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M. Feichtlbauer (Salzburg): Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur

Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.

Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur.1 Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.

Von Studienrat Prof. M. Feichtlbauer (Salzburg).

    Schon im fünften Kapitel seines Buches „Der Kampf mit dem Drachen“ stellt Forst de Battaglia den kläglichen Zustand der heutigen Dramenliteratur fest. Im siebten Kapitel seines Buches, betitelt „Die Schaubühne als antimoralische Anstalt“, widmet er dem heutigen deutschen Theaterstück eine besondere Betrachtung. Das Ergebnis ist betrüblich, aber es müssen zuvor Götzen zertrümmert werden, wenn Echtes zur Anerkennung gelangen soll. Wer sich beruflich mit Literatur beschäftigen muß und dabei das Werden unserer dramatischen Dichtung verfolgt hat, dem ist dieses Kapitel so ganz aus der Seele geschrieben.

    Schon die Einleitung Battaglias ist interessant: „Die dramatische Muse von heute hat drei Väter: Wedekind, Sternheim und Georg Kaiser. Zwei Dichter, zwei Denker, zwei Clowns. Wedekind: Dichter und Clown, Sternheim: Clown und Denker, Kaiser: Denker und Dichter. Doch wie beim satyrischen Roman führt auch hier beim satirisch-satyrischen Zeitstück, das jener epischen die dramatische Hin- und Herrichtung der Tradition folgen läßt, die Ahnenreihe weiter, weit zurück. Jedenfalls bis zu ihm, dem die Schaubühne eine moralische Anstalt war, weshalb er die herrschende Moral seiner Zeit befehdete: zum Friedrich Schiller ‚Der Räuber‘ und von ‚Kabale und Liebe‘… . Die Motive Schillers und des ‚Sturm und Drang‘ der Lenz und Klinger sind auch die der modernsten Dramatik. Grabbe und Büchner folgen: genialisch-antibürgerlich, antimoralisch, lüstern-lustig, bitter-erbitternd, unflätig, höhnisch, witzig, literatenhaft-weltmännisch, aristokratisch-demokratisch, herzhaft-zerebral, den Westen um seinen Schwung beneidend und den Osten um die Freuden des Diwan.“

    B. spricht von der „Tendenz“, die den Zeitstücken, wie sie gespielt werden, zugrunde liegt und die keine andere ist, als: Sturm gegen jedwede Autorität: Staat, Monarchie, Familie, ständisch aufgebaute, nach Klassen gegliederte Gesellschaft. „Die Heutigen (im Gegensatz zum jungen Schiller) möchten die Autoritäten zerstören, entweder aus anarchischer Freude am Chaos oder um einem völlig Neuen, noch Ungekannten die Straße zu bahnen. Weit klarer (und sehr wirkungsvoll) tritt auf der Bühne diese Absicht hervor als im Roman, wo sich die Tendenz leichter hinter der Erzählung verbergen kann.“ So kehren denn in der Tages- und Zeitdramatik immer die gleichen Motive wieder: Väter und Söhne, eheliche Verhältnisse, besonders Eheirrungen, Staat, Gesellschaft. Und „der Weisheit letzter Schluß: alles muß verungenieret werden“.

    B. weist bei den einzelnen Motiven mit beißendem Sarkasmus darauf hin, wie diese an sich so wichtigen Verhältnisse von unseren Dramatikern ins Gemeine verzerrt und mit souveräner Willkür behandelt werden: „Adel, Großbürger sind Schwachköpfe und Ausbeuter, die Kleinbürger sind Speichellecker und filzige Witzblattläuse, die Proletarier sind leider, leider durch lange Knechtschaft entartete gefallene Engel; erst an der Schwelle von Bordell und Zuchthaus beginnt die Großheit des neuen Menschen.“

    Nun marschieren diese Zeitdramatiker nach der Reihe auf. Allen voran S t e r n h e i m: „Sternheim vermengt Drama und satirische Publizistik. Er stellt nicht nur komische, karikierte Gestalten auf die Bühne, … er beansprucht nicht nur, die deutsche Wirklichkeit seiner und der unmittelbar vorausgegangenen Epoche abzubilden, er fordert auch, daß wir die Karikatur als Wirklichkeit hinnehmen und hernach auf Grund der aus dieser karikierten Wirklichkeit gewonnenen Erfahrungen seine, Sternheims, im Dialog zerstreuten, doch darum nicht minder deutlichen Schlußfolgerungen: die Tendenz seines Schaffens mit Beifall bedenken. Ein Publizist, ein Zerrbildzeichner des ‚Simplizissimus‘ kann sich das erlauben. Seine Karikaturen sind stumm, und sie lassen jedem die Freiheit, sich zu ihnen den Text zu machen. … Die Figuren auf der Bühne gehören entweder ins Reich der Phantasie: die satirische mitinbegriffen, oder in das der Wirklichkeit. Doppeltes Bürgerrecht ist ihnen nicht zugebilligt.“ Durch einen Hinweis auf französische Dramatiker zeigt B., wie echte Dichter zu Werke gehen, und erklärt: „Sternheims Reihe der bürgerlichen Heldenleben ist ein zusammengekleisterter Film von Simplizissimusbildern. Jedes einzelne ergötzlich, wenn man es zweidimensional auf dem Papier betrachtet. Alle zusammen aufreizend, wenn sie dreidimensional über das Theater spazieren und uns typische Wirklichkeit, so etwas wie einen Kern der deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, vorgaukeln. Alle zusammen lächerlich nur und nicht belustigend, wenn sie als Plaidoyer [sic] im Prozeß gegen die herrschende Gesellschaftsordnung gelten wollen.“

    B. zergliedert Sternheims Stücke, zeigt, wie unglaubhaft die Handlung, die Charaktere sind, und von welch „wahrhaft grandseigneurialer Wurstigkeit Sternheims Geschichtsumrahmung“ ist. Ein anderer Zeit- und Modedichter ist  G e o r g  K a i s e r. Zwar billigt ihm B., soweit es sich um die  m i t t l e r e  Periode von Kaisers Schaffen handelt, ungleich mehr Künstlertum zu als Sternheim, aber nach fünf Jahren „erlosch in ihm der poetische Funke, und seelenlos, von einem gut eingearbeiteten Mechanismus getrieben, produzierte seither eine Automate, die den Namen und die äußeren Züge des Denkspielers Georg Kaiser trägt“.

    Nach einer Analyse des Stückes: „Oktobertag“ fragt B.: „Ward jemals der Stumpfsinn zu spitzfindigerem Zweck mißbraucht? … Von französischen Verhältnissen hat Kaiser so viel Ahnung wie ein Fulbe von der altmexikanischen Kunstgeschichte.“ Wir erfahren, wie einerseits Sudermann, anderseits Courths-Mahler bei Kaisers Stücken: „Oktobertag“, „Zwei Krawatten“ Pate gestanden sind, und wie auf ein drittes Stück wirklich kein anderer Name gehört als: „Kolportage“. „Vor 50 Jahren war das, je 10 Pfennig das Heft, auf der Hintertreppe an romantische Köchinnen zu verkaufen gewesen. Heute geraten wir in Verlegenheit, wo wir mit der Kritik anfangen sollen. Bei der Handlung? Sie ist die Ausgeburt einer jeder Kraft verlustig gegangenen Einbildungskraft. Bei den Charakteren? In jedem Wachsfigurenkabinett finden wir echteres Leben. Beim Aufbau? Diese Exposition übertrifft, schier unerhört, aber wahr, die des ‚Oktobertags‘ an Schleuderhaftigkeit. Bei der Sprache? Sie schwankt zwischen übersteigerter Manier des Kaisers, da er noch super grammaticos thronte, und einer zweiten kleinbürgerlichen Manier, der sich kein Blatt der Hausfrau mehr in seinen Romanen aus dem Leben der Hochgebornen befleißigt.“

    Dann geht B. zu einem dritten Stückschreiber, zu  E r n s t  T o l l e r  über, dem „Freund der Tiere, Schätzer der Menschen und Feind der Götter“. Einleitend charakterisiert er dessen Schaffen: „Eine mit Ausdauer des perpetuum mobile sich drehende Grammophonplatte humanitärer Sätze und Leitsätze. Ein Katapult, von dem ein ununterbrochener Regen von Phrasen gegen die Vorwände der bürgerlichen Staatsmoral donnert. Ein Tyrtäus revolutionärer Lieder, deren Sturmesbrausen schüchterne, echte Töne des Dichters überdröhnt. Ein gewissenhafter Hausvater in der Schaubühne als antimoralischer, d. h. unserer überlieferten Gesellschaftsordnung und Moral feindlicher Anstalt. Toller fängt meist mit einer zerstörten Idylle an, wagt Proben ernsthafter Charakterzeichnung. Bald jedoch geht er zum Pathos der Wahlreden über. … Das abwechselnde Duett des politischen Leitartikels und der populären Aufklärungsschriften läßt dann bis zum Schlusse keine künstlerische Gestaltung des Stoffes aufkommen.“ Aus den Stücken beleuchtet B. den „Deutschen Hinkemann“, „welches Drama noch am ehesten von der Liebe zu den Unterdrückten und vom Haß gegen die angeblichen Unterdrücker hervorgebracht“ ist, muß aber auch von diesem bekennen: „So wie Hinkemann empfinden keine deutschen Arbeiter. … So wie in diesem Melodrama reden keine deutschen Proletarier. Von der ersten Szene an: Theaterfiguren, nicht etwa Gestalten, gewordenes Empfindungsleben und Denkspiel eines Literaten.“

    Es folgen nun mehr oder weniger ausführlich jene Dramatiker, die unsere moderne Bühne „mit Stücken versehen“, wie Rehfisch, Brecht und Mehring, diese „beiden Machtpolitiker im Geisteskampf, überzeugt, das beste Beweismittel sei, den Gegner totzuschlagen“, weiter Lampel, Friedrich Wolf, Bruckner, Hasenclever, Bronnen und schließlich Zuckmayer. B. zeigt bei allen sowohl die Verwerflichkeit der dargestellten Ideen als auch die Mängel in künstlerischer Hinsicht. Über  Z u c k m a y e r  mögen einige Sätze hier Platz finden. „K. Zuckmayer ist kein Dichter, er könnte ein ausgezeichneter Komödienschreiber sein, der mit reichlich vorhandenen Mitteln den anständigen Unterhaltungsdrang einer nicht zu anspruchsvollen Zuschauerschaft befriedigte. Im ‚Fröhlichen Weinberg‘ ist ein lustiger zweiter Akt, in dem mit Ausnahme von ein paar unechten sentimentalen und unnötigen ressentimentalen Sätzen alles den Stempel der Echtheit trägt und auf der Bühne wirkliches Leben herrscht. … Der Literat Zuckmayer hegt höhere Ambitionen. Er schickt diesem zweiten einen ersten Akt voraus, der eine schmierige Exposition, und er läßt einen dritten folgen, der in vier simultanen Akten eine üble Schwanklösung bringt. Die Charaktere entstammen entweder dem Simplizissimus oder den ‚Fliegenden Blättern‘. Nicht originell ist die Veräppelung des schwächlichen Übermenschen, aber der symbolische Misthaufen, der ist originell.“ Dann folgen einige Proben, die uns Zuckmayers Ansicht über „Sittlichkeit“ bekunden und seine Auffassung von Freiheit der Liebe, des Gedankens usw. Das Kapitel schließt: „Die Zahl der emsigen Arbeiter in fröhlichen Weinbergen ist Legion. … Das Ganze wäre nicht der Rede und der Schreibe wert, streifte nicht diese frisch-fröhliche Produktion von Stärkemitteln des öfteren das Gewand dramatischer Würde über, hätte sie nicht sogar durch den Kleist-Preis Krönung empfangen. … Wir durchforschten vergeblich die deutsche Schaubühne von heute nach einem Theaterwerk, das in der Geschichte, in dieser auf der Szene zu erneuernden, nie abgeschlossenen, stets lebendigen Handlung, die Väter: die Überlieferung, die Besinnung auf die Wurzeln des nationalen Daseins fände; ein Drama, das diesen seinen würdigsten Stoff mit kongenialen Geiste, Leben wiederschaffend, durchdränge. Wohl reiften und reifen bei Dichtern, die abseits vom Trubel verharren, einige über die Zeit hinausblickende Werke. Doch unter den Kassenstücken, den Klassenstücken, den Massenstücken werden wir nichts davon antreffen. Die Schaubühne ist, traurig genug, zur Anstalt, und dreifach beklagenswert, zur antimoralischen Anstalt geworden.“

In: Schönere Zukunft. Nr. 9, 29.11.1931, S. 201ff.


  1. Siehe auch Nr. 7 und 8 der „Schöneren Zukunft“!