R.A.Bermann: „Ein Geschlecht.“ (1919)

R.A.B[ermann]: „Ein Geschlecht.“

(Fritz v. Unruhs Tragödie im Burgtheater)

Ein Geschlecht von jungen Menschen tritt aus dem Krieg hervor, das mit einer neuen Stimme große Worte der Empörung ruft. An den Gräbern der toten Brüder hat es sie gelernt.

An eines Bruders Kriegsgrab beginnt das Drama. Fritz v. Unruh, der Junker und Offizier, der Rebell und Pazifist geworden ist, widmet das Buch, das seine Tragödie Ein Geschlecht umfängt, dem Andenken eines im Kriege gefallenen Bruders. Das Stück beginnt; man sieht eine Mutter an einem Grab, die Schwester davor, nahe die Brüder, die noch in das

Entsetzliche des Krieges verstrickt sind. An diesem Brudergrabe beginnt nun die Empörung, das Rasen; kein Wunder, wenn alle Maße gesprengt sind. Das Geschlecht, das den Bruder sterben sah, das gegen andere Brüder selbst die Mordwaffe heben mußte, weiß sich von irdischer Rücksicht frei.

Nacht; ein Friedhof in den Bergen, eine Mutter am Grabe. Bewaffnete schleppen zwei von den Brüdern des Toten gefesselt heran. Ein „Soldatenführer“ (man nennt in diesem Stück die Leute und ein wenig auch die Dinge nicht, bei ihrem Namen) spricht das Urteil:

„Der du geschändet, Kerl, sei festgebunden,
daß deine Gier nicht weiter Unheil stifte
und unsern Sieg entehre. Sterbe hier
bei deinem Bruder, der Gehorsam weigert
und sich der Feigheit Ekel aufgeladen“

Die Männer im Stahlhelm binden den einen rechts vom Friedhofstor an einen Stein, den andren links. Da stehen sie (und bemühen sich, auszusehen wie Akte von Rodin, mindestens wie Holzschnitte vom Titelblatt der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion).

Ein anderer Bruder des Toten und der beiden Verurteilten, er, noch im Banne des

Soldatentums, einer von denen, die

„- – kniegebeugt
zum Machtgeist unsres mächt’gen Volkes
beten,“

soll den Feigen, soll den Frauenschänder erschlagen (mit einer Axt). Er hebt sie, und

der expressionistische Holzschnitt ist fertig, voll von handgreiflicher Symbolik, von naivem Raffinement. Aber der jüngste Sohn wird ohnmächtig, ehe er zuschlagen kann; man trägt ihn fort, während der Befehl ertönt:

„Er werde in der Schlacht
zum würd‘gen Glied des großen Volks.
gehämmert!“

Die beiden sollen am Morgen sterben. Bis dahin bleiben sie mit Mutter und Schwester allein. Der eine, den der Schrecken der Zeit zum armen Feigling machte, bleibt die ganze Zeit angebunden (unterdessen bestrebt, nach Kokoschka auszusehen); nur manchmal gellt sein tierischer Angstschrei über die Bühne, er spricht nicht. Den anderen, den empörten Satyr, löst das junge Weib von seinen Fesseln, die seine Schwester ist, von seinem Geschlecht, mitschuldig seiner himmelschreienden Rebellion. Die Mutter tritt dazwischen; und nun be­ginnt zwischen ihr und den Kindern der rasende Kampf, so wie heute überall auf

deutscher Erde die Kinder mit den Eltern ringen, mit allem Elterlichen, Sitte, Vaterland. Dieses Toben des halbnackten Knaben gegen die majestätische Mutter vollendet nun die Tragödie. Die geheimsten Stimmen des Blutes schreien, kreischen. Der Dialog kennt solche Stellen:

Tochter (zur Mutter):

Wie ein Stück Fleisch am Markttag liegst
du feil,
das ich beäugen muß in allen Fasern!“

Man sagt: beäugen. Seltsame Worte, verdreht, verrenkt, füllen das Ohr. Dann aber kommt manchmal ein ganz reiner und ganz tiefer Laut; einmal lächelt die Mutter aus ihrem Entsetzen die ungebärdigen Kinder an:

„Ich lass‘ euch plappern, wie vorm Nachgebet,
da euch mein „Amen“ schließlich doch umschlang.“ //

Ein Delirium von Worten und Argumenten zerwühlt die Szene. Da die Mutter sich von den lebenden Söhnen zu dem heldischen Toten flüchten will, tobt der Schänder gegen das Grab, reißt das Kreuz aus, reicht es triumphierend der Mutter hin, damit sie rieche, wie es stinkt! Diese Menschen heulen, kriechen auf dem Boden; furchtbar krampft sich in diesem jungen Geschlecht die tieft Empörung gegen die Mutter, gegen eine Welt, die ihnen dieses

Leben gab. Umsonst spricht die Mutter von Undank, von allem Schönen, das die Erde hat, von der Sonne, von dem ernteheißen gelben Kornfeld. „Viel lieber tot sein!“ schreit die Tochter. Der Jammer des Feiglings peitscht ihre Wut auf. Taumelnd sagt der Älteste:

„So schreit das Schwein, vom Metzger abgestochen!
Wir haben die Schollen nicht besudelt!
Euch klag‘ ich an, die ihr uns morden heißt!
Hem fette Bäuche hinterm grünen Tisch,
Ihr habt es leicht. die Leuchter anzuzünden
Und aus vergilbtem Recht den Tod zu rufen!“

Und dann kommt mit der Morgensonne auch für den verwegenen Rebellen der Tod. Schon dröhnen die Stimmen der Soldaten aus dem Tal. Da stürzt der Knabe sich vom Fels hinab.

Und nun, da eisenbehelmt die Bewaffneten kommen, ist es die Mutter, die die Worte der Empörung weiterspricht. Aus den Händen des Soldatenführers reißt sie „den Stab der Macht“. (Wirklich einen Stab, der schlicht so heißt) Sie wirft das allegorische Requisit, das aus der Zauberposse ´zu stammen scheint, wieder hin, einem neuen Geschlecht entgegen, das herrlicher den Stab gebrauchen soll; die Eisen bohren sich in ihren Mutterleib, zu dem

sie sprach:

„ – o Leib, so wild, verflucht
und alter Greuel tiefster Anlaß erst,
du sollst das Herz im Bau des Weltalls
werden.“

Und da steht der jüngste Sohn auf, er, der bis dahin der eisernen Macht gehorchte. Schon horchen murrende Kameraden auf seine rächenden Worte; sie heben ihn auf, den Führer nicht achtend, tragen ihn zu Tal. Er spricht:

„O Mutterhauch,
von dir geschmolzen rollte die Lawine
auf die Kasernen der Gewalt hinab,
und was sich je zu frech ins Blau gebaut,
fall‘ hin!“

Das hat, im Herbst 1916 schon, der preußische Leutnant Fritz v. Unruh gedichtet, sicherlich als Sprecher seiner Gene­ration, die bald darauf die rote Fahne der Revolution auf dem Königsschloß der Hohenzollern hissen sollte und auch die rote Fahne des Expressionismus auf den Giebeln der deutschen Kunst. Jetzt weht sie — o tempora! — sogar im Burgtheater.

Fritz v. Unruhs Stuck ist gänzlich ein Spiegel der deutschen Revolution, wie sie maßlos und doch wieder im entscheidenden Augenblick impotent, großartig oft und immer chaotisch, gestaltlos, zukunftsschwanger (Abortus nicht ausgeschlossen). Es stinkt nach Leichen und duftet wieder nach Jugend. Manchmal scheint der Lavafluß seltsam zu erkalten, und kühle, vereinfachte Töne wie aus der antiken Tragödie klingen an das ermüdete Ohr, dann wieder wüstes und — banges Gekreisch. Oft versagt die Kraft, die sich titanisch zum Schlage zu recken schien, oft jongliert sie mit Felsblocken, die offenbar aus Pappendeckel sind. Bald preziöse Kompliziertheit der Worte und Gefühle, bald, wie unter einer Schuttschicht, wirkliche Schlichtheit. Selten ergreift das Geschehen auf der Bühne den Zuschauer; dann machtvoll.

*

Und das brave Burgtheater? Es strengt sich an, daß man den Schweiß plätschern hört.

Es hat keinen Regisseur für ein so außerordentliches Stück. Es hat in Alfred Roller einen Ausstatter, dem geschmackvoller Prunk liegt, nichts aber weniger als die strenge, unkörperliche Stilisierung, deren ein solches Drama unbedingt bedarf. Alles ist leiblich, wirklich; in diesem Rahmen können die Schauspieler gar nicht umhin, dem Stück zu widersprechen. Im Drama tragen sie keine Namen, haben sie kaum Gestalten; auf der Bühne sehen sie aus, als hatten sie soeben Kochsalat zum Nachtmahl gegessen. Selbst Frau Bleibtreu, die die Mutter gibt, verliert ihre Körperlichkeit keinen Augenblick. Natürlich hat die herrliche Künstlerin große und reine Augenblicke; aber ganz weiß sie sich dem neueren Stil des Dichters auch nicht zu assimilieren. Sie strebt danach, und jedermann; aber es geht nicht. Am wenigsten kann es — das ist charakteristisch — der Regisseur des Abends Herr Paulsen, der den Soldatenführer, unsicher, teils ins Biedermeierische, teils ins Intrigante entstellt; wenig auch Fräulein Mayer, die Tochter, deren holde Bürgerlichkeit gänzlich unverletzt aus dem expressionistischen Vitriolbad hervorgeht. Die jüngeren Männer, eher von der Zeit ergriffen, passen besser zum Dichter. Schott ist vortrefflich, so lange er die Lebensgier des Schänders gestalten kann; Herr Edlitz, der immer nur gefesselt dazustehen hat und auszusehen hat, tut es zweckentsprechend; der junge Thimig als der jüngste Sohn ist wirklich halbwegs jung im Wesen, versteht also und formt die formlose Zeit. Halbwegs.

*

Im Publikum gab es zwei Parteien: Leute, die das Stück nicht verstanden hatten, und solche, die so taten, als hätten sie es verstanden. Diese applaudierten den Dichter ein Dutzendmal vor den Vorhang; jene suchten ihn immer wieder wegzuzischen; als sie mit dem Zischen nicht durchdrangen, riefen sie stürmisch nach Frau Bleibtreu, damit sie gegen den Dichter demonstrieren.

In: Der neue Tag, 21.9.1919, S. 9-10.