechtigkeit und das himmlische Glück verwies, so lenkt man jetzt die Aufmerksamkeit jener, die mit der Gesellschaftsordnung unzufrieden sind auf das intime Glück der Familie.

 Was das Künstlerische dieser Filme betrifft, so ist es ein ungestaltetes Stimmungsrohmaterial. So ein Mutterfilm, wie dieser, der in Wien eben gespielt wird, ist überhaupt kein Kunstfilm, was uns alle nicht daran hindern wird dicke Tränen zu weinen. Es ist ein Konoreport [recte: Kinoreport] des Familienlebens, ein Lehrfilm, ein Uraniafilm von der Mutterliebe. Er hat keine aufgebaute Fabel, keinen komponierten Text, keine geistvollen spannenden Verwicklungen, keine großen Spielszenen, überhaupt gar nichts, was die Kunst hineingebracht hätte.

Wie ein Uraniafilm uns etwa die verschiedenen Etappen der Zigarettenfabrikation zeigt, so zeigt uns dieser Film die Gemütszustände einer Mutter, die von ihren aufwachsenden Kindern allmählich verlassen wird. Weil man aber selbst eine Mutter hat, oder hatte, so denkt man ihrer mit feuchten Augen.

Es ist eine fertig vorgefundene Naturwirkung, die in diesem Fall benützt wird um die künstlerische Wirkung zu ersetzen. Freilich liegt es in der Eigenart und im Wesen des Films, daß er die Natur als Materie gebraucht. Aber sie hat dieses Material zu verarbeiten, einzubauen in das geistige Gebäude des Kunstwerkes. Natur allein tut es nicht. Edelsteine sind wertvoll, und schön. Zum Kunstwerk werden sie doch nur in der Hand des Goldschmieds.

Mary Carr ist eine große Schauspielerin. Ihr Talent entfaltet sich aber in diesem Film sozusagen gegenstandslos. (Ach wie oft, wie oft geschieht das auf Filmen, wo bedeutende Schauspieler unbedeutende Rollen spielen müssen.) Wie wenn ein Sänger darauf los singt, ohne eine Melodie zu haben. Wir ergötzen uns an dem Material einer herrlichen Stimme, wir sind entzückt von der Naturerscheinung, ihres Talents und sehnen uns danach an den festen Formen eines Kunstwerkes sich emporranken zu sehen.

In: Beiblatt der „Muskete“, Film=Beilage, Jänner 1924, S 1f.

Felix Salten: „Ein großer amerikanischer Erzähler.” Theodor Dreiser.

Leute, die ihn persönlich kennen, schildern Theodor Dreiser als einen gar nicht frohen, ja als einen grämlichen, unwirschen Mann. Und nach dem Erscheinen seiner Bücher, die der Paul-Zsolnay-Verlag in die deutsche Sprachgemeinschaft eingeführt hat, wurden einige beachtenswerte Stimmen laut, die erklärten, Dreiser sei eigentlich kein Dichter. Er selbst schrieb einmal den Satz: „Es gibt zu viel Religion in der Welt.“ Dieser Ausspruch, derart zitiert, ganz für sich allein, ohne Zusammenhang mit allem, was vorhergeht und was folgt, klingt merkwürdig nüchtern. Ein Mann wird da sichtbar, auf den die Schilderung flüchtiger Besucher zu passen scheint, eine unfrohe, verdüsterte, pessimistische Personnage, die dem hell-heitern, optimistischen Wesen der Amerikaner schroff entgegensetzt ist. Hernach liest man die Stelle: „Siehst du den nahenden Morgen? Dann freue dich. Und wenn du an seinem Licht erblindest -, freue dich auch. Du hast gelebt.“ Jetzt steht ein anderer vor uns. Einer, der weder unwirsch noch trübselig ist, sondern nach schwerem Ringen mit der ganzen tragischen und humorigen Buntheit des Daseins aufrechtgeblieben an diese Welt glaubt. Die Vermutung ergibt sich, es könne um die Schilderung von Dreisers Persönlichkeit ebenso bestellt sein, wie um Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Jemand hat ihn einmal besucht, ein anderer hat ihn irgendwo getroffen, und nun schildern sie Theodor Dreiser nach dem Eindruck dieser halben Stunde, die gar keinen Zusammenhang mit seinem Leben, mit seinem Arbeiten, mit dem Geheimnis seines Temperaments aber seines Schicksals besitzt. Was liegt daran? Das Charakterbild berühmter Männer wird immer verfälscht. Wissentlich oder unwissentlich. Meist unwissentlich. Aber die Geschichte wimmelt ja von Fälschungen. Falsche Bildnisse, falsch beleuchtete Tatsachen, daraus setzt sich die Historie der Menschheit zusammen. Was ist Wahrheit? hat schon Pilatus gefragt. Wer richtig zu lesen versteht, wem Intuition gegeben ist, wird der Wahrheit nahe kommen. Seiner eigenen Wahrheit, die aus seinem persönlichen Empfinden, aus dem Grad seines persönlichen Ahnungsvermögens entspringt. Und es kann, vielleicht, manchmal, die wirkliche Wahrheit sein.

            Sollen wir ernsthaft darüber streiten, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist? In deutschen Bezirken herrschen sonderbare Ansichten über das Wesen des Dichters. Einer schreibt Versdramen oder Lyrik, die in Prosa aufgelöst, das prosaisch Landläufige, das Belanglose seiner Arbeit offenbaren, doch er gilt, wenigstens eine Zeitlang, als Dichter. Der andere schreibt Luftspiele oder Späße, und kein Mensch nennt ihn einen Dichter, weil er Heiterkeit erregt, weil einer, der sein Publikum zum Lachen bringt, in Deutschland sehr selten und sehr ausnahmsweise ernst genommen wird, weil man, während man lacht, gar nicht merkt, gar nicht darauf achtet, aus welchen tragischen Untergründen der Humor sich entwickelt. Also hat man auch nur wenig Organ, hat nur wenig traditionelles Verstehen für die edle Seelenhaftigkeit einer Leistung, die tragische Konflikte vom Rand des Todes, von der Finsternis des Abgrundes in die Sonne des Lebens rückt. Es bleibe also unerörtert und ungesagt, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist, wie es ja gleichgültig bleibt, ob man ihn einen Dichter nennen will oder nicht. Keineswegs mir allein, vielen tausenden deutschen Lesern gilt er, seit seine Bücher vorliegen, als eine außerordentlich wertvolle Bereicherung unserer geistigen Güter, als eine große Erscheinung, die man zu den großen Erscheinungen der letzten Jahre stellen muß, zu denen, die aus dem englischen Sprachbereich zu uns kamen, zu John Galsworthy und Joseph Conrad. Dieses Dreigestirn, Conrad, Galsworthy und Dreiser, ergänzt durch den genialen Jack London, durch den sanften Stevenson, den radikalen Upton Sinclair und den prächtig unterhaltsamen Sinclair Lewis bilden ein längst schon notwendiges Gegengewicht zur zermalmenden, auflösenden Dichtung der Russen. Je tiefer diese englischen und amerikanischen Erzähler in das Bewußtsein deutscher Leser eindringen, je stärkeren Eindruck sie üben, eine um so gesündere Reaktion bewirken sie nach der Jahrzehnte dauernden Vergiftung der deutschen, der europäischen Seele durch Tolstoi und Dostojewski. Freilich, Tolstoi und Dostojewski, so wenig angebracht es immer auch sein mag, die beiden durch das „und“ miteinander zu verbinden, diese Zwei sind Dichter von homerischem Rang. Aber welch‘ tiefe Gegensätze die zwei auch trennen, weder die psychopathische Ethik des einen, noch der mattoide Religionsdilettantismus des andern lassen sich ins Europäische übersetzen. Vorboten sind sie, alle beide, einer gewaltigen, einer spezifisch russischen Umwälzung, die nach Europa übertragen, den Kontinent in einen blutgetränkten Schutthaufen verwandeln würde, wie sie selbst, diese Vorboten, die europäische Seele in ein hysterisches Chaos zu wandeln begannen. Nun kommen die großen Erzähler vom Westen her, von England, von Amerika und es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sie gerade jetzt kommen, einer nach dem andern, während Rußlands selbstbefreiendem Niederbruch, während Rußland in Blut und Not danach ringt, wieder aufzustehen, immer noch der Welt und immer noch sich selbst ein schicksalsschweres Rätsel. Diese Erzähler aus dem Westen sind unserem Wesen „verwandt, sie leben in unserer Welt, sie haben unsere Begriffe; man braucht ihre Schriften nur aus dem Englischen ins Deutsche zu heben und sie sind restlos, sie sind wirklich übersetzt. Eine frische, freie Luft weht uns erfrischend und befreiend, aus ihren Büchern entgegen. Die Welt wird weit vor unseren Augen, die Ozeane schimmern, erotische Landschaft breitet sich und die Probleme der Menschheit haben nichts von ihrem Ernst, nichts von ihrer Tragik und Tiefe verloren. Keine Spur sarmatisch-asiatischen Giftes ist in diesen Erzählern, sie sind unsere Brüder, sie sind Helfer und Wegbereiter für unsere deutschen Romandichter.

            Liebt man die Darstellung tragischer Geschicke, und jeder liebt sie, der nicht in einem wesenlosen Optimismus versumpert ist, dann wird einem Theodor Dreisers Roman „Eine Amerikanische Tragödie“ kostbarer Besitz. Ein schmerzhaft wahres Buch, ein Buch, das peinigt und foltert, gegen das man sich zur Wehr setzt, das einen doch nicht losläßt und von dem man schließlich überwältigt wird. Zweimal habe ich die Lektüre dieses Buches unterbrochen, tagelang, habe zweimal, erschüttert und aufgewühlt, nicht gewagt, weiterzulesen, aus Scheu, noch stärker erschüttert zu werden. Aber während dieser Tage ging ich umher, vollständig eingesponnen in das Schicksal des traurigen jungen Menschen der die Hauptgestalt dieser Tragödie ist. Selten, sehr selten hat eine Existenz, die es im Alltag oder in der Dichtung, mich so gefangen gehalten und so erregt, wie dieser unglückselige Clyde. Als die Absicht in ihm erwachte, sich seiner Geliebten zu entledigen, sie um die Ecke zu bringen, weil sie seinem Aufstieg hinderlich wurde, da mußte ich das Buch weglegen. Ich hatte Angst, Clyde könne seinen wirren irren Vorsatz ausführen. Unerträglich war der Gedanke, dieses reizende, opferwillige, schuldlose Mädchen werde von der Hand eben des Mannes sterben, dem sie sich in vertrauender Liebe hingegeben hatte. Und diesen armen, einsamen, weltfremden Burschen in Verzweiflung zu sehen, weil seine Geliebte Mutter werden sollte, weil er dadurch gezwungen wäre, sie zu heiraten, und weil das alle seine Hoffnungen, seine neue Liebe zur Millionärstochter vernichten würde, dieses Umgarntsein einer jungen, leidenschaftlich zur Höhe drängenden Seele, dieses Hineintaumeln Clydes in Wunschträume, dieses Spielen des Haltlosgewordenen mit verbrecherischen Möglichkeiten war niederschmetternd. Wie ich das Buch beiseite legen mußte, um Fassung zu gewinnen, so zwang es mich nach ein paar Tagen, die Lektüre, in diesem Fall richtiger: das Miterleben, das Miterleiden fortzusetzen. Und wieder stockte ich vor der Hinrichtung. Das war keine Justiz, kein Verfahren der irdischen Gerechtigkeit. Ein nüchterner parteipolitischer Kuhhandel vollzog sich. Und ein junges Menschenleben fiel ihm zum Opfer. Es dauerte wieder einige Tage, bis ich weiterlas. Fiel dieses Leben wirklich als Opfer politischer Streber? Wird es keine Gnade geben, im letzten Moment vielleicht? Es gab dann keine. Theodor Dreiser und sein Roman kennen keine Gnade, kennen keinen gemilderten Schluß. Nur Tatsachen kennen sie, aus der Welt des Tatsächlichen gegriffen.

            Alle diese Vorgänge aber, um ein Kleines weniger intensiv geschildert, diese Menschen, um einen einzigen Grad weniger glühend lebendig gestaltet, und man würde das Buch ruhiger, würde es etwa mit der Gespanntheit lesen, wie irgendeinen guten Kriminalroman. Man würde nämlich ebenso wenig im Ernst daran glauben, wie man auch sonst an Kriminalromane nicht ganz glaubt. Doch hier geht’s gar nicht um Glauben oder Unglauben. Von der ersten bis zur letzten Zeile regt sich keine Sekunde in uns der leiseste Zweifel an der grausamen Wirklichkeit dieser Welt, an der entsetzlichen Wahrheit aller Zusammenhänge und Geschehnisse. In der meisterhaften Komposition dieser drei Bände, in ihrer virtuosen Architektur erscheint nichts komponiert, spürt man nirgendwo die Arbeit des Romanarchitekten. Der laufende Sturz aller Ereignisse vollzieht sich vom Anfang bis zum Schluß mit unaufhaltsamer Notwendigkeit. Und man begleitet dieses Hinstürzen voll atemloser Teilnahme. Hier ist der Alltag, den wir alle kennen, durch den wir alle gehen, unberührt, oder die Augen schließend, wenn die Gefahr droht, zu arg erschüttert zu werden. Hier ist dieser Alltag und man wird gezwungen, die Augen zu öffnen. Hier ist das Spiel seiner Zufälle, das Schicksal wird, hier ist seine unbarmherzige Härte, sind lockende Verführung, hier sind seine Höhen und seine Abgründe. Hier sehen wir einmal seine Tragödie, eine seiner Tragödien, so genau, als habe ein kundiger Reporter sie beschrieben, so menschlich durchleuchtet, als sei ein großer Dichter mit seinem Herzen am Werk gewesen.

            Das Amerikanische an dieser Tragödie sind die sozialen Verhältnisse. Die Straßenbettler-Prophetie von Clydes Vater, sein gutgläubig stümperndes Predigertum ist amerikanisch. Und amerikanisch ist der krasse Gegensatz zwischen den Leuten, die zu viel Geld, und denen, die gar kein Geld haben. Amerikanisch scheint die allgemeine Ansicht, daß Armut eine Schande ist. Und das Schachspiel politischer Parteien, das die Verwaltung wie die Justiz mit in seine Kombinationen und Spekulationen wie selbstverständlich einbezieht. Manches von diesen Dingen, mancher von diesen Zuständen braucht freilich nur mit anderen Lokalfarben getüncht zu werden und paßt auch, je nach der Farbe, anderswohin, als nach Amerika. Doch dieses Buch ist amerikanischem Boden entwachsen, ist von einem amerikanischen Geist ersonnen und von der Urfarbe der Vereinigten Staaten nicht zu lösen. Ins allgemein Menschliche, ins allgemein Gültige aber wächst die Tragödie des jungen Menschen, der arm geboren ist, der mittellos, wehrlos, führerlos und hilflos einer Welt voll Glanz, Luxus, Schönheit und Freude gegenübersteht. Die Tragödie eines jungen Menschen, der Leidenschaft und Phantasie genug besitzt, um mit allen seinen Trieben von dieser Welt des Reichtums in Brand gesteckt zu werden, der hinreichend sinnlich, unverbraucht und unerfahren ist, um sich, wie man das bei uns nennt, zu „verplempern“, der dann in Verwirrung gerät und unschuldig schuldig wird. Sehr viele Leute gibt es, besonders Frauen, die aus Sympathie und Mitleid für die reizende, ehrenhafte Roberta den jungen Clyde streng verurteilen und ihn ehrlos nennen. Mag sein, daß sie recht haben, mag auch sein, daß Clyde ehrlos ist, obwohl er im Grunde jenseits der landläufigen Ehrbegriffe steht. Den Satten und Baldgesättigten fällt es sehr leicht, eine Ehre zu haben und sie ohne jede Probe, ohne jede Versuchung zu behalten. Wer aber die Armut kennt, denkt über diese „ehrenhaften“ und „ehrenwerten“ Leute doch anders. Und wer die bitterste, schmerzhafteste Armut erlebt hat, die Armut am Rande des Reichtums, in naher Nachbarschaft des üppigen Schwelgens, muß den unglücklichen Clyde so tief verstehen, muß sich ihm so brüderlich verbunden fühlen, daß er zu gar keinem Urteil über den vom Schicksal Vernichteten gelangt, sondern nur zu fieberndem Erschüttertsein.

            Eine amerikanische Tragödie ist auch der andere Roman von Theodor Dreiser „Jennie Gerhardt“. Aber auch diese Dichtung ragt weit über ihren Schauplatz hinweg ins Ewigmenschliche. Wie es überall und zu allen Zeiten junge Männer gibt und gegeben hat, deren Schicksal dem des Clyde Griffith gleicht, so gab und gibt es überall, zu allen Zeiten Jennie Gerhardts. Jung, schön, bescheiden und arm. Liebevoll und opfermutig. Hingebend und pflichtbewusst. Naiv und selbstlos. Ein Spielzeug männlicher Begierden. Dann in ihrer seelischen Reinheit gefühlt, die Frau, der Männer wirkliche Herzensneigung entgegenbringen. Sie hat Pech, denn sie ist arm. Immer hat sie Pech und immer trägt sie ihr Unglück sanft, still, geduldig. Ein reicher älterer Mann, der sie, ein halbes Kind noch, verführt, will sie heiraten, weil sich die Folgen einstellen und weil er sie liebgewonnen hat. Er stirbt plötzlich. Ein junger Mensch aus reichem Hause nimmt sie, reißt sie einfach an sich, weil ihre Schönheit seine Sinne entfacht; verliebt sich dann in sie, verzeiht ihr die uneheliche Tochter, die sie von dem älteren Herrn hat, denn der wollte sie ja heiraten. Dieser junge Mensch lebt mit Jennie wie Mann und Frau. Jahrelang. Gewöhnt sich an sie, an ihre magdliche Zärtlichkeit, an ihre Treue, an den Zauber ihrer „schüchternen Seele“ … und vermählt sich zuletzt mit einer anderen, mit einer Dame aus seinen Kreisen. Jennie bleibt allein mit ihrer Tochter, die sie durch einen raschen Tod verliert. Den Geliebten sieht sie nur einmal noch, als sie den Sterbenden bis an sein Ende pflegt. Eine ergreifende Gestalt, so lebendig, so wahr und so bestrickend wie nur irgendeine der wunderbaren Frauengestalten in irgendeinem der unvergänglichen Dichterwerke. Es sind noch einige prachtvolle Gestalten in diesem Buch. Jennies Vater, der einfache, glaubensstarke, sittenstrenge Deutsche. Jennies Mutter, der alten Millerin und vielleicht auch der Marthe Schwerdtlein ein bißchen verwandt; vor allem: Lester, der Geliebte, und das Schicksal ihres Lebens.

            Ein Verwandter an Format und Art dieses Lester ist der Held in Dreisers frühem Romanwerk „Der Titan“. Frank Algernon Cowperwood hat die frische, draufgängerische Manier, Frauen zu nehmen. Aber er nimmt viele. Er nimmt sie wie ein Raubtier seine Beute, wie ein kleiner Junge das ersehnte Spielzeug. Er ist gierig und naiv. Er ist raffiniert und unschuldig. Er hat einen unbeugsamen Willen, eine Riesenkraft des Herzens wie des Verstandes und er wirkt wie ein Element. Von Jugend an ist er entschlossen, eine Großmacht in der Finanzwelt zu werden. Man wirft ihn nieder, man sperrt ihn ein, aber man kann ihn nicht besiegen. In Philadelphia wird es sein Ruin, daß er die Tochter eines einflußreichen Mannes verführt hat. Er heiratet sie nach seiner Scheidung. In Chicago wird er beinahe vernichtet, weil er ein Verhältnis mit der Gattin eines Finanzmagnaten begann. Er überwindet alles; er ringt auch die Eifersucht seiner zweiten Gemahlin nieder, die er oft und oft betrügt; er macht Schluß mit ihr, als er, schon über Fünfzig in leidenschaftlicher Liebe zu einer Achtzehnjährigen entbrennt. Liebe und Geschäft, Geschäft und Liebe, Erfolg und Niederlage und trotzdem wieder Erfolg füllen diese drei Bände, die eben erschienen. In langen, gründlichen Auseinandersetzungen werden gewaltige Spekulationen, Börsenmanöver, Gründungen und Geldkrisen beschrieben. Wer etwas von diesen Dingen versteht, wird gespannt und gefesselt sein. Aber auch diejenigen, denen das Geschäftswesen fremd bleibt, folgen interessiert. Denn in diesen Kapiteln wird der Aufstieg der U.S.A. von den Sklavereikriegen bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Objektiver und nicht so parteiisch gefärbt wie in Myers „Entstehung der großen amerikanischen Vermögen.“

            Ein bedeutsamer Mann, der mächtige Unternehmungen beherrschte, sagte mir einmal vor langer Zeit: „Was soll unsereinen an der modernen Literatur reizen? Es steht nirgendwo etwas von den Dingen, die wichtig sind, mit denen sich die Welt beschäftigt, nichts von den Kämpfen, Arbeiten, Entdeckungen und Wagnissen, durch die wir alle eigentlich vorwärts kommen.“ An diesen Mann muß ich jetzt denken. Wenn er noch lebte, er hätte sich am „Titan“ gefreut.

            Aber unzählig Lebende werden an sich an Theodor Dreiser freuen und Unzählige, die nach uns leben, werden an diesem großen Dichter Erschütterung und Erhebung finden. Mögen heute auch einige der Meinung sein, Dreiser sei nicht modern, sei eine trockene Wiederholung Zolas, er ist weder trocken, noch eine Wiederholung, so wenig wie er wahrscheinlich in Wirklichkeit als Mensch mürrisch ist. Und er bleibt so zeitlos modern, wie alles, was einfach und tief, wahrhaft und menschlich ist, immer modern sein wird. Er ist so wahr wie das Leben selbst, so unbarmherzig wie das Schicksal, von so echter Tragik wie der Tragiker der Antike, so reich an Gestalten wie nur ein wirklicher Schöpfer; er liebt die Menschheit, glaubt an die Zukunft, wie nur ein großer Dichter zu glauben und zu lieben vermag. Und sein Feld ist die junge amerikanische Erde, die so reich ist an Erlebnissen und Dramen des Alltags, daß sie ganz natürlich ihre eigenen, großen Dichter hervorbringen muß. Heute gehört Theodor Dreiser zu den stärksten dichterischen Erscheinungen der Welt und „drüben“ scheint er vorläufig der weitaus stärkste zu sein.

In: Neue Freie Presse, 7.10.1928, S. 1-4.

Arthur Rundt (Newyork): „Hitch Hiking“

Hitch hiking ist: reisen in einem fremden Auto, aber mit Wissen seines Eigentümers. Oder genauer gesagt: reisen in vielen fremden Autos mit Wissen aller ihrer Eigentümer.

            Im alten Rom gab es das stumme Zeichen des aufwärts- und des abwärtszeigenden Daumens: „Pollice verso“ oder „Pollice presso“ gaben in der Arena die Zuschauer wortlos ihren Wunsch kund, daß der kämpfende und besiegte Sklave mit dem Leben davonkommen oder getötet werden sollte. In den Vereinigten Staaten stehen jetzt oft am Rande der Landstraße junge Burschen oder Mädels, halten den Daumen nicht nach oben und nicht nach unten, sondern seitlich weisend: nach links oder nach rechts.

            Das ist der Anfang vom Hitch hiking: am Straßenrand stehen und den vorüberfahrenden Autos mit dem Daumen die Richtung anzeigen, nach der man gern mitgenommen werden möchte. Und die Autos halten wirklich. Namentlich wenn das, was zu dem Daumen gehört, halbwegs vertrauenerweckend aussieht, und nehmen die Mädels und Burschen mit, so weit der Weg gemeinsam geht.

            Hitch hiking ist kein gelegentlicher Spaß, der sich etwa hier einer, dort eine macht. Nein: Zehntausende tun es, vielleicht Hunderttausende. Es ist eine bisher und anderwärts unbekannte Form des Reisens, jetzt zwischen dem Atlantischen und Stillen Ozean allgemein verbreitet und praktiziert.

            Sie wird über kurze Strecken geübt, von einer Stadt zur anderen, eine, zwei Stunden lang. Das ist eine Kleinigkeit. Aber sie tun’s auch, etwa als Ferienreise, durch den halben Kontinent, ein paar Wochen lang, immer ein Auto gegen das andere wechselnd, mit einem bestimmten Ziel vor sich. Wenn die Sommerferien beginnen, hört man sehr oft: Unser Junge ist fort, mit zwei Freunden dort und dort hin, hitchhikenderweise.

            Ich habe es anfangs nicht glauben wollen, daß es wirklich allgemeine Uebung ist. Da hat man mir einen Jungen gebracht, der eben das college absolviert hat, also einen Jungen von 22 Jahren. Man brachte gerade ihn, weil er unter den Kameraden Hitch-hiking-Matador ist. Es war in einer kleinen College-Stadt; der Junge hieß – nicht anders! – er hieß Leander.

            Ja, rapportierte er, es sei eine großartige Sache. Vor zwei Jahren sei er einmal vier Wochen weg gewesen, über Buffalo und die Niagarafälle bis nach Newyork. Und voriges Jahr war er im Mittelwesten, in Colorado, bei einem Onkel in Denver.

            Das eine sind zwanzig Expreßzugstunden, das andere mehr als doppelt so viel.

            Seine Mutter sitzt dabei, eine ruhige, stille Dame; der Vater leitet eine Elternberatungsstelle, steht also pädagogischen Dingen nicht sehr fern. Trotzdem finden die Eltern nichts dabei. Hitch hiking ist eine Zeiterscheinung.

            Viele Studenten, erzählt mir die Mutter, hitchhiken am Schluß des Semesters nach Hause und kommen am Ende der Ferien ebenso wieder zurück. Es dauert etwas länger, das ist wahr, aber es sei doch billiger als die Eisenbahn. Und überflüssiges Geld hat keiner von den Jungen.

            Ihr seid, wage ich gegen Leander auszusprechen, eine neue Form des alten Tramps, der doch auch oft die Gewohnheit hatte, sich mitnehmen zu lassen, sich zum Beispiel gern ins Gestänge eines Eisenbahnwagens hängte, wie in vielen Geschichten zu lesen ist.

            „Hitch hiking“, gibt Leander naserümpfend zurück, „is more respectable“. Es sei halt doch eine feinere Sache.

            Seitdem ich Leanders Bericht gehört habe, frage ich alle Jungen, die mir unterkommen, ob sie hitchhiken, und lasse mir ihre Geschichten erzählen. Jetzt weiß ich schon allerlei über den Ausbau der neuen Reiseform.

            Natürlich reisen die Jungen ohne Geld. Kritisch wird also jeden Abend die Frage des Nachtlagers in einer fremden Stadt. Konflikte mit der Polizei sind zwar gefürchtet, aber noch mehr fürchtet die Polizei, einen solchen Jungen fassen zu müssen. Es ist keine rechte Amtshandlung, macht nur Scherereien. Also hat sich der Usus herausgebildet, wenn es dunkel wird, im Gefängnis der Stadt anzuklopfen und um „Unterkunft“ zu bitten. Ohne Formalitäten, die Abreise finde am nächsten Morgen ganz zeitig statt. Und ein solcher Antrag wird selten abgelehnt.

            Auf meine neugierige Frage, wie oft – so ungefähr und durchschnittlich – im Laufe eines Tages das Auto gewechselt werde, habe ich nie befriedigende Auskunft bekommen. Das sei so verschieden. Und hänge natürlich vom Glück ab. Einmal erzählte mir ein Junge, er habe einen Wagen im Stich gelassen, mit dem er noch viele Meilen hätte reisen können. Warum? „Weil der Kerl mir zu langsam gefahren ist!“

            „Hiking“ heißt einen Ausflug machen, und „hitch hiking“ dem Ausflug die Form geben, daß man sich irgendwo anhängt. Also sind Subjekt des Ausflugsmachens und des Anhängens der Junge oder das Mädel am Straßenrand: von ihnen geht normalerweise die Anregung aus.

            Aber es gibt auch eine Abwandlung des Spieles. So nämlich, daß der Mann im Auto den Ausflug macht und den Wunsch hat, daß jemand sich an ihn anhänge. Dann ist das Objekt natürlich immer ein Mädel. Dann braucht es, das Mädel, keinen Daumen auszustrecken, nicht nach rechts und nicht nach links. So, in dieser Abwandlung, wird hitch hiking weniger draußen auf der Landstraße gespielt als in der Stadt und im nächsten Umkreis der Stadt. Und ist – das darf man wohl sagen – an manchen Orten recht beliebt.

            In einem Camp, in dem hundert Mädels, nur Mädels, ihre Ferien verbrachten, las ich eine Ordnungsvorschrift der Leiterin: hitch hiking sei erlabut, aber nur „from two girls up“ – wenn mindestens zwei Mädels zugleich ins fremde Auto steigen. Woraus geschlossen werden mag, das für einzelne junge Mädchen das Spiel – in beiden Formen! – nicht immer ungefährlich ist.

            Es stelle sich einmal in Deutschland ein Junge etwa an den Toren von Leipzig am Chausseerand und versuche, nach dem Beispiel amerikanischer Kameraden, nur nach Berlin zu gelangen. Es wird nicht gehen. Er wird scheitern. Woran? Am Mangel jener allgemeinen amerikanischen Gutartigkeit, die die psychologische Grundlage für die Verbreitung des hitch hiking ist.

In: Neue Freie Presse, 15.9.1928, S. 9.