Mendel Singer: Judenfrage und Zionismus

Mendel Singer: Judenfrage und Zionismus. (1927)

Mit Befriedigung wollen wir feststellen, da unsere Genossen in Österreich das Totschweigen einer so großen Bewegung wie den Zionismus aufgegeben haben. €3 gibt heutzutage kaum noch eine größere Partei in der Sozialistischen Arbeiterinternationale, deren Führer sich mit dieser Bewegung nicht befaßt hätten. Österreich bildete eine Ausnahme, wenn man von der Stellungnahme Engelbert Pernerstorfers vor nahezu 30 Jahren absieht. Es ist ein Verdienst Hannaks (siehe: Jacques Hannak, „Die Krise des Zionismus“ im Oktoberheft des Kampf), die Auseinandersetzung mit dieser Bewegung eröffnet zu haben, Die Methode aber, die sich Hannak bei Behandlung dieser Frage zurechtgelegt hat, entspricht keinesfalls der unbedingt notwendigen Unvoreingenommenheit, mit der denkende Sozialisten an solche Probleme herantreten sollten.

             Gerade auf dem Gebiet der nationalen Frage, der Erforschung der erhaltenden und auflösenden Tendenzen innerhalb eines Volkes haben österreichische Sozialdemokraten große Verpflichtungen. vor nahezu zwei Jahrzehnten erschien Otto Bauers Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, das klassische Werk der Ergründung des nationalen Problems vom Gesichtspunkt des Marxismus. In diesem Werke ist der Judenfrage ein Kapitel gewidmet; jeder Sozialist, der an die Erörterung dieser Frage herantritt, sollte daher eigentlich die Darlegungen Bauers zum Ausgangspunkt nehmen. Es wäre ja sehr interessant, zu untersuchen, inwiefern sich die Prognose Otto Bauers in der Judenfrage als richtig oder unrichtig erwiesen hat. Hannak aber unterzog sich dieser Aufgabe nicht. Er faßt sein Urteil über die Judenfrage in folgenden Sätzen zusammen:

Der Gegensatz (zwischen den Juden und Nichtjuden. M. S.) wäre in wenigen Generationen durch die Auffassung des jüdischen Elements bereinigt worden, wenn nicht ein unheimliches, in seiner Kraft schier unbesiegbares Wesen die blutende Wunde immer wieder neu aufgerissen hätte: der Koloß Rußland, dessen außerhalb der kapitalistischen Einflußspähre liegende mittelalterliche Gesellschaftsverfassung von Jahr zu Jahr Massen jüdischer Elendsmenschen, behaftet mit allen Qualen und allen Lastern des Gettos, nach Westeuropa abstieß. Diese Iumpenproletarischen, kulturlosen, unorganisierten Menschen waren es, welche durch den ungeheuren Druck ihrer Zahl, durch das Angebot ihrer Hände und ihre durch Not und Jammer begreifliche SkrupelIosigkeit den Lebensstandard der übrigen mittelständischen und proletarischen Gruppen bedrohten. Als obendrein in den siebziger und achtziger Jahren der Kapitalismus nach den vorangegangenen „Gründerjahren“ einen ersten Rückschlag erlitt, den vor allem die besitzlosen Klassen zu tragen hatten, war die Reaktion darauf jene Welle des Antisemitismus, von der sich zum Beispiel in Österreich Lueger zur Höhe hat tragen lassen.

Der erste und wichtigste methodologische Fehler besteht darin, die Judenfrage vom Gesichtswinkel des Westjudentums zu behandeln. Otto Bauer hütete sich nicht nur davor, Oft- und Westjudentum unter eine Haube zu bringen, er unterschied sogar sehr sorgfältig die Entwicklungstendenzen in Galizien und Bukowina von den Entwicklungstendenzen in Rußland. Hannak aber spricht in einem Atem von Rußland und dem Österreich Luegers, als ob das Problem hier und dort den gleichen Charakter oder zumindest eine ähnliche Tendenz hätte. Genosse Hannak spricht von der Aufsaugung des jüdischen Elements in einem Tone der Selbstverständlichkeit, als ob der Sieg der Assimilationstendenz innerhalb des Judentums jetzt, nach Entlarvung des Antisemitismus als den „Sozialismus des dummen Kerls“, unmittelbar bevorstünde.

Die Tatsachen im jüdischen Leben beweisen aber das Gegenteil.

1. Im Ietzten halben Jahrhundert ist die Zahl der Juden in der Welt von acht auf fünfzehn Millionen gestiegen. In den Ietzten zwei Jahrzehnten geht sowohl in den alten Wohnländern als in den neuen Einwanderungsländern eine stete Konzentrierung der jüdischen Massen vor sich. Fast der dritte Teil des jüdischen Volkes Iebt gegenwärtig in Städten mit einer jüdischen Bevölkerung von mehr als 100.000 Seelen. Mehr als die Hälfte der Juden Iebt in Städten mit einer jüdischen Bevölkerung von mehr als 25.000 Seelen. In allen Städten Iebt der größte Teil der Juden auf geschlossenen Gebieten.

Vor ungefähr hundert. Jahren gehörten gegen 80 Prozent der Juden dem Mittelstand an, wobei nicht weniger als der dritte Teil der Juden Pächter, Schankwirte und Makler waren. Nach einer Aufstellung des Sozialökonomen Jaakow Leschtschinsky, die zwar keinen Anspruch auf vollständige Genauigkeit erhebt, die aber die Veränderung, die sich innerhalb des Judentums vollzogen hat, zweifellos richtig illustriert, gliedern sich gegenwärtig die Berufe der Juden wie folgt:

Landwirtschaftliche Arbeiter                                                          600.000

Lohnarbeiter aller Art                                                                    2,000.000

Handwerk und Heimarbeit                                                           4,000.000

Intellektuelle Berufe                                                                      1,000.000

Groß- und Mittelbourgeoisie                                                       2,000.000

Keinkrämer, Marktfahrer, geistliches und rituelles Personal

und Beschäftigungslose                                                                5,400 000

Insgesamt                                                                                         15,000.000

Wenn wir also die ersten vier Gruppen als produktiv arbeitende Menschen bezeichnen, ersehen wir, daß die Hälfte des jüdischen Volkes von ihrer für die Menschheit nützlichen Arbeit lebt, während vor hundert Jahren kaum 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung produktive Arbeit leisteten. (Hannak möge aus diesen Zahlen ersehen, wie es um seine Behauptung, daß „der einzige Beruf des russischen Gettojuden der Beruf des Krämers und Schächters“ sei, bestellt ist.) Die hier aufgezählten Erscheinungen bewirken zweifellos eine Stärkung der Tendenz der Erhaltung der jüdischen Nation. (Siehe übrigens auch Otto Bauer: Die Bedingungen der nationalen Assimilation im „Kampf“, Jg 1912, Heft 6.)

2. In den letzten zwei Jahrzehnten hat auch das künftlerische jüdische Schaffen eine repräsentable Entwicklung aufzuweisen. In der jiddischen und in der neu-hebräischen Sprache sind Werke belletristischen und wissenschaftlichen Inhalts entstanden, die einem Vergleich mit den Schöpfungen anderer Völker standhalten und die zum Teil Eingang in die Literatur der europäischen Völker gefunden haben. Die Entwicklung einer jüdischen Musik, der bildenden und darstellenden Kunft kann auf bedeutende Fortschritte hinweisen.

3. In Polen, Rußland, Rumänien, Nord- und Südamerika hat sich ein umfangreiches Netz von Schulen mit jiddischer Unterrichtsprache gebildet. So hat man zum Beispiel vor einiger Zeit in der Sowjetukraine 80.000, in Weißrußland 30.000, in Polen gegen 23.000 Schüler in Kindergärten, Volks- und Mittelschulen mit jiddischer Unterrichtssprache gezählt. Also, sowohl in Sowjetrußland, wo die jiddische Sprache den Sprachen der anderen nationalen Minderheiten gleichgestellt ist, als auch in Polen, wo das herrschende Bürgertum (die P.P. S, hat sich von dieser Politik den Juden gegenüber seit einiger Zeit abgewandt) den Juden die Anerkennung ihrer nationalen Rechte noch verweigert, faßt die jüdische Kultur in den jüdischen Massen immer stärker Fuß.

Es dürfte für uns von besonderem Interesse sein, zu erfahren, welchen Schichten der jüdischen Bevölkerung die Kinder dieser Schulen, die fast ausschließlich auf private Geldmittel angewiesen find, entstammen. In Warschau zum Beispiel waren die Eltern dieser Kinder:

              Arbeiter                                                                                21,4%

              Handwerker                                                                         41,4%

              Kleinhändler                                                                         32,7%

Verschiedene                                                                        4,5%

Also, der größte Teil der Schüler waren Kinder von Eltern, die der werktätigen Bevölkerung angehören. Die jüdische Arbeiterschaft ist der faktische Träger dieses weltlichen Schulwesens in jiddischer Unterrichtssprache.

4. In allen Ländern jüdischer Massensiedlung sind mächtige sozialistische Parteien und Gruppierungen jüdischer Arbeiter entstanden, die das jüdische Volkstum bejahen. Im Lager dieser Parteien und Gruppen befindet sich in allen erwähnten Ländern der größte und aktivste Teil des jüdischen Proletariats. Bei den Gemeinderatswahlen in Lodz zum Beispiel, die im Oktober 1927 stattfanden und die das erfreuliche Wachstum der sozialistischen Stimmen dokumentierten, erhielten die jüdischen sozialistischen Arbeitergruppen insgesamt 21.679 Stimmen. (Die P.P.S. erhielt 55.702, die deutschen Sozialisten erhielten 16.643 Stimmen.)

5. In Palästina konzentriert sich eine Bevölkerung von mehr als 150.000 Seelen (Zählung gegen Mitte 1926), von denen 100.638 im Zeitabschnitt 1919 bis 1926 eingewandert sind. Die eingewanderte jüdische Bevölkerung hat zum allergrößten Teil zu produktiver Arbeit gegriffen. Es find Arbeitersiedlungen entstanden, es hat sich ein Netz wirtschaftlicher, kultureller und gewerkschaftlicher Organisationen der Arbeiterschaft entwickelt, die als mustergültig bezeichnet werden dürfen. Ramsay Macdonald nannte die Gemeinwirtschaft Palästinas das Laboratorium des Sozialismus.

Diese Tatsachen widersprechen der Auffassung von der Aufsaugung des jüdischen Elements, Hannak aber scheint nämlich darüber nicht informiert zu sein, daß bis zum Kriegsausbruch der Prozentsatz der jüdischen Auswanderung aus Galizien zum Beispiel höher als der von Rußland war. Er scheint auch übersehen zu haben, daß der Strom der jüdischen Wanderung nicht nach Europa, sondern über den // Ozean ging. In den Jahren 1889 bis 1914, der Zeitabschnitt der größten jüdischen Wanderbewegung, haben die Vereinigten Staaten nicht weniger als vier Fünftel aller jüdischen Emigranten aufgenommen. Wenn Hannak das beachtet hätte, könnte er nicht die Wanderbewegung der Juden ausschließlich oder auch nur vorwiegend auf Rußland mit feiner „außerhalb der Kapitalistischen Einflußsphäre liegenden mittelalterlichen Gesellschaftsverfassung“ und das Versagen der Assimilation in Europa durch die Auswanderung aus Rußland zu erklären versuchen.

Hannak nennt die wandernden jüdischen Massen „Iumpenproletarische, kulturIose, unorganisierte Menschen“. Da wir nicht annehmen können und wollen, daß dem Genossen Hannak das glattrasierte Gesicht und die moderne Bekleidung als wesentliches Zeichen der Kultur erscheint, so können wir uns diese absolut unbegründete und nicht zu rechtfertigende Kränkung hunderttausender arbeitsuchender Juden nicht erklären. Hannak übersieht, daß es diese „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ sind, die in Lodz und in anderen Städten Polens unerschrocken für die Sache des Sozialismus kämpfen, die im reaktionären Rumänien in den ersten Reihen des kämpfenden Proletariats marschieren, die viele Jahre hindurch den

einzigen sozialistischen Abgeordneten Neuyorks gewählt haben. Diese „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ haben in Palästina eine Arbeiterorganisation geschaffen, die gegen 22.000 Mitglieder zählt und dem internationalen Gewerkschaftsbund angeschlossen ist. Der Prozentsatz der Arbeiterschaft, den diese Organisation umfaßt, übersteigt den aller „kulturellen organisierten“ Völker. Die Werte, die sie schufen und noch immer schaffen, der sozialistische Idealismus, der sie beseelt, wird von allen, die sie kennengelernt haben, bewundert. Und — um noch eine Tatsache aus Österreich anzuführen — möge Hannak auch in Erinnerung behalten, daß in jenen Tagen des Jänner 1918 in Österreich, als sich die geknebelte Arbeiterschaft, das vergewaltigte Proletariat zum ersten Male gegen den blutigen Krieg auflehnte, viele jener „kulturlosen, unorganisierten Menschen“ bei Organisierung und Leitung der Auflehnung eine hervorragende Rolle gespielt haben.

Die hier angeführten Tatsachen, die nicht bestritten werden können, beweisen wohl, daß die Tendenz der Erhaltung des jüdischen Volkes sich durchgesetzt hat.

II.

Und nun zur Beurteilung der Wirtschaftskrise in Palästina, die Hannak unrichtig als „Krise des Zionismus“ bezeichnet. Hannak stützt seine Behauptung, daß der Zionismus „vielleicht in sein Ietztes Stadium“ getreten sei, hauptsächlich auf folgende Beweise:

1. Palästina erwies sich als unfähig, den mächtigen Wanderstrom aufzunehmen.

„Innerhalb kurzer Zeit war Palästina »verstopft«“

2. Die finanziellen Schwierigkeiten des Palästinaaufbauwerkes, „Doch 151.000 Pfund sind kein Spaß und die Kassen find leer.“

3. Die Erweiterung der „Jüdischen Agentur“, die der Mandatarmacht beratend zur Seite stehen soll, durch Hinzuziehung kapitalsreicher Nichtzionisten. „Der Zionismus ist im Begriff Selbstmord zu begehen: er opfert seine Idee, um die Mittel zu ihrer Durchführung zu erhalten…“

Hannak meinte nun, den folgenden Schluß ziehen zu dürfen:

Vergeblich opferte sich die Blüte der jüdischen Jugend Zentraleuropas, die Pioniere einer höheren Kultur, in den Morästen und Sandwüsten des Landes, vergeblich hungerte sich ihr Idealismus durch die Kargheit des Bodens, vergeblich sanken sie im Sumpffieber, überwältigt von der schweren Arbeit, dahin, vergeblich riefen sie den hohen Gedanken proletarischer Arbeitsgemeinschaft, genossenschaftlicher Solidarität zu Hilfe.

Indes sie in glühender Sonne, unter den Stichen der Malariafliege, die Moore trockneten und die Ölbäume pflanzten, ging über sie die Lawine der Einwanderer hinweg, stampfte Städte aus dem Boden, wie jenes Tel Awiw, ein echtes Gewächs der Einwanderungsinflation, so chaostisch, barbarisch und häßlich wie diese.

Hannak schließt hierauf mit den Sätzen:

Entfremdet seinen ursprünglichen Träumen, die Judenfrage in der ganzen Welt zu lösen, getäuscht in feinen frohen Hoffnungen, aus Palästina einen Judenstaat zu machen, resigniert in der Erwartung, einen tüchtigen Menschenschlag jüdischer Bauern heranzuzüchten, zurückgezogen auf den letzten Wunsch, wenigstens das relativ Wenige // zu behaupten, was in Palästina an Jüdischem geschaffen worden ist, schickt sich der Zionismus jetzt an, selbst dieses Wenige fremden Kapitalsmächten, die der zionistischen Idee fernstehen, zu überantworten. Ein großer Aufwand ward umsonst vertan, eine letzte Kraftquelle des so rar gewordenen bürgerlichen Idealismus wird zugedeckt mit den Dollars aus Amerika.

1. Besitzt Palästina eine Aufnahmefähigkeit für die jüdische Einwanderung? Das Westjordanland allein hat auf einem Umfang von 27.000 Quadratkilometer Boden 757.000 Einwohner, das entspricht 28 Einwohnern auf einen Quadratkilometer; bloß 10.8 Prozent des Bodens sind bebaut, der allergrößte Teil des anbaufähigen Bodens liegt also brach. Der größte Skeptiker kann nicht bestreiten, daß eine wichtige Voraussetzung für die Ansiedlung von Hunderttausenden von Menschen gegeben ist… Im Jahre 1925 war auch Palästina tatsächlich das Land der größten jüdischen Einwanderung gewesen. Im Laufe der Jahre 1919 bis 1926 hat sich die jüdische Bevölkerung Paläftina nahezu verdreifacht. Warum ist aber Palästina seit zwei Jahren „verstopft”?

Das Jahr 1925 war ein Jahr der furchtbaren Wirtschaftskrise der polnischen Republik gewesen. Wie überall, hatten auch hier die Juden unter der Wirtschaftskrise am meisten zu leiden. In der Not griffen Zehntaufende von ihnen zum Wanderstab.   Einwanderungsmöglichkeiten in andere Länder gab es damals und gibt es auch heute fast nicht. Da zog sich der Wanderstrom wahllos nach Palästina. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand der größte Teil der Palästinawanderer aus jungen Menschen („Chaluzim“— Pioniere), die sich Jahre hindurch auf Palästina beruflich und geistig vorbereitet hatten. Die Seßhaftmachung der Eingewanderten konnte deshalb ziemlich glatt vonstatten gehen. Die Masseneinwanderung aus Polen aber bestand zum großen Teil aus Elementen, die für Palästina überhaupt nicht oder nur sehr mangelhaft vorbereitet waren. Die plötzliche zahlenmäßige Steigerung der Einwanderung allein müßte, bei dem jetzigen Entwicklungsstadium Palästinas, naturgemäß große Schwierigkeiten bereiten, die Qualität der Eingewanderten erhöhte diese Schwierigkeiten noch bedeutend. Aber man wäre dieser Schwierigkeiten vielleicht dennoch Herr geworden, wenn nicht die Klassengegensätze innerhalb des Zionismus hineingespielt hätten.

Die Einwanderung der „Chaluzim“ führte zur Entfaltung eines großen Netzes von gemeinwirtschaftlichen Siedlungen, von Konsum- und Produktionsgenossenschaften. Die Arbeiterschaft war und ist auch heute noch der bedeutendste Machtfaktor unter den Juden Palästinas. […] Diese mächtige Position der Arbeiterschaft ist natürlich ein Dorn im Auge des bürgerlichen Zionismus. Seine Anhänger spähten lange nach einer Gelegenheit, um das stete Wachsen der Macht und des Einflusses der Arbeiterschaft aufzuhalten. AIs nun die Masseneinwanderung aus Polen zahlreiche Angehörige des Mittelstandes nach Palästina brachte, hielten die bürgerlichen Zionisten den Moment für geeignet, diese Einwanderung gegen die Arbeiter auszuspielen. […] Die Arbeiterschaft erhob ihre warnende Stimme. Sie wies darauf hin, daß in Palästina nur eine Einwanderung, die neue Möglichkeiten produktiven Schaffens erschließt, im Lande Fuß fassen könne. Sie wies nach, daß diese Einwanderer als einzelne über zu geringe Kapitalien verfügen, um als Arbeitgeber Dauerndes schaffen zu können, und daß sie als Händler und Vermittler im Lande keine Existenzmöglichkeit haben. Die Arbeiterschaft forderte, daß man die Einwanderer organisatorisch erfasse und sie produktiven Beschäftigungen zuführe.

Aber die Mehrheit der zionistischen Bewegung segelte unter der arbeiterfeindlichen Flagge. Sie war von der Hoffnung auf baldiger Überwindung des Systems der Gemeinwirtschaft, auf die Erschütterung der Position der Arbeiterschaft geblendet und sah die nacken Tatsachen nicht. Die eingewanderten Juden des Jahres 1925 gingen nun daran, in Palästina, hauptsächlich in Tel Awiw, ihre alte Beschäftigung aufzunehmen. Kramladen schossen wie Pilze aus dem Boden, die // Spekulation feierte Orgien, Die junge, noch unentwickelte Wirtschaft Palästinas konnte das nicht lange tragen. Da krachten die „Positionen“ des neuen Mittelstandes wie Kartenhäuschen zusammen. Da bei einem solchen Rückschlag die Arbeiterschaft durch Arbeitslosigkeit die größten Leiden und Entbehrungen ertragen muß, dürfte ja uns in Österreich nicht neu sein.

Die Kurzsichtigkeit des größten Teiles der zionistischen Bewegung, hervorgerufen durch den engherzigen Klassenegoismus des zionistischen Bürgertums, hat die schwere Wirtschaftskrise in Palästina, wenn nicht heraufbeschworen, so doch zumindest verhindert, ihr die Spitze zu brechen. Wir sehen also auch hier, was wir schon oft bei anderen Völkern feststellen konnten: der Klassenegoismus des Bürgertums gefährdet ein wichtiges nationales Werk.

Das ist das tiefste Wesen der Wirtschaftskrise in Palästina, die übrigens ihren Höhepunkt längst überschritten hat (in Jerusalem, Chaifa und Afulle konnte bereits an Stelle der Arbeitslosenunterstützung für alle Arbeitsuchenden Arbeit beschafft werden. In Tel Awiw ist die Arbeitslosigkeit im Abnehmen begriffen und macht einer steten Besserung Platz). Diese Wirtschaftskrise in Palästina kann doch nicht als Krise des Zionismus bezeichnet werden.

[…]

Wie beurteilt die Arbeiterschaft diese Angelegenheit?

Es gab stets und es gibt auch jetzt noch in allen Ländern nicht nur einzelne, sondern organisierte Kreise von Juden, die sich der zionistischen Bewegung aus verschiedenen Gründen nicht anschließen, aber dennoch den Palästinaaufbau aufrichtig fördern. Das gilt übrigens nicht bloß vom jüdischen Bürgertum, sondern auch von der jüdischen Arbeiterschaft. In Amerika wird zum Beispiel alljährlich eine Aktion der jüdischen Gewerkschaften für die Institutionen der jüdischen Arbeiterschaft Palästinas durchgeführt. Diese Aktion, die eine ständige Einrichtung geworden ist, erstreckt sich auf jüdische Arbeiter, die keiner zionistischen Arbeiterorganisation angehören. Nun glaubt Weizmann jene Kreise des Judentums, insbesondere in Amerika, die für das Palästinaaufbauwerk zu gewinnen  wären, durch ihre Teilnahme an der „Jüdischen Agentur” dauernd an das Aufbaumwerk zu

fesseln, um größere Geldmittel für Palästina aufbringen zu können. Durch die Teilnahme von nichtzionistischen Kreisen an der „Jüdischen Agentur” erhofft sich// auch Weizmann eine Stärkung ihrer Autorität der Mandatarmacht gegenüber. Von einer Kapitulation der zionistischen Idee vor dem Dollar ist zumindest verfrüht zu sprechen, denn schließlich weiß man ja noch nicht, welche Pläne jene Nichtzionisten Amerikas hegen.

Und gerade die Arbeiterschaft, die stets bemüht ist, sich von Illusionen fernzuhalten, beurteilt den Plan der Erweiterung der „Jüdischen Agentur“ nüchtern, denn schließlich wird selbst ein Marshal (ein Vertreter der Nichtzionisten Amerikas) der jüdischen Arbeiterschaft kein größerer Gegner sein als zum Beispiel die orthodoxen Zionisten (Misrachi) und Herr Jabotinsky selbst, der ein so erbitterter Gegner der „Jüdischen Agentur“ ist. Die Arbeiterschaft kämpft für die Demokratisierung der „Jüdischen Agentur“, für die Heranziehung der proletarischen Organisationen zu dieser Institution, aber sie erblickt hierin absolut keine Liquidierung des Zionismus, keine Kapitulation vor dem amerikanischen Dollar. Wenn nun Hannak glaubt, feststellen zu dürfen, daß all die Mühe der Arbeiterpioniere, ihre schweren Opfer vergeblich waren, da die Spekulation, der Wucher alles zerstampft hat, müssen wir ihn schon fragen, woher er diese verteufelt schwarze Brille hat?

Die hundert jüdischen kleinwirtschaftlichen Siedlungen in Palästina stehen unerschüttert da. Die Zahl der Arbeitersiedlungen hat sich im Ietzten Jahre sogar vermehrt. Einige Arbeitersiedlungen find bereits in der Lage, sich selbst zu erhalten und Darlehen zurückzuerstatten. Ein weiterer Teil der Arbeitersiedlungen wird in den nächsten zwei Jahren diesen Zuftand erreicht haben. Die berufliche Gliederung der Juden Palästinas ift gesund.

[…]

Diese Umschichtung, die sich in Palästina vollzog, wird es bedeutend erleichtern, die Episode der wilden „Einwanderungsinflation“ zu überwinden. Ein Teil der Eingewanderten hat wohl das Land enttäuscht verlassen, die Auswanderung jener Elemente, die sich den Arbeits- und Lebensverhältnissen in Palästina nicht anpassen können, wird noch einige Zeit anhalten. Aber ein nicht unbeträchtlicher Teil ist im Lande geblieben und macht die größten Anstrengungen, um produktive Arbeit zu leisten. Die jüdische Arbeiterschaft Palästinas hat gerade in den Jahren der schweren Krise bewiesen, daß ihr Glaube an das Gelingen des Aufbaues unerschüttert ist. In allen Ländern der jüdischen Diaspora warten zehntaufende jüdischer Arbeiterpioniere auf die Möglichkeit, ihren Kampfgenossen in Palästina beim Aufbau der Heimstätte der jüdischen Arbeit helfen zu können. Genügen diese Tatsachen nicht, um den Pessimismus denkender Sozialisten zu zerstreuen?

In: Der Kampf, H. 12/1927, S. 574-580.